In vier aufeinander folgenden, sich dramaturgisch weitestgehend nicht
entscheidend kreuzenden Episoden – eine Struktur, die man im
ostasiatischen Kino in ähnlicher Form etwa schon in Wong Kar-wais
Chungking Express gesehen hat – erzählt der chinesische
Regisseur Jia Zhangke (The World, Still Life, 24
City) in A Touch of Sin von den tief greifenden
wirtschaftspolitischen Umwälzungen im modernen China und jenen
grossen Teilen der Bevölkerung, welche in diesem blindwütig
expandierenden Land das Nachsehen haben.
Der Film setzt ein in einer grauen Kleinstadt, die sich in Shanxi,
Jias Heimatprovinz, um eine Kohlegrube herum gebildet hat; als
Protagonist dient der hochschulgebildete Gewerkschafter Dahai (Wu
Jiang). Vor gut zehn Jahren wurden die lokalen Erwerbszonen
privatisiert und den Arbeitern wurde eine stattliche
Gewinnbeteiligung versprochen. Doch das Geld wird nicht ausbezahlt;
Fabrikboss und Bürgermeister lassen die Gewinne in die eigene Tasche
fliessen, fahren ungeniert in Maseratis und Audis vor. Frustiert über
die Passivität seiner Kameraden – die, entweder eingeschüchtert
von den Schlägern der Chefetage oder in Sorge um das eigene
Schmiergeld, lediglich darüber scherzen, der illegal erworbene Audi
des Industriemagnaten sei doch "Kollektiveigentum" und
dürfe somit nicht verkauft werden –, macht sich Dahai daran, gegen
die unverhohlene Korruption vorzugehen.
Er verfasst eine Klageschrift, die er jedoch nicht nach Peking
abschicken kann, da auf dem Umschlag die Postleitzahl fehle. Den
nächsten Versuch startet er, als die versammelte Arbeiterschaft, in
der Hoffnung, einen Mehl-Bonus zu erhalten, ihren "geliebten
Chef" mit Gesang und Kotaus am Flughafen begrüsst: Dahai
spricht den seinem neu erworbenen Privatjet entstiegenen Oligarchen
auf die Missstände an und wird sogleich von einem Handlanger mit
einer Schaufel verprügelt. Verletzt in seiner Ehre und seinem Stolz,
greift er zuletzt zu seinem Gewehr; wie eine Figur aus einem
Wuxia-Film (Jia erweist mit dem Titel seines Films dem
Wuxia-Klassiker A Touch of Zen seine Reverenz) oder einem
Corbucci-Western streift er in famos komponierten Bildern durch das
Kohlegruben-Nest und rächt sich an seinen Peinigern.
Gewerkschafter Dahai (Wu Jiang) greift zur Waffe, um gegen die Korruption in seinem Dorf vorzugehen. © filmcoopi |
Diesen Feldzug, der, wie alle Episoden in A Touch of Sin, auf
einem wahren Fall beruht, inszeniert Jia weder als marxistisch
verklärten Triumph noch als ungeheuerliches Kapitalverbrechen.
Vielmehr sieht er darin einen letztlich hilflosen Akt der
Verzweiflung eines Mannes, der zwischen die Räder der
kommunistischen Bürokratie und der in China um sich greifenden
kapitalistischen Profitwirtschaft geraten ist. Maos Mythos der
Kollektivherrschaft, so die Andeutung, wurde ersetzt durch die
westliche Legende des privatwirtschaftlichen Erfolgs. Für Menschen
wie Dahai hat sich aber kaum etwas geändert; sie bleiben gefangen in
einem gesichtslosen System, in dem niemand zur Verantwortung gezogen
kann und sie stets das Nachsehen haben.
Zugegeben, die Wucht dieser ersten 35 Minuten, welche auch als
isolierter Kurzfilm – ein Genre, das Jia keineswegs fremd ist –
hervorragend funktionieren würden, vermag A Touch of Sin im
weiteren Verlauf nicht mehr einzufangen. Das hat allerdings weniger
mit einem Makel in Jias starkem, verbittert-satirischem Drehbuch zu
tun als mit der kontinuierlichen Abstraktion, die sein Film vornimmt.
Dahais Geschichte lässt sich am leichtesten mit dem überspannenden
Motiv des chinesischen Wirtschaftswandels verknüpfen; sie ist
politischer, expliziter und abgeschlossener als alles, was folgt.
Da wäre etwa der Wanderarbeiter Zhou San (Wang Baoqiang), der mit
seinem Motorrad auf der Suche nach Arbeit das Land durchquert und
schliesslich zu seiner Frau am Stadtrand von Chongqing zurückkehrt.
Zhou ist ein bizarres Produkt von Chinas ökonomischer Öffnung: Aus
anonymen Menschenmengen sticht er dank seiner
Chicago-Bulls-Pudelmütze heraus; zu seiner Pistole pflegt er eine
enge Beziehung; kaltblütig erschiesst er jugendliche Wegelagerer;
mit willkürlichen Raubüberfällen bricht er für kurze Zeit aus der
Wanderarbeiter-Tristesse aus.
Zhou San (Wang Baoqiang) durchstreift China als Wanderarbeiter. © filmcoopi |
Ihm folgt Xiao Yu (Zhao Tao), eine Sauna-Rezeptionistin, deren Wut
über die Unentschlossenheit ihres verheirateten Liebhabers – ein
Szenario, das mitunter an In the Mood for Love erinnert –
sich entlädt, als sie von neureichen Kunden angepöbelt wird, nach
deren Auffassung der Satz "Wir haben Geld!" genügt, nach
Belieben Frauen zur Prostitution zu zwingen. Der vierte von Jias
Leidtragenden ist der knapp 20-jährige Xiao Hui (Luo Lanshan), ein
Mitglied jener Generation, welche nach dem Tiananmen-Massaker von
1989 geboren wurde und mit Chinas aufstrebender Drachen-Ökonomie
aufgewachsen ist. Xiao entflieht einer ungerechten Doppelschicht in
einer Fabrik und heuert in einem edlen Bordell-Hotel im
südchinesischen Dongguan als Kellner an, wo er sich ins Escort-Girl
Lianrong (Meng Li) verliebt.
Politik ist, anders als bei Dahais Kampf gegen die Windmühlen der
korrupten Bürokratie, in diesen Miniaturen kein vordergründiger
Akteur; oft liegt es beim Zuschauer zu ergründen, welche Verbindung
Jia zwischen den einzelnen Vignetten sieht. Manche enthalten
universelle Beobachtungen, so etwa jene Szene, in der Lianrong die
neuesten Nachrichten von ihrem iPad abliest und Xiao sie bei jeder
Geschichte dazu animiert, den Kommentar "Fick deine Mutter"
zu hinterlassen. Jia zeigt eine global vernetzte Jugend, deren
Mitsprachebedürfnis auf absurd anmutenden Prioritäten beruht. Auch
der Umgang mit der eigenen Geschichte ist ein Thema, für das sich
Jia interessiert: Auf dem Weg zur Arbeit trifft Xiao Yu auf einen
Marktschreier, der seine Landsleute ins Zelt einer "traditionellen"
Schlangen-Wahrsagerin locken will, während im Bordell von Dongguan
die Edel-Huren zum Vergnügen ihrer Freier aus Taiwan und Hongkong,
begleitet von der chinesischen Nationalhymne, in Militäruniformen
aufmarschieren.
"In the Mood for Love": Xiao Yu (Zhao Tao) unterhält eine unbefriedigende Beziehung zu einem verheirateten Mann. © filmcoopi |
Doch A Touch of Sin handelt in seinem Kern, gerade in diesen
abstrakteren Episoden, davon, wie tief Chinas ungezügeltes Wachstum
bereits in die Gesellschaft eingedrungen ist: Man mag sich im
internationalen Vergleich inzwischen mit den USA und der EU messen
können, doch parallel dazu verlieren persönliche Bindungen an
Bedeutung. Beziehungen werden durch das Eindringen der Wirtschaft in
die Privatspähre vergiftet: Xiao Hui verdient nicht genug, um mit
Lianrong eine Zukunft gestalten zu können; seine Mutter beschwert
sich über die zu kleinen Beträge, die er in die Heimat schickt.
Zhou San ist durch seine lange Abwesenheit zum Fremden in der eigenen
Familie geworden. Jias Film erzählt von einem China, wie es heute
existiert – ein Realismus, der ihm nun den Zorn der staatlichen
Zensur eingetragen hat –, doch A Touch of Sin reicht auch
über die Grenzen der Volksrepublik hinaus: Ob das System nun
Kommunismus oder Kapitalismus heisst, ob Planwirtschaft oder
unsichtbare Hand – die Macht liegt in der Hand der Reichen,
Mächtigen und Korrupten. Womöglich sind Ost und West doch nicht so
verschieden.
★★★★
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