Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.
La
vie d'Adèle, Abdellatif Kechiches skandalumwittertes, in Cannes
mit der Goldenen Palme ausgezeichnetes Coming-of-Age-Epos, fasziniert
sowohl mit seinen Qualitäten als auch mit seinen Defiziten: Hier
behandelt ein virtuoser Cineast ein Thema, welches ihm nur bedingt
liegt.
"Je
suis femme et je raconte mon histoire" – so lautet einer der
ersten Sätze, die im Film gesprochen werden, und er entbehrt, streng
genommen, jeglicher Berechtigung. Denn Regisseur und Co-Autor
Kechiche ist ein Mann und als solcher, so scheint es zumindest auf
dem Papier, nicht die ideale Person, um den Graphic Novel Le bleu
est une couleur chaude (2010) auf die Leinwand zu bannen. Verfasst
wurde das Werk von Julie Maroh, einer homosexuellen Feministin; es
handelt von einer Frau und der Entdeckung ihrer Weiblichkeit und
Sexualität sowie von ihrer mehrjährigen Beziehung zu einer anderen
Frau. Doch der notorisch umstrittene Kechiche, dessen letzter Film
(Vénus noire) sich um Sarah Baartman, die Ikone des
afrikanischen Feminismus, drehte, ist ein besonnener Künstler: "Je
suis femme et je raconte mon histoire" ist ein Zitat aus dem Roman La vie de Marianne, geschrieben zwischen 1731 und 1745 von
Pierre de Marivaux, dessen Geschlecht ihn nicht daran hinderte, eine
der stärksten weiblichen Ich-Erzählungen der französischen
Literatur zu schaffen.
Als solche ist denn auch La vie d'Adèle angelegt. Über drei
Stunden hinweg zeigt Kechiche, hauptsächlich mittels Nahaufnahmen
von Gesichtern, wie sich Adèle (Adèle Exarchopoulos) als
Lycée-Schülerin in die blauhaarige Kunststudentin Emma (Léa
Seydoux) verliebt und sich im Laufe der Jahre wieder von ihr
entfremdet. Doch so sehr der Film darum bemüht ist, sich als intime "Autobiografie" im Sinne Marivaux' zu gerieren, es gelingt ihm
nicht, sich gänzlich von der männlichen Perspektive Kechiches zu
befreien. Bestes Beispiel dafür sind die ausgedehnten, detaillierten
heftig diskutierten Sexszenen zwischen den beiden weiblichen
Hauptfiguren, welche zwar als ultimative Akte der Befreiung
inszeniert werden, in ihrer Ausführung aber stets Männerfantasie
bleiben; Julie Marohs Kritik, sie ähnelten Pornografie, ist nicht
kategorisch von der Hand zu weisen. (Im Gegensatz dazu stehen etwa
vergleichbare Szenen in Alain Guiraudies L'inconnu du lac,
deren Offenheit merklich nüchterner gehalten war.)
"Entre adultes": Adèle (Adèle Exarchopoulos, links) verliebt
sich in die Kunststudentin Emma (Léa Seydoux).
© Frenetic Films
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Ein weiteres diesbezügliches Problem stellen die schwachen
Charakterisierungen von Kechiche und Mitautorin Ghalia Lacroix dar.
Weder Adèle noch Emma sind vollumfänglich profilierte Figuren mit
scharfen Konturen – der bewusste Verzicht auf ausformulierte
Hintergründe trägt sein Übriges dazu bei –, wobei sich dies bei
Ersterer besonders bemerkbar macht: Bis zum Schluss bleibt Adèle
eine flache Figur, die sich lediglich durch ihre diversen
romantischen Partner – einen Schulkameraden, Emma, einen
Arbeitskollegen – definiert. Ihr Verlangen, symbolisiert durch die
omnipräsente Farbe Blau, hat kein festes Ziel; vielmehr wird es auf
alle möglichen Objekte – Wände, Jacken, Parkbänke, Bettdecken –
projiziert. Emmas Entscheidung, ihre Haare nicht mehr zu färben,
verliert somit jegliche metaphorische Relevanz.
Und dennoch ist La vie d'Adèle ein hervorragend realisiertes
Liebesdrama von selten gesehener Intensität. Das hat zwar zum einen
mit Kechiches Regie und seiner Gabe zu tun, packende Sequenzen zu
komponieren, zum andern mit den bisweilen brillanten naturalistischen
Dialogen. Doch die grösste Anerkennung sei Adèle Exarchopoulos und
Léa Seydoux vorbehalten: Ihr schlichtweg grandioses Schauspiel
erfüllt ihre unbefriedigenden Figuren mit einem Leben, das ihnen das
Drehbuch niemals zu verleihen vermag. Wie so vieles in diesem Film
enttäuscht die Konzeption, während die Ausführung begeistert.
★★★
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