Donnerstag, 27. Februar 2014

Dallas Buyers Club

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


Ein Musterbeispiel für hochkarätiges Filmemachen ist Dallas Buyers Club trotz seiner sechs Oscar-Nominationen zwar nicht; doch Jean-Marc Vallées faktenbasiertes Charakterdrama um einen geschäftstüchtigen texanischen AIDS-Kranken profitiert von der Überzeugungskraft seiner Hauptakteure.

Wer Kritik an narrativer Kunst betreibt, wird sich früher oder später mit der Crux der Gewichtung konfrontiert sehen. Inwiefern können einzelne herausragende Elemente die Last der weniger überzeugenden Aspekte ausgleichen? Kann eine Theateraufführung gefallen, wenn ein brillanter Text enttäuschend vorgetragen wird? Entschuldigt die Sprachvirtuosität eines Romanciers Defizite in der Plot-Konzeption? Vermögen im Kino überragende Schauwerte über allfällige inhaltliche Schwächen hinwegzutäuschen?

Letztere Frage stellt sich besonders oft in den Genres Action und Science-Fiction. Doch in abgewandelter Form trifft sie auch auf Dallas Buyers Club zu. Denn an sich ist Jean-Marc Vallées Film keine berauschende Angelegenheit; seine Oscar-Nominationen für das beste Originaldrehbuch, den besten Schnitt sowie den besten Film dürfen als vermessen bezeichnet werden. Das Porträt des Macho-Texaners Ron Woodroof (Matthew McConaughey), der 1985, auf dem Höhepunkt der AIDS-Epidemie, positiv auf HIV getestet wurde und dem daraufhin progonostiziert wurde, er würde innert Monatsfrist sterben, ist weder sonderlich raffiniert noch bemerkenswert subtil und leidet neben einem unsteten Fokus an seinem Hang dazu, die wahren Begebenheiten scheinbar nach Belieben umzugestalten.

Woodroof, der sich nach seiner Diagnose intensiv mit AIDS-Forschung auseinandersetzte, erkannte, dass viele Symptome der Krankheit mit Hilfe von in den USA nicht zugelassenen Medikamenten behandelt werden konnten. So verbrachte er den Rest seines Lebens – er starb 1992 – mit der illegalen Einfuhr und dem halblegalen Vertrieb solcher Mittel. Er ist in Dallas Buyers Club hin- und her gerissen zwischen zwei Darstellungen: Zum einen kommt seine (wahrscheinlich) genuine Persona zum Tragen – der eines gewieften Geschäftsmannes im klassisch amerikanischen Sinne, der noch aus der misslichsten Lage Profit zu schlagen weiss. Zum anderen erheben ihn die Autoren Craig Borten und Melisa Wallack zu einer kuriosen Symbolfigur, die auf mehreren Ebenen gegen soziale Ungerechtigkeit kämpft: Als er wegen seiner Krankheit aus seinem angestammten Milieu, der Rodeo-Cowboy-Szene, ausgeschlossen wird, überwindet er, auch dank seiner – zunächst rein geschäftlich motivierten – Freundschaft mit dem Transsexuellen Rayon (Jared Leto), seine aggressive Homophobie (Berichten zufolge war Woodroof in Tat und Wahrheit zwar bisexuell); derweil er mit seinem Medikamenten-Schmuggel die Macht der Pharma-Konzerne über die staatliche Food and Drug Administration herausfordert.

Nach seiner AIDS-Diagnose handelt der Texaner Ron Woodroof (Matthew McConaughey) mit in den USA nicht zugelassenen Medikamenten.
 © Ascot Elite
Diese Geschichte ist solide inszeniert – wenngleich unnötig verlängert durch Woodroofs Beziehung zu einer Ärztin (Jennifer Garner) –, leicht verdaulich und, bei aller Ernsthaftigkeit, gespickt mit überaus amüsanten Dialogen, weiss letztlich aber aus eigener Kraft nicht aufzuwühlen. Wahrlich zu begeistern wissen schlussendlich nur zwei Elemente von Dallas Buyers Club: Matthew McConaughey und Jared Leto beeindrucken beide mit Darbietungen der Superlative, welche, trotz unübersehbaren Stanislavski/Strasberg-Einschlags, niemals ins Unglaubwürdige überhöht werden. Während der nach 2000 beinahe im Sumpf seichter Liebeskomödien versunkene McConaughey seine Wiedergeburt als seriöser Mime virtuos komplettiert – sein ausgemergelter, charismatischer, unberechenbarer Ron Woodroof ist seine bislang beste Performance überhaupt –, beweist Leto, welcher völlig hinter seiner Figur verschwindet, mit verletzlicher Grazie seine Qualitäten. Wie in jüngerer Vergangenheit bereits La vie d'Adèle und Enough Said zeigt nun auch Dallas Buyers Club auf, welchen massiv wertsteigernden Effekt Schauspieler auf einen Film haben können.

★★★

Donnerstag, 20. Februar 2014

American Hustle

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

In seinem neuen Film erzählt David O. Russell von Lug, Trug, Täuschung und einer erstaunlichen FBI-Aktion. An die Qualität seiner letzten beiden Werke kann er damit zwar nicht ganz anknüpfen, doch American Hustle bleibt ein hochgradig unterhaltsames, herausragend gespieltes Ensemble-Stück.

Nimmt man einschlägige Hollywood-Produktionen jüngeren Datums als Massstab, scheint es, als hätten in den späten Siebzigerjahren ausgefallene Ideen in den staatlichen Polizeiorganen der USA Hochkonjunktur gehabt. Während Ben Afflecks satirischer Thriller Argo (2012) zeigte, wie die CIA nach der Erstürmung der amerikanischen Botschaft in Teheran 1979 eine Gruppe von Diplomaten unter dem Vorwand, es handle sich bei ihnen um eine kanadische Filmcrew, aus dem Iran schleusten, legt David O. Russell (Three Kings, I Heart Huckabees, The Fighter, Silver Linings Playbook) in American Hustle einen fiktionalisierten – "Some of this actually happened", steht auf einer Texttafel zu lesen – Bericht über die Operation "Abscam" vor, welche das New Yorker Büro des FBI 1978 lancierte. Was ursprünglich als Massnahme gegen Betrug und Hehlerei angelegt war, entwickelte sich innert kurzer Zeit zu einer kuriosen Offensive gegen Korruption, bei der namhafte Politiker dazu gebracht wurden, Bestechungsgelder von einem falschen arabischen Scheich anzunehmen.

Russells Film, die erste grosse Kino-Auseinandersetzung mit Abscam – Louis Malle verfasste unter dem Titel Moon Over Miami zwar einst ein Drehbuch zur Materie, doch der Tod des designierten Hauptdarstellers John Belushi verhinderte die Umsetzung –, ändert die Namen der Beteiligten und reichert die Geschichte mit persönlichen Konflikten und amourösen Verstrickungen an und wird so zu einem Kaleidoskop von Hochstapeleien und deren Motivationen im Stile von Ridley Scotts Matchstick Men oder der unterschätzen Coen-Brothers-Farce Burn After Reading. Im Zentrum der Posse steht der professionelle Schwindler Irving Rosenfeld (Christian Bale), der sich zusammen mit seiner Geliebten Sydney (Amy Adams) mit windigen Geschäften eine goldene Nase verdient – bis er vom FBI-Mann DiMaso (Bradley Cooper) überführt wird und sich gezwungen sieht, ihm dabei zu helfen, üblere Schurken hinter Gitter zu bringen.

Wie man es sich von seinem Regisseur gewohnt ist, langweilt American Hustle keine Sekunde. Obwohl weniger aufgedreht als The Fighter (2010) und Silver Linings Playbook (2012), ist Russells atemloser Stil auch hier unübersehbar. Die Kamera schwenkt unermüdlich hin und her, was den bisweilen fast screwballhaften Dialogen ("She was the Picasso of passive-aggressive karate") eine famose Intensität verleiht. Die Schauspieler agieren einmal mehr auf höchstem Niveau – allen voran Bale und Cooper sowie Jeremy Renner als eines von DiMasos Opfern, die wilde Jennifer Lawrence als Mrs. Rosenfeld sowie Robert De Niro in einem Cameo-Auftritt als Arabisch sprechender Mafiaboss.

Die Betrüger Irving (Christian Bale, links) und Sydney (Amy Adams) sehen sich gezwungen, für den FBI-Agenten DiMaso (Bradley Cooper) zu arbeiten.
© Ascot Elite
Darüber hinaus führt Russell hier das Motiv aus seinen beiden letzten Filmen weiter, seinen grundverschiedenen Figuren definierende verbindende Merkmale anzudichten: In The Fighter sehnt sich jeder nach einer intakten Familie; in Silver Linings Playbook kämpfen sämtliche Charaktere gegen mal kleinere, mal grössere Neurosen. In American Hustle gilt nun die Maxime, dass Betrug nicht nur die beste Überlebensstrategie, sondern nachgerade die Essenz der menschlichen Existenz ist: "People are always connin' each other. We're even connin' ourselves", sinniert Irving – einer von mehreren Erzählern – einmal. So ist auch das bewusst überstilisierte Siebziger-Kolorit mit seinen haarsträubenden Kostümen und den aufwendigen Frisuren kein Zufall – Verkleidungen, egal wie lächerlich sie auch scheinen mögen, gehören nun mal zum grossen Schwindel des Lebens. Man kann dem Film als Ganzes ankreiden, dass, anders als in den ihm letztlich überlegenen The Fighter und Silver Linings Playbook, die Emotionen weitgehend auf der Strecke bleiben. Man kann auch monieren, er löse seinen Plot auf eine Art auf, die dem komplexen Netz von Lügengebilden nicht vollauf gerecht wird. Es lässt sich mit Fug und Recht behaupten, American Hustle sei im Grunde nichts anderes als eine gewitzte Etüde seines Regisseurs. Aber was für eine – voller Verve, Charme und Schalk!

★★★★

Montag, 17. Februar 2014

Winter's Tale

© 2014 Warner Bros. Ent.



"Describing all the different ways the movie finds to fail does not come close to experiencing it firsthand. It is horrible beyond description, it is one of the worst films this critic has ever seen. But, and this is the crucial part, he has also not been entertained to such an extent for a good long while."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 13. Februar 2014

Der Goalie bin ig

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


Könnte die Leinwandadaption eines Mundartromans von Pedro Lenz der Anstoss sein, den das Schweizer Kino gebraucht hat, um aus seiner Qualitätskrise herauszufinden, seine selbst auferlegte Flucht nach innen aufzugeben? Möglich ist es, wirkt doch Der Goalie bin ig wie ein Befreiungsschlag.

"Früher war alles besser" lautet ein ebenso alter wie falscher Gemeinplatz, der sich gerade in der Schweiz seit geraumer Zeit wieder grosser Beliebtheit erfreut. In Medien und an Stammtischen wird gewettert gegen die angeblich unaufhaltsame Teuerung von einem Glas Wein, einer Stange Bier, einer Tasse Kaffee, wenngleich man unter Berücksichtigung von Inflation wohl zu dem Schluss kommen würde, dass sich die Preise in Tat und Wahrheit kaum verändert haben. Auch die scheinbare Abstumpfung der Jugend durch die zahlreichen technischen Wunderwerke des 21. Jahrhunderts ist vielen ein Dorn im Auge – in Unwissenheit darüber, dass die gleichen Befürchtungen bereits nach Erfindung des Buchdrucks geäussert wurden. Die Liste derartiger Beispiele ist schier endlos; je länger man sich damit befasst, desto offensichtlicher wird, dass die Plattitüde letztlich ähnlich aussagekräftig ist wie die Abwandlung derselben, welche der deutsche Kabarettist Jochen Malmsheimer einst vornahm: "Früher war vieles früher". 

Doch das Gefühl hat im Laufe der vergangenen Jahre auch im Schweizer Kino Einzug gehalten. Der Markt für dokumentarische Idealisierungen einer archaischen Urschweiz – ob cineastisch hochstehend oder nicht –, bevölkert von Fahnenschwingern, Bauernbräuchen und Alpaufzügen, boomt: von Heimatklänge über Die Wiesenberger und Alpsegen bis zu Alice Schmids durchschlagendem Erfolg Die Kinder vom Napf. Weiter von jenen heilen Welten könnte Sabine Boss' Der Goalie bin ig – ausser vielleicht in seinem allzu sonnigen dritten Akt – nicht entfernt sein. Der Film, so deutet es jedenfalls die subtil-atmosphärische Ausstattung an, spielt in der Vergangenheit, wohl in den Achtzigerjahren, als in Kneipen geraucht wurde, als auf der Hundert-Franken-Note noch kein Alberto Giacometti zu finden war, als die Heroinsucht ein verhältnismässig weit verbreitetes Problem war.

Während sein Kumpel Ueli (Pascal Ulli, links) weiterhin fixt, versucht Goalie (Marcus Signer) nach einem Gefängnisaufenthalt, sein Leben in den Griff zu bekommen.
 © Ascot Elite
Geleitet von der rauen, diskursiven Prosa Pedro Lenz' – welcher selber als französischer Drogendealer in einer kleinen Rolle mittut und dessen einzige Dialogzeile ("Je ne parle pas allemand") augenzwinkernd auf die Sprache seiner Literatur verweist –, erzählt Boss vom Fixer Goalie (Marcus Signer mit der stoischen Melancholie des jüngeren Robert Redford), der für seinen besten Freund Ueli (der hervorragende Pascal Ulli) ein Päckchen Stoff über die Grenze schmuggelte und daraufhin für ein Jahr nach Witzwil ins Gefängnis wanderte. Nun ist Goalie zurück im Berner Peripherie-Kaff Schummertal, wo er, clean und pleite, sich nach einer ehrlichen Arbeit umsieht und der Kellnerin Regula (Sonja Riesen) den Hof macht. Doch der Schummertaler Drogenszene zu entfliehen, ist nicht einfach.

Mit Ausnahme der deplatziert wirkenden Spanien-Reise seines Protagonisten sowie der sporadischen Ausflüge an die Grenze zum Krimi-Plot ist der Film eine für Schweizer Produktionen ungewohnt naturalistische – als Kontrast bietet sich derzeit etwa der hemdsärmelig-steife Akte Grüninger an –, durch und durch fesselnde Milieu-Studie, welche nicht selten Sven Regeners Roman Herr Lehmann evoziert. Lenz' Bern ist nahe verwandt mit Regeners Berlin, wo die Taugenichtse auf die Tunichtgute treffen und man der Tristesse des Lebens mit Bier und Zigaretten beizukommen versucht. Es ist eine Thematik, die man zuletzt angesichts der Idyllversessenheit des Schweizer Kinos – frei nach Goalie: "För öppis hetme jo ne Vergangeheit. Di isch zwar ou nid nume schön, aber die chani wenigschtens eso verzöue, wien ig wott" – schmerzlich vermisst hat.

★★★★

Freitag, 7. Februar 2014

Akte Grüninger

Landauf, landab hängen in der Schweiz derzeit Plakate, die das Volk auf die bevorstehende Abstimmung "Gegen Masseneinwanderung" hinweisen. In den Kinos ist derweil das historische Drama Akte Grüninger zu sehen ist, gewidmet dem Titel gebenden St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger, unter dessen Kommando zwischen 1938 und 1939, im Zuge des österreichischen Anschlusses an Hitlers Nazideutschland, mehreren tausend jüdischen Flüchtlingen illegal Asyl gewährt wurde.

Zu Zeiten des neu erstarkten Rechtspopulismus in der Schweiz, infolge dessen Ausländerfeindlichkeit zu ungeahnter Salonfähigkeit zurückzufinden scheint, sprechen die Thematik sowie das Timing des Kinostarts von Alain Gsporners neuem Film eine deutliche Sprache. Akte Grüninger appelliert an die bedingungslose, von der Politik abgekoppelte Menschlichkeit, die Hauptmann Grüninger (ein häufig allzu theaterhaft agierender Stefan Kurt) und Sidney Dreifuss (Anatole Taubman), Leiter der israelitischen Flüchtlingshilfe, an den Tag legen, um jüdischen Flüchtlingen die Einreise zu ermöglichen. Unter den wachsamen Augen eines Bundesabgeordneten (Maximilian Simonischek) setzen sie Beruf und Reputation aufs Spiel, um möglichst viele Asylsuchende vor der Deportation zurück ins Verderben zu bewahren.

Grüningers Vita – vom Fussballer beim Schweizer Meister SC Brühl St. Gallen zum grossen Humanisten, geehrt von Israel als ein "Gerechter unter den Völkern", im eigenen Land bis zu seinem Tod 1972 nicht rehabilitiert – gehört zweifellos zu den beeindruckendsten der jüngeren Schweizer Geschichte; sein Erbe bleibt ein Thema mit kontroversem Potential, wie etwa ein unlängst veröffentlichter Weltwoche-Artikel an den Tag legte. Doch man muss sich fragen, ob man bei der cineastischen Aufarbeitung seines Lebens mit Richard Dindos Dokumentation Grüningers Fall (1997) nicht besser bedient worden sei. Denn Akte Grüninger mag ein dankbares Übungsstück für den noch in die Rolle des Regisseurs von gewichtigeren Stoffen hinein wachsenden Gsporner sein – als prominenteste Arbeiten stehen für ihn bislang zwei Martin-Suter-Adaptionen (Lila, Lila, Der letzte Weynfeldt) sowie der Kinderfilm S'chline Gspängst zu Buche –, doch als ernsthafte Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte vermag sein Drama nur mässig zu überzeugen.

Polizeihauptmann Paul Grüninger (Stefan Kurt, links) und Sidney Dreifuss (Anatole Taubman), Vorsitzender der israelitischen Flüchtlingshilfe, verhelfen Ende der Dreissigerjahre Tausenden von Juden zur illegalen Einreise in die Schweiz.
© Disney
Ähnlich wie Markus Imboden bei seinem Spielfilm Der Verdingbub gehen Gsporner und Markus Imboden ihre Materie mit ergebener, ja betroffener Aufrichtigkeit heran, was das Aufkommen von Subtilität weitestgehend verhindert – das alte Problem der Schweizer Filmföderung, von Komitees abhängig zu sein, macht sich einmal mehr bemerkbar. Kraftvolle Momente wie etwa Maximilian Simonischeks Unterredung mit einem ehemaligen Insassen des Konzentrationslagers Dachau werden untermininiert von bestenfalls krampfhafter, schlimmstenfalls plumper Überbetonung des historischen Hintergrundes: Immer wieder wird die ohnehin unnötig verschachtelte, von Rückblenden durchsetzte Dramaturgie von Archivaufnahmen aus dem Dritten Reich unterbrochen, über die pathetische Musik und, in einem besonders eklatanten Fehlgriff, ein Monolog Grüningers gelegt wird.

Auch gestalterisch bleibt Akte Grüninger nicht von zweifelhaften Entscheidungen verschont. Während sich Ausstattung und Schnitt auf solidem Niveau bewegen, ist die Bildarbeit, kurz gesagt, schrecklich. Matthias Fleischer, obgleich im Abspann grossspurig als "Director of Photography" aufgeführt, wird mit seiner unsauberen Kadrage keine Preise gewinnen: Ohne Unterlass schneidet der obere Bildrand die obere Kopfpartie der Schauspieler ab; Figuren lehnen sich ohne Sinn für Komposition aus der Einstellung heraus. Totalen wurden derweil einer ebenso radikalen wie irritierenden Tilt-Shift-Kur unterzogen, welche oft alles ausser der Bildmitte in undurchdringliche Unschärfe stürzt.

Robert Frei (Maximilian Simonischek) reist aus Bern an, um Grüninger auf die Finger zu schauen.
© Disney
So bleibt die scharfe Aktualität des Projekts der stärkste Vorzug des Films, obgleich er auch diese nach und nach einer ungeschickten Selbstverteidigungstaktik zu opfern droht. Schon früh werden SP-Untergebene des freisinnigen Grüningers als treibende Kräfte im Bemühen der St. Galler Kantonspolizei, Juden die Immigration zu erlauben, inszeniert – eine Darstellung, welche nach und nach aber auf nebulöse Art und Weise wieder relativiert wird, wohl um vordergründig die Verbindung zwischen Humanismus und politischer Gesinnung zu trennen. Akte Grüninger versteckt sich hinter seinem Porträt schmieriger, opportunistischer, letztlich scheinheiliger Sozialdemokraten wie dem National- und Regierungsrat Valentin Keel (Helmut Förnbacher) vor dem praktisch unausweichlichen Vorwurf – siehe Weltwoche – der (linken) Parteilichkeit. Dadurch wird der Film aber nicht ausgeglichen, sondern ebenso uncouragiert und harmoniesüchtig wie jene Zeitgenossen Grüningers, die er so leidenschaftlich kritisiert. Es stecken viel guter Wille und noch mehr Wahrheit in diesem Werk, welches sein Publikum in seinem besten Momenten daran erinnert, dass die Welt nicht an der Schweizer Grenze Halt macht, es noch nie gemacht hat. Doch Akte Grüninger ist zu zahnlos, ein zu unpolitischer Beitrag zu einem politisch derart aufgeladenen Thema, um wirklich zu berühren.

★★

Donnerstag, 6. Februar 2014

Enough Said

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Es sind die Themen des mittleren Alters – Scheidung, Kinder, die das Nest verlassen, die Neubewertung der eigenen Lebensziele, neue Liebe – welche Regisseurin Nicole Holofcener in Enough Said umtreiben. Ihr Film hat Charme und mitunter auch Witz, ist aber insgesamt nicht weiter bemerkenswert.

Wäre Holofceners vierter Film nicht mit einem dermassen guten Cast ausgestattet – Julia Louis-Dreyfus, Toni Collette, Catherine Keener und natürlich der im Sommer 2013 überraschend verstorbene James Gandolfini in seiner zweitletzten Rolle –, böte sich dem Zuschauer wohl ein wenig begeisterndes Bild. Ja, selbst mit dieser hochkarätigen Besetzung sind die Risse und Unzulänglichkeiten in Holofceners (überraschenderweise mehrfach preisgekröntem) Drehbuch nicht zu übersehen. In einem besseren Sitcom-Plot lässt sie die geschiedene Masseuse Eva (Louis-Dreyfus) auf den sympathischen, ebenfalls geschiedenen Albert (Gandolfini) treffen, dessen Ex-Frau (Keener, die bislang in allen von Holofceners Filmprojekten zu sehen war), eine Klientin von Eva, nur Verachtung für ihn übrig hat, wodurch Eva zu hinterfragen beginnt, ob sie sich wirklich auf eine Beziehung mit ihm einlassen soll.

Als zusammenhängendes Ganzes vermag Enough Said nicht so recht zu überzeugen, weniger noch als so mancher Eintrag ins Mumblecore-Genre, dessen Hang zur Dialog-Improvisation, zu unangenehmen Gesprächspausen sowie zum erzählerischen Minimalismus auch hier merklich mitschwingt. (Angesichts der nicht selten desorientierenden Montage scheinen auch dessen notorisch niedrige Produktionswerte einen Einfluss gehabt zu haben.) Viele von Holofceners Dialogen, mit ihren (zunächst) zärtlich-lakonischen Neckereien im Stile von Lynn Sheltons Your Sister's Sister und dem beinahe resignierten Seufzen über den erwachsenen Alltag wie in Jennifer Westfeldts Friends with Kids, sind durchsetzt von amüsanten, bisweilen auch bissigen Einzeilern ("I find that I don't like younger people"), welche, von einigen Fehltritten ins Profane ("She's got no cellulite!") abgesehen, der unliebsamen Thematik der Midlife-Crisis sowohl mit Humor als auch mit einer Prise Wehmut begegnen.

Eva (Julia Louis-Dreyfus) lernt den sympathischen Albert (James Gandolfini) kennen, dessen Ex-Frau ihn als abstossendes Ekel bezeichnet.
© cineworx
Doch das Problem, das sich stellt, ist das der Figurenzeichnung. Während sich selbst schwächere Mumblecore-Produktionen oftmals durch hervorragend realisierte Figuren auszeichnen – ganz nach Mike Leighs Philosophie, dass ein Auteur seine Kreationen zusammen mit seinen Darstellern entwickeln sollte –, dominieren in Enough Said die eher flachen Charakterisierungen; die Eigenarten der Figuren wirken kaum je natürlich. Holofcener bürdet ihrer Protagonistin hölzerne Selbstgespräche und vage Schrullen auf, welche eher zu Julia Louis-Dreyfus' Rolle in der satirischen Fernsehserie Veep denn zu ihrer Eva passen würden. James Gandolfini muss sich indes damit begnügen, dass sich das Drehbuch nie definitiv entscheiden kann, ob es ihn feiern oder seine Angewohnheiten verurteilen soll; Toni Collette damit, dass ihre Figur, Evas beste Freundin, keine weiteren Facetten als die der impulsiv-neurotischen Australierin erhalten zu haben; derweil Catherine Keener stets eine eindimensionale Nörglerin bleibt. Aber genau hier zeigt sich letztendlich, wie sehr Holofcener von ihrem vorzüglichen Cast profitiert: Dank ausnahmslos gelungener, würdevoller, im Rahmen der (Skript-)Möglichkeiten nuancierter Darbietungen – Glanzlicht: "Soprano" Gandolfini – vermögen mittelmässige Witze plötzlich zu unterhalten, zweifelhafte Wendungen zu überzeugen, Dialog-Plattitüden zu berühren. So wird Enough Said zwar nicht zu einem begeisternden Film, wohl aber zu einer bekömmlichen Ansammlung von reizvollen Momenten.

★★★