Sonntag, 30. März 2014

Captain America: The Winter Soldier

Es scheint, als hätten NSA-Affäre und schier unbegrenzte Kompetenzen von CIA und FBI nicht nur die Vereinigten Staaten in eine tiefe Sinnkrise gestürzt, sondern den symbolischen, den Landesnamen tragenden Marvel-Comichelden gleich mit. Captain America alias Steve Rogers (Chris Evans), der während des Zweiten Weltkriegs dank eines geheimen Militärexperiments vom schmächtigen Hänfling zum übermenschlich starken Supersoldaten mutierte, sieht sich in The Winter Soldier, Joe und Anthony Russos Sequel zur Herkunftsgeschichte The First Avenger (2011), einer undurchdringlichen, gänzlich konfusen Welt gegenüber gestellt, die von den klar erkennbaren – wenngleich hoffnungslos verallgemeinerten – Rollenverteilungen des Krieges zwischen Alliierten und Achsenmächten weiter nicht entfernt sein könnte.

Er, der noch vor Kriegsende während eines Einsatzes im Nordpol-Permafrost verloren ging und erst 65 Jahre später unter der Aufsicht von S.H.I.E.L.D.-Geheimdienstchef Nick Fury (Samuel L. Jackson mit gewohnt überragender Leinwandpräsenz) wieder aufgetaut und ihn die Avengers-Superheldentruppe aufgenommen wurde, wird konfrontiert mit einer Welt der Kriege, die nicht als solche deklariert werden, deren wahre Gründe im Namen der "nationalen Sicherheit" unter Verschluss gehalten werden, deren Kombattanten miteinander verschworen, verbrüdert, verworren sind – bisweilen sogar ohne es selber zu wissen. Eine Figur, deren Name einen Staat und implizit ein Ideal kennzeichnet, hat in dieser postmodernen Welt einen schweren Stand.

"This isn't freedom, this is fear", konstatiert der Captain, ein Überbleibsel des vielleicht letzten "gerechten" Krieges der Menschheitsgeschichte, als Fury ihm eine neue Drei-Schiff-Flotte fliegender Flugzeugträger vorführt, der es die Satellitentechnologie erlaubt, "Terroristen abzuschiessen, bevor sie überhaupt aus ihrem Loch kriechen". Furys Replik: "Greatest generation? You guys did some nasty stuff". Wenn Krieg per se unmoralisch ist, kann dann einer nobler sein als der andere?

Captain America alias Steve Rogers (Chris Evans, links) ist mit den Methoden seines Vorgesetzten Nick Fury (Samuel L. Jackson) nicht einverstanden.
Captain America: The Winter Soldier kreist mit überraschender – und angesichts der Tatsache, dass das Regie-Brüderpaar bislang vorab mit dem Owen-Wilson-Vehikel You, Me and Dupree in Erscheinung getreten ist, verblüffend souverän gehandhabter – Gravitas um solche und ähnliche Fragen und Motive. Als Fury bei seinem Freund und Weggefährten Alexander Pierce (der nuanciert sinistre Robert Redford) in Ungnade fällt, bricht die Sicherheit von S.H.I.E.L.D rund um die Avengers Fury, Captain America und Natasha Romanoff alias Black Widow (Scarlett Johansson) in sich zusammen. Der amerikanische Albtraum aus dem Kalten Krieg bewahrheitet sich; die Geheimdienste sind unterwandert, der Feind kontrolliert alles von der Verkehrsampel bis zur Nuklearrakete, sämtliche Wände haben Ohren. In seinen eindringlichsten Momenten – unter ihnen jene beeindruckende Sequenz, in der ein digitales Abbild des einstigen Nazi-Schergen Arnim Zola (Toby Jones) den Masterplan seiner Organisation offenlegt – verhält sich The Winter Soldier wie Alan J. Pakulas Paranoia-Klassiker The Parallax View.

Und doch, bei allem politischen Scharfsinn, ist dies durch und durch ein Marvel-Film: Stan Lees obligater Gastauftritt (wunderbar!) fehlt ebenso wenig wie die ausgedehnten Actionszenen – packend inszeniert, wenn auch stellenweise seltsam saltofixiert –, die Verweise auf das anhaltende Avengers-Narrativ – Joss Whedons Age of Ultron startet im Mai 2015 und erhält hier in einer Mid-Credits-Szene zwei neue Charaktere aus dem Marvel-Legendarium – und Figuren wie "Banner, Stark und Strange" (Hulk, Iron Man, Dr. Strange), ein mächtiger Gegenspieler für den Helden (Sebastian Stan als Winter Soldier, ein Schatten aus Steve Rogers' Vergangenheit, stets begleitet von einem äusserst effektiven Musikthema), ein neuer Sekundär-Protagonist (der kriegsversehrte Falcon, gespielt von Anthony Mackie, der sich auf seine Rolle in The Hurt Locker zu besinnen scheint) sowie die leichteren Momente der Charakterkomödie und der fein kalkulierten Anspielungen, zu denen eine köstlich subtile Verneigung vor Samuel L. Jackson und Pulp Fiction gehört.

Der mysteriöse Winter Soldier stellt Captain America vor beträchtliche Schwierigkeiten.
Zwar mag sich der erstaunlich stilsicher inszenierte Film mit seinen 136 Minuten letztendlich zu viel Zeit nehmen und trotz hohem Unterhaltungswert bleibt die diesbezügliche Qualität von Whedons The Avengers unerreicht; doch er erweist sich dennoch als das wohl beste Einzelabenteuer aus Marvels Avengers-Kanon, gerade weil er auf einer ernsten, hochaktuellen, unzweifelhaft legitimen Basis ruht. Am Ende steht nicht die Pax Americana, sondern die Subversion: die Trennung der personifizierten amerikanischen Werte von den korrumpierten Institutionen. Wie die besten Comics rezipiert und verarbeitet Captain America: The Winter Soldier den Zeitgeist und übersetzt die grossen Themen der Gegenwart in eine bekömmliche, aber deswegen keinesfalls weniger perzeptive Geschichte von maskierten Rächern und finsteren Superschurken.

★★★★

Donnerstag, 27. März 2014

Lone Survivor

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


Amerikas Kriegseinsätze im Nahen Osten scheinen wieder reif für die sprichwörtliche, gerade in Europa oft verpönte Heroismus-Behandlung durchs Hollywoodkino zu sein. Lone Survivor lobpreist eine gescheiterte Offensive gegen die Taliban und zeichnet sich dabei durch professsionelles Filmhandwerk aus.

In seinen besten Momenten erinnert der neue Film von Peter Berg (Very Bad Things, Hancock, Battleship) an überaus erlesene Genre-Vorgänger. Als die vier Navy SEALs – Marcus Luttrell (Mark Wahlberg), Michael Murphy (Taylor Kitsch), Axe Axelson (Ben Foster) und Danny Dietz (Emile Hirsch) –, die 2005 im Rahmen der "Operation Red Wings" einen hochrangigen Taliban-Führer liquidieren sollten, an einem Berghang im afghanischen Hinterland biwakieren, evoziert die informelle, aber unterschwellig geladene Stimmung ähnliche Sequenzen in Anthony Manns verkanntem Koreakrieg-Juwel Men in War (1957); als das Quartett unter Guerilla-Beschuss gerät, scheint sich Bergs zunächst noch sachlich-nüchterne Inszenierung an der letzten halben Stunde – dem praktisch in Echtzeit gedrehten Sturm auf Osama Bin Ladens Anwesen – von Kathryn Bigelows meisterhaftem Zero Dark Thirty (2012) zu orientieren.

In seinen schlechtesten Momenten lässt sich Lone Survivor zu klischierten Charakterisierungen, pathetischen Zeitlupen, überdramatischer Musikuntermalung und, während der ruhigeren Szenen, unbeholfenen Schnitten hinreissen – Defizite, welche besonders die europäische Kritik Ridley Scotts Black Hawk Down (2001), dem inoffiziellen Standardwerk im Subgenre von Filmen über amerikanische Militäreinsätze nach dem Ende des Kalten Krieges, gerne ankreidet. Seinen Tiefpunkt erreicht der Streifen indes direkt vor dem Abspann, als dem Zuschauer eine fünfminütige Bild-Montage vorgesetzt wird, in der die realen Soldaten Murphy, Axelson, Dietz, Luttrell – einziger Überlebender der Aktion sowie Co-Autor der Buchvorlage zum Film – sowie Commander Erik Kristensen (Eric Bana) geehrt werden, unterlegt mit Peter Gabriels ebenso deplatzierter wie fehlgeleiteter Coverversion von David Bowies Song "Heroes".

"Men in War": Die Mission der Navy SEALs Dietz (Emile Hirsch, rechts), Axelson (Ben Foster, 2. v. r.), Luttrell (Mark Wahlberg, 2. v. l.) und Murphy (Taylor Kitsch) ist zum Scheitern verdammt.
 © Impuls Pictures AG
Lone Survivor pendelt unablässig zwischen diesen beiden Qualitätsextremen, zwischen packendem, hochgradig atmosphärischem, herausragend gemachtem Realismus und dubioser amerikanisch-patriotischer Überhöhung. Ansatzweise gebrochen wird Letztere erst im Schlussakt, als der dem Feuergefecht mit den Taliban schwer verwundet entronnene Luttrell, von Mark Wahlberg mit überzeugend zurückhaltender Intensität verkörpert, in einem Paschtunen-Dorf von einem Einheimischen (Ali Suliman) versteckt, gepflegt und vor den Terroristen beschützt sind. Zwar sind auch diese Passagen mit eher groben Strichen gezeichnet, doch ihnen, wie auch dem Rest des Films, wohnt eine kuriose emotionale Kraft inne, welche trotz der diversen Verfehlungen der Erzählung erhalten bleiben. So ist man sogar gewillt, Lone Survivor als einen versteckt kritischen Kommentar auf die Tätigkeit des US-Militärs in Afghanistan zu lesen, gerade im klimaktischen – und fiktiven – Scharmützel zwischen Paschtunen-Bauern und Taliban-Miliz: Erstere verteidigen dem Paschtunwali-Ehrenkodex entsprechend ihren kriegsversehrten ausländischen Gast, Letztere morden im Namen des Jihad. Doch als die amerikanische Verstärkung eintrifft, verschwimmen diese essentiellen Distinktionen: Das schwarz-weisse Visier der Kampfhubschrauber sieht nur Afghanen.

★★★

Dienstag, 25. März 2014

The Act of Killing

© Det Danske Filminstitut

★★★★

"By giving Anwar Congo a platform to relay and later reenact his actions, The Act of Killing not only prompts the nightmare-stricken grandfather to ultimately confront the implications of his life’s “work”; it forces the viewer to stare into the abyss of the human psyche. The person on display here is not a barbarous monstrosity that fits neatly into the popular image of the crazed psychopath; it’s a human being."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Montag, 24. März 2014

Finsterworld

Mitten in ein Deutschland der festgefahrenen Politik und des sich einer Renaissance erfreuenden Spiessbürgertums platzt Frauke Finsterwalder mit ihrem vom Schweizer "Skandal-Autor" Christian Kracht (Imperium) mitverfassten Spielfilm-Debüt, der episodischen schwarzen Komödie Finsterworld. Diese ist, der Titel verrät es schon, vieles zugleich: ein Querschnitt durch die zeitgenössische Bundesrepublik, eine moderne Hinterfragung angeblicher deutscher Kulturkonstanten, ein ironisch gebrochener persönlicher Blick der Regisseurin auf ihr Land.

Der Plot ist analog dazu angelegt, aufgesplittet in mehrere – sich bisweilen überschneidende – Handlungsstränge, welche von zwölf fokalisierenden Personen getragen werden. Vom allein stehenden Fusspfleger Claude (Michael Maertens) leiten Finsterwalder und Kracht zum Streifenpolizisten Tom (Ronald Zehrfeld) über, der sich wünscht ein Plüschtier zu sein, während seine Freundin Franziska (Sandra Hüller) mit ihrer Hartz-IV-Dokumentation – im Stile des "neuen Neorealismus" – auf keinen grünen Zweig kommt. Derweil besucht Claude die an den Rollstuhl gefesselte Rentnerin Sandberg (Fassbinder-Kultaktrice Margit Carstensen), deren reicher Sohn Georg (Bernhard Schütz) mit seiner Frau Inga (Corinna Harfouch) das verhasste Europa endlich verlassen will und mit dem Mietauto in Richtung Pariser Flughafen unterwegs ist.

Die jüngere Generation – eine gelangweilte Privatschulklasse – sitzt währenddessen in einem Reisebus, der sie zu einer KZ-Gedenkstätte bringen soll. Doch weder Ingas und Georgs arroganter Sohn Maximilian (Jakub Gierszał) noch sein bester Freund (Max Pellny) noch die Aussenseiter Natalie (eine schreckliche Carla Juri) und Dominik (Leonard Scheicher) haben ein offenes Ohr für den mahnenden Vortrag ihres Lehrers (Christoph Bach). Und abseits von alledem streift ein stiller Einsiedler (Johannes Krisch) durch seinen Wald, wo er sich um einen verletzten Raben kümmert.

Wie man sich denken kann, ist "Provokation" ein Schlüsselwort in diesem exzentrischen Panoptikum eines sich im ewigen Widerspruch mit sich selbst befindlichen Landes ("Es ekelt einen an, aber es ist eben auch heimelig", sagt Claude einmal – wenn auch über ein Volkslied). Die Freude von Finsterwalder und Kracht am Herausfordern etablierter Normen und Tabus ist kaum zu übersehen, von den mit abgeschabter Hornhaut zubereiteten Keksen, die Claude seiner besten Kundin mitbringt, bis zu den öden Privatschülern, welche den Appellen des Exkursionsleiters an die deutsche Kollektivschuld nichts als Augenrollen, saloppe Hitler-Witze und historischen Relativismus entgegensetzen.
 
Filmemacherin Franziska (Sandra Hüller) ist auf der Suche nach der ultimativen dokumentarischen Authentizität.
© Spot On
Vielleicht ist es gerade dieses spitzbübische Vergnügen an der gehobenen Geschmacklosigkeit, insbesondere bezogen auf Geschichte und Ideologie, die es erschweren, Finsterworld als sonderlich relevante Auseinandersetzung mit irgendwas anzuerkennen. Zwar tischt der Film einem Anspielungen auf und Persiflagen über verschiedene deutsche Obsessionen auf – Franziskas Suche nach der "authentischen" Dokumentation, die Verachtung der Hautevolee für das eigene zubetonierte Land (Inga: "Ich hasse Deutschland!"), die romantische Verbundenheit mit der einheimischen Natur, die Sehnsucht nach einer unbelasteten Vergangenheit –, doch letzten Endes landet er stets viel zu schnell wieder bei den altbekannten Themen: Nazis, Grossdeutschland, Hitler – Themen, deren Provokations-Potential spätestens seit Dani Levys Mein Führer kleiner scheint, als es womöglich sein sollte. Gedanken darüber, dass Hitler die einzige deutsche Figur mit der verbindenden Ikonizität eines Mickey Mouse ist, oder über die Überlegenheit des arischen Modegeschmacks über den der BRD amüsieren mehr als sie schockieren.

Dass dies bis zu einem gewissen Grad beabsichtigt ist, ist nicht von der Hand zu weisen, zeigt diese narrative Form von Reductio ad Hitlerum doch auf, wie tief die deutsche Faszination mit der eigenen Vergangenheit auch fast sieben Jahrzehnte nach Kriegsende noch sitzt. Aber dem Ganzen fehlt letztlich eben die Finesse; wahrlich überzeugende Verweise bleiben Mangelware. Heraus stechen allenfalls Franziska, die ihre Dokumentaristen-Vorurteile gegen ausgetretene Themenpfade überwindet und nach Afrika fährt, um dort, wie einst Leni Riefenstahl, eine zweite Karriere zu beginnen, sowie Natalie, die sich im Laufe des Films von der weltoffenen Ghost World-Leserin in ein oberflächliches deutsches "Mädel" verwandelt.
 
Auf dem Schulausflug ins KZ umgarnt Maximilian (Jakub Gierszał) die Aussenseiterin Natalie (Carla Juri).
© Spot On
Alternativen haben Kracht und Finsterwalder indes nur begrenzt anzubieten, zumal jene Subplots, die sich nicht vordergründig mit den Verfehlungen Deutschlands, heute und gestern, beschäftigen, kaum zu packen wissen. Dort verabschiedet sich Finsterworld zwar zwischenzeitlich von den grossen Topoi und versucht sich an der intimeren Provokation in der Art von Ulrich Seidl, den Finsterwalder an einem Punkt sogar explizit referenziert. Doch auch hier provoziert sie ins Leere; die Inszenierung unbequemer Dialoge bleibt stets reiner Selbstzweck. (Inhaltlich mag sich der Film an Seidl orientieren; ästhetisch evoziert er mit seinen unbehaglich sonnendurchfluteten Bildern eher Das letzte Schweigen, Baran bo Odars in allen Belangen überlegenen Blick ins finstere Herz der Bundesrepublik.) 

Finsterwalder und Kracht sind nicht Seidl, Finsterworld keine Paradies-Trilogie, die angestrebte Satire auf ein bis zur Lächerlichkeit verunsichertes, dysfunktionales Volk weniger ein nachhallendes Erstlingswerk eines visionären Regie-Talents als ein oftmals gefälliges, in seiner Vollständigkeit aber defunktes Kuriositätenkabinett. Es unterhält gerade gut genug; doch der Graben zwischen Anspruch und Resultat ist zu breit, als dass man dies schon als Erfolg werten könnte.

★★

Donnerstag, 20. März 2014

August: Osage County

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Unter Regisseur John Wells und Drehbuchautor Tracy Letts wird das rabenschwarze Bühnendrama August: Osage County, für das Letts 2008 den Pulitzer-Preis erhielt, zu einer bisweilen anregenden, aber hoffnungslos zusammengeschusterten Leinwand-Farce ohne Pfiff und Esprit.

Wessen Idee es wohl war, einen Film, dessen Figurenkreis ausnahmslos in der tiefsten amerikanischen Midwest-Provinz beheimatet ist, in Colorado und Oklahoma, mit dem Engländer Benedict Cumberbatch (Sherlock Holmes in der BBC-Serie Sherlock) und dem Schotten Ewan McGregor (Trainspotting, Big Fish) zu besetzen? Zugegeben, beides sind gestandene Schauspieler, beide haben Erfahrung mit US-Charakteren, beide liefern in August: Osage County grundsolide Darbietungen ab (auch wenn McGregor sich allzu sehr bemüht, seinen markanten schottischen Dialekt zu überspielen). Doch irgendetwas, das sich nicht mit ihren Figuren in Verbindung bringen lässt, wirkt deplatziert an ihnen; es stellt sich das Gefühl ein, dass sie nicht in John Wells' Verfilmung von Tracy Letts' Drama gehören.

Der Film, ein stattlich besetztes Ensemble-Stück, mag nur marginal um die beiden kreisen; doch eben dieses Gefühl erweist sich als allgegenwärtig: Irgendetwas stimmt nicht mit August: Osage County. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich dies mit der Geschichte erklären. Letts, in bester Edward-Albee-Tradition, legt den Fokus auf die himmelschreiend dysfunktionale Familie Weston, die nach dem Ableben ihres schwermütigen Patriarchen (Sam Shepard – kurzer Auftritt, nachhaltiger Eindruck) ins Chaos gestürzt wird. Die nun verwitwete Violet (Meryl Streep), krebskrank und tablettensüchtig, lädt zum Traueressen ins Weston-Anwesen; es erscheinen ihre drei Töchter Karen (Juliette Lewis), Ivy (Julianne Nicholson) und Barbara (Julia Roberts) sowie ihre Schwester Mattie Fae (Margo Martindale – hervorragend) und deren Ehemann Charles (Chris Cooper – diskret und grossartig). Angestachelt von Schmerzmitteln und der Titel gebenden Augusthitze in Osage County, Oklahoma, holt Violet zum Rundumschlag gegen ihre "verweichlichte" Sippe aus, der nach und nach in einen Zweikampf mit Barbara, der ältesten Weston-Erbin und Noch-Gattin des unsicheren Bill (McGregor), mündet; derweil Ivy verzweifelt versucht, die Liebesbeziehung zu verheimlichen, die sie mit Little Charles (Cumberbatch), dem schüchternen Sohn von Onkel Charles und Tante Mattie Fae unterhält.
 
"When shall we three meet again?": Violet (Meryl Streep, Mitte) weist ihre Töchter Barbara (Julia Roberts, links) und Ivy (Julianne Nicholson) zurecht.
 © Ascot Elite
In dieser Anlage, das hat Letts' Bühnenstück bewiesen, steckt ein vielschichtiger, provokativer, durchdachter Plot um familiäre Dynamiken, hitzige Generationenkonflikte und Fragen zur Heredität von Lastern und Sünden, die in ähnlicher Form schon John Steinbeck, jenen Giganten der modernen amerikanischen Literatur, umtrieben. Wells und Letts vermögen dies, mitsamt den dazu gehörenden pointierten Dialogen, sporadisch durchaus ansprechend auf die Leinwand zu transponieren. Die Austausche zwischen der magistral aufspielenden Meryl Streep und der heftig feixenden Julia Roberts – beide oscarnominiert – sind durchsetzt von messerscharfen Linien. Und auch die ultimative Ironie, dass die einzige wahre Liebe in Osage County zwischen den Cousins Ivy und Little Charles entstanden ist, bleibt erhalten.

Doch dem überwiegend durchaus unterhaltsamen Film fehlt die Stringenz, um der potentiellen Tiefe der Geschichte – welche stets Gefahr läuft, zu einer blossen Aneinanderreihung von Schreiduellen zu verkommen – gerecht zu werden, die Innovation, um als Leinwandwerk zu begeistern. Die scheinbar willkürliche Montage der Sequenzen, wie auch die fantasielose Etablierung räumlicher Gegebenheiten – ominöse Landschaftspanoramen und Radio-Wetterberichte – stehen in starkem Kontrast zur festen Verwurzelung in Zeit und Ort, auf die im Titel angespielt wird; auch die emotionale Stimmigkeit bleibt so auf der Strecke.

★★★

Donnerstag, 13. März 2014

The Grand Budapest Hotel

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Wes Andersons haarklein komponierte Filme konstituieren ein eigenes kleines Universum, in dem man sich nur zu gerne verliert; viele sind geneigt, ihn zu den originellsten Regisseuren des jüngeren US-Kinos zu zählen. The Grand Budapest Hotel untermauert diesen Ruf aufs Trefflichste.

Kein Anderson-Projekt wäre komplett, ohne dass Einspruch erhoben würde gegen die Ästhetik – Pastellfarben, symmetrische Einrichtungen, horizontale Kamerabewegungen, Guckkasten-Blickwinkel –, die der eigenwillige Texaner seit seinem Langspielfilm-Debüt, Bottle Rocket (1996), in den Werken Rushmore (1998), The Royal Tenenbaums (2001), The Life Aquatic with Steve Zissou (2004), The Darjeeling Limited (2007), Fantastic Mr. Fox (2009) und Moonrise Kingdom (2012) kontinuierlich entwickelt und verfeinert hat. Ihren prominentesten Kritiker hat die deutsch-amerikanische Koproduktion The Grand Budapest Hotel in David Denby gefunden, welcher unlängst im renommierten New Yorker-Magazin schrieb: "Knowingness and formalist whimsy should not be confused with art – or at least not with major art". Es ist sprechend, dass ausgerechnet ein Film wie The Grand Budapest Hotel, ein Werk, das mit unglaublicher Verspieltheit auf die frühen Jahre des Kinos Bezug nimmt – mit seinen Phantom Rides auf den Dächern von Autos und Lokomotiven, mit seinen gemalten Kulissen, wo pittoreske Finesse Vorrang vor Realismus hat –, der vielleicht ältesten Debatte ausgesetzt wird, die das Medium kennt: der Frage, auf welche Arten des bewegten Bildes sich der Begriff der Kunst überhaupt anwenden lässt.

Längst hat sich das Kino als "siebte Kunst" etabliert und verdankt sein Fortbestehen als solche, knapp 120 Jahre nach der ersten öffentlichen Filmvorführung, nicht zuletzt Stilisten wie Anderson, deren persönlicher Gestaltungswille ganz im Sinne des Autorengedankens ist, jenes Grundpfeilers der Kunst. Denbys Andeutung, Andersons Kino basiere primär auf ausgeklügeltem Formalismus, mag zwar keineswegs verkehrt sein; doch ist es gerade diese formale Kohärenz, dieses Talent, eine stringente Vision immer wieder neu aus- und aufzulegen, welche dem Anderson'schen Film-Korpus seine Faszination verleiht. Emotionalität ist darin in unterschiedlichen Graden zu finden – wobei The Darjeeling Limited und Moonrise Kingdom allein bereits den Vorwurf widerlegen, rigoroser Formalismus bedeute zugleich Gefühlskälte –, doch auch diese oft trügerisch distanziert wirkende Melancholie ist ein fester Bestandteil von Andersons Welt.

Nach dem Mord an Madame D. (Tilda Swinton) fliehen Page Zero (Tony Revolori, 2. v. l.) und Concierge Gustave (Ralph Fiennes, rechts) durch ein fiktives Osteuropa.
© 2014 Twentieth Century Fox Film Corporation
Auf dieser beruht auch The Grand Budapest Hotel, eine altmodisch aufgezogene Verfolgungsjagd durch ein fiktives osteuropäisches Land Anfang der Dreissigerjahre, die an die Studio-Krimis des klassischen Hollywood, etwa jene eines Ernst Lubitsch, erinnert. Erzählt wird in diesem rasanten, starbesetzten, wunderbar aberwitzigen Abenteuer, welches narrativ gleich dreifach eingerahmt ist, von der Tragik romantischer Nostalgie: "I think his world had vanished long before he ever entered it", sagt der alternde Hotelbesitzer Zero (F. Murray Abraham) über seinen einstigen Vorgesetzten, Gustave H. (Ralph Fiennes mit einer brillanten komödiantischen Darbietung), den Chef-Concierge des Grand Hotel Budapest. Mit ihm floh der junge Zero (Tony Revolori), ein Page, 1932 vor dem Zorn erstarkender Faschisten sowie dem Schergen (Willem Dafoe) eines zwielichtigen Erben (Adrien Brody), der den Mord an seiner Mutter (Tilda Swinton) Monsieur Gustave anhängen will.

Die formalen Vergnügen sind hier unmittelbarer erkennbar als die emotionalen Aspekte, doch darob verliert der Film kein Iota seines Reizes: Andersons Kompositionen wie auch seine gewitzte Bilddramaturgie – in drei Leinwandformaten – bleiben makellos, seine skurrilen Szenarien und Dialoge begeistern mit gewohnter Schärfe, seine Detailverliebtheit animiert zu wiederholten Visionierungen. Wie ein Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit verwandelt The Grand Budapest Hotel den Kinosaal wieder in den magischen Ort der frühen Jahre des Mediums.

★★★★★

Montag, 10. März 2014

Saving Mr. Banks

Die Kamera schwebt sanft durch einen Himmel voller weisser Wolken, es spielt eine melancholische instrumentale Neuinterpretation des Kult-Stücks "Chim Chim Cher-ee" – der Höhepunkt von Thomas Newmans ansonsten bestenfalls durchschnittlichem Score, dessen Originalkompositionen sich oft gefährlich nahe an trällernder Fahrstuhl-Musik bewegen –, Colin Farrell zitiert per Voiceover mit nachdenklicher Stimme: "Winds in the East... Mist coming in... Like something is brewing, about to begin... Can't put my finger on what lies in store... But I feel what's to happen all happened before".

So beginnt Saving Mr. Banks, John Lee Hancocks überaus anregende Tragikomödie über den Kampf, welchen die Autorin P. L. Travers (Emma Thompson) 1961 in Hollywood mit Walt Disney (Tom Hanks) ausfocht, um eine werkgetreue Verfilmung ihres Romans über das magische Kindermädchen Mary Poppins sicherzustellen. Doch der Reiz dieser stellenweise freien Adaption wahrer Begebenheiten liegt nicht primär in ihrer zeitgeschichtlich-journalistischen Dimension. Unter der Ägide eines weniger effizienten Regisseurs – was Hancock an Vision fehlt, kompensiert er mit seiner unbestrittenen Erfahrung – hätte diese Geschichte, welche zahlreiche Exkurse in die Kindheit von Travers unternimmt, wo sich die realen Vorlagen für ihre Figuren finden, womöglich enttäuschend zahm gewirkt, wie die verharmloste Darstellung einer eigentlich weitaus tiefer greifenden Thematik. Wäre das Projekt in den falschen Händen gelandet, hätte die Kritik, die Drehbuchautoren Kelly Marcel und Sue Smith würden die dunkleren Seiten von Disneys Philosophie ausblenden, wohl mehr Gewicht gehabt.

Aber Saving Mr. Banks, logischerweise unter der Schirmherrschaft der Disney-Studios entstanden, was den Machern uneingeschränkten Zugriff auf die Archive des Unternehmens erlaubte und darüber hinaus rechtliche Bedenken eliminierte, besticht mit seiner Einfühlsamkeit den Charakteren gegenüber sowie mit seiner ansteckenden Liebe zu jenem Film, der aus dem Konflikt zwischen Travers und Disney hervorgegangen ist, Robert Stevensons fünffach oscarprämiertes Musical Mary Poppins aus dem Jahr 1964. Wie schon Stevenson verfallen auch Hancock, Marcel und Smith nie falscher Sentimentalität und verknüpfen die amüsante Situationskomik der vom oberflächlichen Los Angeles abgestossenen Travers mit ironisch gebrochenen Blicken hinter die Kulissen Hollywoods – ganz im Sinn und Geist von Singin' in the Rain –, der Frage, inwiefern das Leben die Kunst beeinflusst, sowie mit subtilen, mitunter gar sublimen Szenen, die sich mit der Gefühlswelt der Figuren auseinandersetzen. Mit Hilfe dieser Themen und Motive argumentiert der Film, und dies überzeugend, dass der "Verlust" von Travers, welche sich Zeit ihres Lebens nicht vollends mit Disneys Mary Poppins zu arrangieren wusste, einer war, von dem die Welt profitierte, dass Stevensons Musical Travers' Figuren gerechter wurde als sie bereit war anzuerkennen.

1906: Die junge P. L. Travers (Annie Rose Buckley) muss dabei zusehen, wie sich ihr hingebungsvoller Vater (Colin Farrell) um seine Gesundheit trinkt.
© Disney
Allerdings müssen auch solche Interpretationen mit gebührender Vorsicht getätigt werden, um Hancocks virtuos gemachtem Film keine explizite Ideologie anzuhängen und ihn so seiner bewegenden Menschlichkeit zu berauben. Nichts läge ihm ferner als einer Seite im zentralen Konflikt Recht zu geben, als eine Person als gut oder schlecht abzustempeln. Nirgendwo kommt dies besser zum Tragen als in den Rückblenden in Travers' Kindertage im Australien des frühen 20. Jahrhundert, als "P. L." noch Helen Goff (Annie Rose Buckley) hiess und dabei zusehen musste, wie ihr herzensguter Vater (Colin Farrell) seinen Kampf gegen die Alkoholabhängigkeit verlor. Die Verbindungen zwischen Mary Poppins und jenen Kindheitserlebnissen mögen bisweilen allzu deutlich hervorgehoben werden, doch dank eines Drehbuchs, welches auf gängige Stereotypen verzichtet, und einer grundsoliden Darbietung von Colin Farrell, der, obgleich er einen irischstämmigen Charakter spielt, von einem ausgeprägten Dialekt absieht, erfüllen diese auf Gravitas ausgerichteten Sequenzen ihren Zweck mühelos. Noch selten hat man im Hollyood-Mainstream eine derart differenzierte Darstellung einer alkoholkranken Figur gesehen.
1961: Walt Disney (Tom Hanks) lädt die Autorin P. L. Travers (Emma Thompson) nach Hollywood ein, um sie dazu zu überreden, ihm die Filmrechte an Mary Poppins abzutreten.
© Disney
Der Tonfall im primären Handlungsstrang ist entschieden fröhlicher: Die Verbalduelle von Disney und Travers werden von den herausragenden Hanks und Thompson mit der Präzision eines klassischen Screwball-Comedy-Duos vorgetragen; die zähen Verhandlungen der halsstarren Travers mit Skripteur Don DaGradi (Bradley Whitford) und den Musikkomponisten und -textern Richard (Jason Schwartzman – wundervoll) und Robert Sherman (B. J. Novak – wundervoll), welche sie dazu bringen sollen, Disney die Filmrechte ihres Buches abzutreten, enthalten viele witzige Dialoge und kreativ eingeflochtene "Rohfassungen" späterer Song-Klassiker; Paul Giamatti als Chauffeur entwickelt mit Thompson eine skurrile Driving Miss Daisy-Dynamik. Doch auch hier wird nicht vor der Ernsthaftigkeit zurückgeschreckt, gerade im letzten Drittel, als Travers der Tatsache ins Auge blicken muss, dass ihre Figuren, ob Familienmitglieder oder nicht, nicht nur ihr selbst gehören, und dass die realistisch-gestrenge literarische Mary Poppins es verdient, eine optimistischere Leinwand-Inkarnation zu erhalten. So ist letztlich auch Hancocks Entscheidung, gewisse Aspekte der realen Geschichte – Disneys gesundheitliche Probleme, Travers' Aversion gegenüber animierter Sequenzen in Mary Poppins, die sie noch am Abend der Weltpremiere entfernen lassen wollte – aussen vor zu lassen, im Grunde ein stimmiger Kniff: Kunst ist in Saving Mr. Banks genuiner als die kalte Realität. Denn "a spoonful of sugar helps the medicine go down".

★★★★

Sonntag, 9. März 2014

Nymph()maniac – Volume I

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Schon vor seinem Kinostart hat Nymph()maniac, das zweigeteilte Opus magnum des einstigen Dogme-95-Radikalen Lars von Trier um die Eskapaden einer Sexsüchtigen, für Diskussionen gesorgt; der Vorwurf der Pornografie wurde laut – zu Unrecht, wie es scheint. Teil eins ist raffiniert, verspielt, virtuos.

Die Ausgangslage des 14. Films von Triers ist schnell erzählt: Eines Abends findet ein Junggeselle mittleren Alters, der sympathische Seligman (Stellan Skarsgård), in einer Seitengasse eine übel zugerichtete Frau (Charlotte Gainsbourg) vor. Sein Angebot, einen Krankenwagen zu rufen, schlägt sie energisch aus, willigt aber ein, zu ihm nach Hause zu gehen, wo er ihr Tee und Gebäck anbietet und sich von ihr ihre Lebensgeschichte erzählen lässt. Ihr Name ist Joe; sie ist eine selbsternannte "Nymphomanin" und ihre Vita ist entsprechend geprägt von sexuellen Episoden und Experimenten, aufgrund derer sie in ihre gegenwärtige Lage geraten sei. Und von Trier, obwohl sich seine Filme schon längst weit ausserhalb der Dogmen bewegen, welche er und Thomas Vinterberg 1995 verkündeten – keine künstlichen Stilmittel, kein Kamerastativ, nur authentische Schauplätze –, ist nach wie vor ein leidenschaftlicher Provokateur, der es sich nicht nehmen lässt, die etablierten Normen des guten Geschmacks herauszufordern: Joes Sexleben wird ebenso unverblümt gezeigt wie sie es erzählt; ausgespart wie so gut wie nichts.

Dass dabei in den intensiveren Szenen, welche sich angeblich im zweiten Teil noch häufen werden, professionelle Porno-Darsteller den Platz der regulären Schauspieler einnehmen, gilt vielen als Beleg dafür, dass Nymph()maniac im Grunde nichts anderes ist als pseudointellektuell verpackte Pornografie. 2009, als im Zusammenhang mit Antichrist, von Triers kruder sadomasochistischer Verneigung vor Andrei Tarkovsky, ähnliche Bedenken geäussert wurden, mag diese Beschreibung noch mehr oder minder zugetroffen haben, doch Nymph()maniac ist zu faszinierend, zu gehaltreich, um ihn auf diese Art und Weise abzutun.

Scheherazade und Shahryar: Die sexsüchtige Joe (Charlotte Gainsbourg) erzählt Seligman (Stellan Skarsgård) ihre Lebensgeschichte.
 © Ascot Elite
Zwar wirkt Volume I, wie die erste Hälfte dieses Diptychons bezeichnet ist, auf den ersten Blick alles andere als subtil, angefangen beim stilisierten Titel, dessen das O ersetzende Klammern – augenzwinkernd ironisch oder plump-ordinär? – die Form einer Vagina imitieren. Gedankengänge von Joe oder Seligman werden oft von passenden Standbildern oder kurzen Einspielern illustriert oder sogar buchstäblich auf die Leinwand geschrieben, so etwa die mathematische Dimension von Joes Defloration ("3+5"), auf der auch die ungleiche Kapitelzahl der beiden Filmteile beruht. Allzu offensichtliche Elemente dieser Art sind keine Seltenheit in von Triers Kino – vom himmlischen Glockengeläut am Ende von Breaking the Waves (1996) bis zum atemberaubenden Apokalypse-Prolog von Melancholia (2011) –, doch in Nymph()maniac dienen diese nicht nur als (überaus gelungene) Verfremdungseffekte; vielmehr scheinen sie auch auf einen versteckten Aspekt der Affiche hinzuweisen. Die Detailversessenheit, welche Joe, eine verkappte Scheherazade, in ihrer Erzählung an den Tag legt, wirkt hochgradig suspekt. Der Umstand, dass sie sich bei ihren Ausführungen von Objekten, die sie in Seligmans Wohnung findet, leiten lässt – wie Kevin Spaceys Verbal Kint in The Usual Suspects –, macht sie zu einem klassischen unzuverlässigen Erzähler, dessen Worte man keinesfalls auf die Goldwaage legen sollte.

Eingebettet ist diese narrative Unsicherheit in einen hinterhältig schwarzhumorigen, kurios besetzten – es agieren unter anderen "gefallene" Stars wie Christian Slater (hervorragend), Uma Thurman (hervorragend) und Shia LaBeouf (unstet) –, bisweilen unerwartet emotionalen Film, der, nebst alledem, mit einer grandiosen, erstaunlich variablen und vollkommen befreiten Ästhetik beeindruckt. Noch kann kein abschliessendes Urteil über Nymph()maniac gefällt werden, doch die ersten zwei Stunden suggerieren, dass dies ein Opus magnum ist, welches diese Bezeichnung auch verdient.

★★★★