Schon vor seinem Kinostart hat Nymph()maniac, das zweigeteilte
Opus magnum des einstigen Dogme-95-Radikalen Lars von Trier um die
Eskapaden einer Sexsüchtigen, für Diskussionen gesorgt; der Vorwurf
der Pornografie wurde laut – zu Unrecht, wie es scheint. Teil eins
ist raffiniert, verspielt, virtuos.
Die Ausgangslage des 14. Films von Triers ist schnell erzählt: Eines
Abends findet ein Junggeselle mittleren Alters, der sympathische
Seligman (Stellan Skarsgård), in einer Seitengasse eine übel
zugerichtete Frau (Charlotte Gainsbourg) vor. Sein Angebot, einen
Krankenwagen zu rufen, schlägt sie energisch aus, willigt aber ein,
zu ihm nach Hause zu gehen, wo er ihr Tee und Gebäck anbietet und
sich von ihr ihre Lebensgeschichte erzählen lässt. Ihr Name ist
Joe; sie ist eine selbsternannte "Nymphomanin" und ihre Vita ist
entsprechend geprägt von sexuellen Episoden und Experimenten,
aufgrund derer sie in ihre gegenwärtige Lage geraten sei. Und von
Trier, obwohl sich seine Filme schon längst weit ausserhalb der
Dogmen bewegen, welche er und Thomas Vinterberg 1995 verkündeten –
keine künstlichen Stilmittel, kein Kamerastativ, nur authentische
Schauplätze –, ist nach wie vor ein leidenschaftlicher
Provokateur, der es sich nicht nehmen lässt, die etablierten Normen
des guten Geschmacks herauszufordern: Joes Sexleben wird ebenso
unverblümt gezeigt wie sie es erzählt; ausgespart wie so gut wie
nichts.
Dass dabei in den intensiveren Szenen, welche sich angeblich im
zweiten Teil noch häufen werden, professionelle Porno-Darsteller den
Platz der regulären Schauspieler einnehmen, gilt vielen als Beleg
dafür, dass Nymph()maniac im Grunde nichts anderes ist als
pseudointellektuell verpackte Pornografie. 2009, als im Zusammenhang
mit Antichrist, von Triers kruder sadomasochistischer
Verneigung vor Andrei Tarkovsky, ähnliche Bedenken geäussert
wurden, mag diese Beschreibung noch mehr oder minder zugetroffen
haben, doch Nymph()maniac ist zu faszinierend, zu gehaltreich,
um ihn auf diese Art und Weise abzutun.
Scheherazade und Shahryar: Die sexsüchtige Joe (Charlotte
Gainsbourg) erzählt Seligman (Stellan Skarsgård) ihre
Lebensgeschichte.
© Ascot Elite
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Zwar wirkt Volume I, wie die erste Hälfte dieses Diptychons
bezeichnet ist, auf den ersten Blick alles andere als subtil,
angefangen beim stilisierten Titel, dessen das O ersetzende Klammern
– augenzwinkernd ironisch oder plump-ordinär? – die Form einer
Vagina imitieren. Gedankengänge von Joe oder Seligman werden oft von
passenden Standbildern oder kurzen Einspielern illustriert oder sogar
buchstäblich auf die Leinwand geschrieben, so etwa die mathematische
Dimension von Joes Defloration ("3+5"), auf der auch die
ungleiche Kapitelzahl der beiden Filmteile beruht. Allzu
offensichtliche Elemente dieser Art sind keine Seltenheit in von
Triers Kino – vom himmlischen Glockengeläut am Ende von Breaking
the Waves (1996) bis zum atemberaubenden Apokalypse-Prolog von Melancholia (2011) –, doch in Nymph()maniac dienen
diese nicht nur als (überaus gelungene) Verfremdungseffekte;
vielmehr scheinen sie auch auf einen versteckten Aspekt der Affiche
hinzuweisen. Die Detailversessenheit, welche Joe, eine verkappte
Scheherazade, in ihrer Erzählung an den Tag legt, wirkt hochgradig
suspekt. Der Umstand, dass sie sich bei ihren Ausführungen von
Objekten, die sie in Seligmans Wohnung findet, leiten lässt – wie
Kevin Spaceys Verbal Kint in The Usual Suspects –, macht sie
zu einem klassischen unzuverlässigen Erzähler, dessen Worte man
keinesfalls auf die Goldwaage legen sollte.
Eingebettet ist diese narrative Unsicherheit in einen hinterhältig
schwarzhumorigen, kurios besetzten – es agieren unter anderen "gefallene" Stars wie Christian Slater (hervorragend), Uma
Thurman (hervorragend) und Shia LaBeouf (unstet) –, bisweilen
unerwartet emotionalen Film, der, nebst alledem, mit einer
grandiosen, erstaunlich variablen und vollkommen befreiten Ästhetik
beeindruckt. Noch kann kein abschliessendes Urteil über Nymph()maniac gefällt werden, doch die ersten zwei Stunden
suggerieren, dass dies ein Opus magnum ist, welches diese Bezeichnung
auch verdient.
★★★★
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