Das Problem der Bibel ist nicht ihr Inhalt, und sei er noch so
xenophobisch, sexistisch, homophob und blutrünstig. Wie die Edda,
die Bhagavad Gita oder die antiken Mythensammlungen enthält sie
faszinierende, ja inspirierende Geschichten, denen, aus literarischer
Sicht, nicht selten eine anregende Zeitlosigkeit innewohnt. Die
Probleme beginnen erst, wenn versucht wird, sie aus ihrem natürlichen
Umfeld, zu dem auch andere, ähnlich konzipierte Schriften wie
Boccaccios Decamerone oder Chaucers Canterbury Tales
gehören, loszulösen und ihr einen Wahrheitsgehalt anzudichten, den
sie erwiesenermassen nicht hat, als Resultat jahrhundertelanger
Revision gar nicht haben kann. Ihre Poesie verliert an Magie, wenn in
ihrem Namen Menschen verfemt, verbannt, gefoltert und getötet
werden.
So umgibt jene Bibel-Epen, die in Hollywoods goldenem Zeitalter
praktisch Jahr für Jahr die Massen in die Kinos lockten – Quo
Vadis, The Ten Commandments, Ben-Hur –, und ihr
geradezu fanatisch inbrünstiges Verneigen vor christlich-jüdischer
Dogmatik eine zweifelhafte Aura. Allein schon deshalb zeichnet sich
Darren Aronofskys Noah als lobenswert originelle Kinoadaption
einer alttestamentarischen Sage aus: Für Aronofsky, Enfant terrible
des mehrheitsfähigen US-Kunstfilms und Praktizierer eines persönlich
gestalteten New-Age-Spiritualismus, ist die Bibel eine
Fantasy-Parallelwelt, welche sich nach Belieben dehnen und
ausschmücken lässt.
Seine Interpretation der Sintflut, die ein mit seiner Schöpfung
desillusionierter Gott ("The Creator") entsendet, um alle
und alles ausser Noah (Russell Crowe), seine Familie und "alles,
was kreucht und fleucht", auszulöschen, ist bar jeglicher
Historizität; die Kontinente, wie sie hier zu sehen sind, sind zu
einem fiktiven Pangäa verschmolzen, dessen Realitätsanspruch nicht
höher als derjenige von J. R. R. Tolkiens Mittelerde ist. Die
virtuose Sequenz, in der Noah die biblische Schöpfungsgeschichte
erzählt, während auf der Leinwand Urknall, Weltenbildung,
Zellteilung und darwinistische Evolution zu sehen sind, scheint die
Möglichkeit anzudeuten, dass der Film in einer
postapokalyptischen Zukunft spielt. (Es wäre nicht das erste Mal,
dass Aronofsky den dramaturgischen Clou im Vordergrund versteckt: The
Fountain, allenthalben als Zeitreise- oder Wiedergeburts-Narrativ
beschrieben, beschäftigt sich augenscheinlich mit dem Akt des
Schreibens.)
Noah (Russell Crowe) kämpft mit der Mission, die ihm der Schöpfer aufgetragen hat. © Paramount Pictures Corporation |
Überhaupt ist Noah ein Epos voller moralischer Grautöne, in
dem nicht nur Noah, sondern auch Gott selber keineswegs über alle
Zweifel erhaben sind. Während der Allmächtige, niemals mehr als ein
grelles Licht am Himmel, letztlich als launischer Rachegott
dargestellt wird, welcher jene Engel, die sich nach dem Sündenfall
Adams und Evas erbarmen und ihnen zu Hilfe eilen wollen, in steinerne
Golem-Ungeheuer verwandelt, finden Aronofsky und sein regelmässiger
Co-Autor Ari Handel (The Wrestler, Black Swan) in ihrer
Titelfigur einen spannenden Gewissenskonflikt. Noah ringt konstant
mit der ihm aufgebürdeten Mission, mit der Diskrepanz zwischen
blindem Glauben und freiem Willen, mit den "frevelnden"
Menschen, die unter Führung Tubal-Kains (Ray Winstone) einen Platz
auf der Arche verlangen, mit einer Familie, die sich zunehmend vor
dem fanatischen Propheten fürchtet, zu dem ihr Oberhaupt geworden
ist. In einem der am stärksten nachhallenden Momenten des Films
sitzen Noah, seine Frau Naameh (Jennifer Connelly), seine Söhne Ham
(Logan Lerman) – der verfluchte Stammvater Kanaans – Sem (Douglas
Booth) und Japhet (Leo McHugh Carroll) sowie seine Adoptivtichter Ila
(die schwache Emma Watson) in ihrem kruden Rechteck von einem Schiff
in Sicherheit, derweil von draussen eine überwältigende
Geräuschkulisse die gespannte Stille durchdringt: Wellen branden
gegen das Gebilde, der Regen prasselt darauf nieder, die dem
Verderben geweihten "Sünder" schreien ohne Unterlass.
"Alles, was kreucht und fleucht": Die unschuldigend Tiere sollen die Arche Noah füllen. © Paramount Pictures Corporation |
Aronofsky beschwört in seinem Film eine beeindruckende Atmosphäre,
die sich aus der unterschwellig gewichtigen Materie, dem makellosen
Tondesign, Clint Mansells modernistisch angehauchtem Musikscore sowie
den grandios komponierten, oftmals drastischen Bildern zusammensetzt.
Diese ist es auch, die Noah über seine zahlreichen Defizite
hinweg hievt; seine bemühenderen Passagen, die sich besonders in der
zweiten Hälfte zu häufen beginnen, sein stellenweise missglücktes
CGI, seine Stellen, in denen das Ganze zu sehr ins Esoterische
abzudriften droht. Selbst der Versuch, der Geschichte von der Arche
Noah, welche in der Genesis lediglich drei Kapitel einnimmt, durch
die Familienverhältnisse seines Protagonisten zusätzliche Tiefe zu
verliehen, stösst bisweilen an seine Grenzen. Noahs Sinnkrise,
welche darin mündet, dass er die gesamte Menschheit ausgelöscht
sehen will, einschliesslich seiner neu geborenen Enkel, ist eine
passende Parabel auf die Crux des – wie bei Ingmar Bergman –
schweigenden Gottes; derweil Hams Verführung durch Tubal-Kain, ein
unterentwickelter Subplot, dem eh schon überladenen Film nicht viel
mehr zu geben vermag als eine unnötige Action-Klimax.
Inwieweit das Produkt, welches derzeit in den Kinos zu sehen ist,
wirklich Aronofskys Vision entspricht, bleibt letztendlich offen.
Mindestens viermal wurde Noah neu geschnitten, bevor ein
Testpublikum sich damit anfreunden konnte; Sequenzen, welche Anhänger
abrahamitischer Religionen erzürnen könnten, blieben ohnehin im
Schneideraum liegen. Man darf gespannt sein, wie viele "Director's
Cut"-Fassungen des Films in den kommenden Jahren die
Runde machen werden. Für den Moment lässt sich konstatieren: Noah
ist eine prächtig unvollkommene Sonderbarkeit im Werk eines
Visionärs.
★★★
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