Es ist ein fulminantes englischsprachiges Debüt, das der Südkoreaner
Bong Joon-ho mit Snowpiercer abliefert. Die
dystopisch-surrealistische Science-Fiction-Satire orientiert sich an
George Orwell und Terry Gilliam und trumpft mit Originalität,
Intelligenz und bisweilen wahnwitziger Radikalität auf.
Manche Regeln haben sich über die Jahre in den meisten Filmgenres
als Standards etabliert. Gehört etwa der Protagonist einer
revolutionären Bewegung an, dann ist diese vom Zuschauer als
ehrenhaft zu verstehen – es sei denn, sie entwickelt sich in eine
unlautere Richtung, woraufhin Figur wie Publikum sich von der
Bewegung, nicht aber vom Grundgedanken, abwenden. Moralisch zutiefst
verwerfliche Taten wie der Swift'sche Kannibalismus – das
Verspeisen von Kleinkindern – oder der gezielte, gewaltsame Tod
einer schwangeren Frau sind Vergehen, die, sofern sie überhaupt
vorkommen, den Schurken vorbehalten sind. Regisseur und Drehbuchautor
Bong Joon-ho, bekannt für Memories of Murder (2003) und den
Kaiju-Monster-Streifen The Host (2013), und Produzent Park
Chan-wook, der renommierte Filmemacher hinter der
berühmt-berüchtigten Vengeance-Trilogie (Sympathy for Mr.
Vengeance, Oldboy, Sympathy for Lady Vengeance),
lassen diese Regeln in ihrer Adaption des französischen Graphic
Novel Le Transperceneige nicht gelten; ihre Revolution ist
nicht glorios, ihre Helden assen einst anderer Leute Kinder, ein
Protagonist streckt eine schwer bewaffnete Schwangere per Wurfmesser
nieder.
Snowpiercer
ist ein unterschwellig perzeptives Stück Film voller Tabubrüche und
provokant-abstruser Momente. Angesiedelt im Jahr 2031 – die Umkehr
von seinem Erscheinungsjahr 2013, analog zu George Orwells 1948
verfasstem Roman 1984 –, handelt er vom Titel gebenden Zug,
der, seit 17 Jahre zuvor eine neue Eiszeit die Menschheit an den Rand
des Aussterbens gebracht hat, die wenigen Überlebenden rund um den
Globus transportiert, ohne jemals anzuhalten.Während im hinteren
Teil des kilometerlangen Gefährts die Arbeiterschicht in
menschenunwürdigen Verhältnissen leben, geniesst vorne, so erzählt
man sich, die herrschende Klasse ein Leben in Saus und Braus. Und
obwohl vergangene Revolutionen scheiterten, etwa unter der Führung
des alten Gilliam, gespielt von John Hurt – Hauptdarsteller in
Michael Radfords Orwell-Verfilmung Nineteen Eighty-Four – und
wohl benannt nach Terry Gilliam, Regisseur der bizarren
Kult-Orwell-Variation Brazil (1985), wird nun mit Curtis (Chris
Evans) an der Spitze ein neuer Versuch gestartet.
Die Menschheit lebt in einem Zug – und Curtis (Chris Evans) führt
die Revolution der benachteiligten "Hinterschicht" an.
© Ascot Elite
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Mit vereinten Kräften kämpft sich die unterdrückte Masse, darunter
auch Chris' Freunde Edgar (Jamie Bell) und Tanya (Octavia Spencer)
sowie der eigenbrötlerische Techniker Namgoong (Song Kang-ho) und
dessen Tochter (Go Ah-sung), voran, um sich an der tyrannischen
Ministerin Mason (die herrlich stimmig chargierende Tilda Swinton mit
schulmeisterlichem Yorkshire-Dialekt) zu rächen und die Lokomotive
einzunehmen, die sich unter der Kontrolle des von den begüterten
Passagieren vergötterten Wilford (Ed Harris, womöglich in einer
Rückbesinnung auf seine Rolle in The Truman Show) befindet.
Auf dem Weg dahin begegnen den Helden verrückte Wissenschaftler,
äxteschwingende Regierungstruppen – es entbrennt ein grandioser,
im ostasiatischen Stil inszenierter Kampf –, singende Schulkinder
und die drogenabhängige Zug-Bourgeoisie.
Doch der ästhetisch brillant realisierte Snowpiercer ist in
seinen politischen Ambitionen mehr als blosses Eisenstein'sches
Revolutionskino. Mit gnadenloser Schärfe hinterfragt Bong die
Nützlichkeit des marxistischen Klassenkampfs, indem er Curtis'
Rebellenzug eine korrumpierte Quelle und Wilford plausible Argumente
für seine Position andichtet. Veränderung, so das Fazit, ist nur
mit radikalem Wandel, mit einem abrupten Systemwechsel zu erreichen.
Realismus und Utopismus stehen sich gegenüber: Der Status quo ist
beklagenswert, aber stabil; die Alternative könnte ebenso gut im
Glück wie im Verderben enden. Wie dies zu lösen ist, überlässt
Bong, mit Hilfe seines minimalitisch expressiven Schlussbildes, der
Einschätzung des Zuschauers.
★★★★★
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