Der vielfach ausgezeichnete anglo-italienische Produzent Uberto
Pasolini (The Full Monty) erweist sich in seiner erst zweiten
Regiearbeit (nach Machan) auch als feinfühliger Filmemacher.
Auf sympathisch spartanische Art und Weise geht er in der
Charakterstudie Still Life die grossen Themen Leben und Tod an.
Gäbe es einen Preis für das beste Casting, dann dürfte man die
Besetzung von Eddie Marsan als Hauptdarsteller in Still Life
zum engeren Favoritenkreis zählen. Marsan ist ein altbekanntes
Gesicht im britischen und amerikanischen Kino; in Martin Scorseses Gangs of New York wirkte er mit, in Alejandro González
Iñárritus 21 Grams, für Mike Leigh agierte er in Vera
Drake und Happy-Go-Lucky; auch in Blockbustern wie V for
Vendetta, Hancock, War Horse, Snow White and the
Huntsman und Guy Ritchies Steampunk-Sherlock Holmes-Filmen
war er zu sehen. Doch berühmt ist er trotz dieser stattlichen
Karriere nicht – zu klein sind seine Auftritte, zu gedrungen seine
Statur, zu unauffällig sein Äusseres, um sich für die Rolle der
zentralen Figur zu empfehlen. Wie etwa ein Harry Dean Stanton fristet
er ein Nischendasein als Nebendarsteller; urplötzlich taucht er in
der Peripherie einer Einstellung auf; seine Momente im Rampenlicht
zeugen von grossem schauspielerischem Können, sind aber dazu
verdammt, eine Fussnote in der Ganzheit eines Films zu bleiben.
Und nun findet sich Marsan in einer Hauptrolle wieder, wie einst
Stanton in Wim Wenders' Paris, Texas (1984). Anstatt durch die
texanische Wüste bewegt er sich durch die Reihenhaus-Meilen der Home
Counties, reist nordwärts in die Industriezonen von Yorkshire, nach
Südwesten zu den Küstennestern von Cornwall. Als Beamter John May
kümmert er sich in Still Life um die Angelegenheiten von
Verstorbenen, für die sich keine Hinterbliebenen finden lassen. Er
durchforstet den Nachlass, schreibt personalisierte Trauerreden –
man fühlt sich an die leidenschaftlichen Briefe erinnert, die
Joaquin Phoenix in Her für andere Menschen verfasst –,
organisiert Beerdigungen. Wie Marsan am Rand der Szene, so ist John
am Rand der Gesellschaft zu finden. Immer wieder lässt Uberto
Pasolini ihn eiligen Schrittes durch das Bild huschen oder platziert
ihn so weit entfernt von der Mitte der Einstellung, dass er beinahe
im Off steht. Als der Gemeinderat beschliesst, Johns Stelle
einzusparen, sieht er sich unverhofft mit seinem letzten Fall
konfrontiert: In der schmuddeligen Wohnung seines ihm gänzlich
unbekannten Nachbarn findet er Hinweise auf dessen entfremdete
Familie, darunter dessen Tochter (Downton Abbey-Darstellerin
Joanne Froggatt), die er ausfindig zu machen versucht.
Der Beamte John May (Eddie Marsan) reist quer durch England, um die
Familie eines vereinsamten Verstorbenen ausfindig zu machen.
© filmcoopi
|
Wie es der Titel vermuten lässt, geht es Pasolinis Film weniger um
Plot als um das Schaffen von Atmosphäre, die Übersetzung von Johns
Lebenssituation in subtil poetisch angehauchte Bilder, viele von
ihnen genuine Stillleben. Mit der unaufdringlichen Menschlichkeit von
Mike Leigh und der minimalistischen Melancholie von Aki Kaurismäki –
dafür ohne Leighs optimistische Wärme und Kaurismäkis
lakonisch-ironische Brechung – beleuchtet Still Life die
Beziehung zwischen Leben und Tod. (Eine soziokulturelle Analyse
könnte in diesem exotiklosen Roadmovie, in dem John kreuz und quer
durch England tingelt, um die Verwandten seiner toten Klienten zu
finden, einen Kommentar auf ein halbes Jahrhundert der geografisch
mobilen Arbeiterklasse ausmachen.) Beerdigungen, Blumen und Elogen
werden wiederholt als Rituale identifiziert, von denen ein
Verstorbener nichts hat; derweil John in den Fotos seiner "Fälle"
seine wahren Seelenverwandten erkennt. Hätte Pasolini auf die
letzten fünf Minuten seines ebenso subtilen wie graziösen Films
verzichtet, wo er diesem ein eklatant unsubtiles, dramaturgisch
unnötiges Ende aufpfropft, wäre dem Cineasten ein echtes filmisches
Kleinod gelungen. So bleibt Still Life aber "nur" das
Meisterwerk des Eddie Marsan.
★★★★
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen