Donnerstag, 15. Mai 2014

Still Life

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


Der vielfach ausgezeichnete anglo-italienische Produzent Uberto Pasolini (The Full Monty) erweist sich in seiner erst zweiten Regiearbeit (nach Machan) auch als feinfühliger Filmemacher. Auf sympathisch spartanische Art und Weise geht er in der Charakterstudie Still Life die grossen Themen Leben und Tod an.

Gäbe es einen Preis für das beste Casting, dann dürfte man die Besetzung von Eddie Marsan als Hauptdarsteller in Still Life zum engeren Favoritenkreis zählen. Marsan ist ein altbekanntes Gesicht im britischen und amerikanischen Kino; in Martin Scorseses Gangs of New York wirkte er mit, in Alejandro González Iñárritus 21 Grams, für Mike Leigh agierte er in Vera Drake und Happy-Go-Lucky; auch in Blockbustern wie V for Vendetta, Hancock, War Horse, Snow White and the Huntsman und Guy Ritchies Steampunk-Sherlock Holmes-Filmen war er zu sehen. Doch berühmt ist er trotz dieser stattlichen Karriere nicht – zu klein sind seine Auftritte, zu gedrungen seine Statur, zu unauffällig sein Äusseres, um sich für die Rolle der zentralen Figur zu empfehlen. Wie etwa ein Harry Dean Stanton fristet er ein Nischendasein als Nebendarsteller; urplötzlich taucht er in der Peripherie einer Einstellung auf; seine Momente im Rampenlicht zeugen von grossem schauspielerischem Können, sind aber dazu verdammt, eine Fussnote in der Ganzheit eines Films zu bleiben.

Und nun findet sich Marsan in einer Hauptrolle wieder, wie einst Stanton in Wim Wenders' Paris, Texas (1984). Anstatt durch die texanische Wüste bewegt er sich durch die Reihenhaus-Meilen der Home Counties, reist nordwärts in die Industriezonen von Yorkshire, nach Südwesten zu den Küstennestern von Cornwall. Als Beamter John May kümmert er sich in Still Life um die Angelegenheiten von Verstorbenen, für die sich keine Hinterbliebenen finden lassen. Er durchforstet den Nachlass, schreibt personalisierte Trauerreden – man fühlt sich an die leidenschaftlichen Briefe erinnert, die Joaquin Phoenix in Her für andere Menschen verfasst –, organisiert Beerdigungen. Wie Marsan am Rand der Szene, so ist John am Rand der Gesellschaft zu finden. Immer wieder lässt Uberto Pasolini ihn eiligen Schrittes durch das Bild huschen oder platziert ihn so weit entfernt von der Mitte der Einstellung, dass er beinahe im Off steht. Als der Gemeinderat beschliesst, Johns Stelle einzusparen, sieht er sich unverhofft mit seinem letzten Fall konfrontiert: In der schmuddeligen Wohnung seines ihm gänzlich unbekannten Nachbarn findet er Hinweise auf dessen entfremdete Familie, darunter dessen Tochter (Downton Abbey-Darstellerin Joanne Froggatt), die er ausfindig zu machen versucht.

Der Beamte John May (Eddie Marsan) reist quer durch England, um die Familie eines vereinsamten Verstorbenen ausfindig zu machen.
 © filmcoopi
Wie es der Titel vermuten lässt, geht es Pasolinis Film weniger um Plot als um das Schaffen von Atmosphäre, die Übersetzung von Johns Lebenssituation in subtil poetisch angehauchte Bilder, viele von ihnen genuine Stillleben. Mit der unaufdringlichen Menschlichkeit von Mike Leigh und der minimalistischen Melancholie von Aki Kaurismäki – dafür ohne Leighs optimistische Wärme und Kaurismäkis lakonisch-ironische Brechung – beleuchtet Still Life die Beziehung zwischen Leben und Tod. (Eine soziokulturelle Analyse könnte in diesem exotiklosen Roadmovie, in dem John kreuz und quer durch England tingelt, um die Verwandten seiner toten Klienten zu finden, einen Kommentar auf ein halbes Jahrhundert der geografisch mobilen Arbeiterklasse ausmachen.) Beerdigungen, Blumen und Elogen werden wiederholt als Rituale identifiziert, von denen ein Verstorbener nichts hat; derweil John in den Fotos seiner "Fälle" seine wahren Seelenverwandten erkennt. Hätte Pasolini auf die letzten fünf Minuten seines ebenso subtilen wie graziösen Films verzichtet, wo er diesem ein eklatant unsubtiles, dramaturgisch unnötiges Ende aufpfropft, wäre dem Cineasten ein echtes filmisches Kleinod gelungen. So bleibt Still Life aber "nur" das Meisterwerk des Eddie Marsan.

★★★★

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