Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.
In seiner erst zweiten Regiearbeit wagt der britische Drehbuchautor
Steven Knight ein cineastisches Experiment: 85 Minuten dauert Locke, und sein Protagonist, gespielt vom herausragenden Tom
Hardy, verbringt die gesamte Laufzeit am Lenkrad eines Autos. Mit
simpelsten Mitteln vollbringt Knight Erstaunliches.
Dieser Film hat etwas Theaterhaftes an sich, eine bühnenartige
Künstlichkeit, was sich in minderwertigeren Arbeiten durchaus als
fatal erweisen könnte. Er beschreibt eine unglückliche Verkettung
von Zufällen, welche das eigentlich ordentlich geregelte Leben von
Ivan Locke (Hardy) ins Chaos – und letztendlich wohl in den
seelischen wie materiellen Ruin – treibt. Via Autotelefon geführte
Gespräche reihen sich in immer kürzer werdenden, ja geradezu
unnatürlich dicht gedrängten Abständen aneinander; dazwischen
kommentiert Ivan die Geschehnisse mit zunehmend verzweifelt wirkender
Sachlichkeit in mitunter nachgerade überhöhten Soliloquien. Doch
Steven Knight schafft es, sowohl mit Hilfe seines straffen Skripts
und seiner spartanischen Inszenierung als auch einer ausnahmslos
überzeugenden Besetzung, diese potentiellen Brecher der filmischen
Illusion nahtlos in seine durch und durch flüssige Erzählung
einzubetten. Machen einige Momente, einige Zeilen Dialog den leisen
Eindruck artifizieller Verkürzung, so ist das eine notwendige
Konzession an das – dramaturgisch wie qualitativ – überragende
Konzept.
Locke,
in seiner Intensität bisweilen an Steven Spielbergs Auto-Thriller Duel erinnernd, zeigt die Titel gebende Hauptfigur, wie sie am
Ende eines langen Arbeitstages in ihren BMW steigt und sich auf eine
schicksalhafte Reise begibt, an deren Ende der Fahrer, dessen Gesicht
dem Kinozuschauer erst offenbart wird, als er im Fahrersitz Platz
genommen hat, nicht mehr derselbe wie zuvor sein kann. Von einer
Odyssee kann hier kaum die Rede sein; Ivans Fahrt, praktisch in
Echtzeit gefilmt, führt ihn von seinem heimischen Birmingham
südostwärts nach London, weg von seiner Frau (Stimme: Ruth Wilson)
und seinen Söhnen (Stimmen: Tom Holland, Bill Milner), die sich auf
einen familiären Fussball-Fernsehabend mit Ehemann und Vater gefreut
hatten, hin zu jener einsamen Frau (Stimme: Olivia Colman), die Ivan
in einem kruden One-Night-Stand geschwängert hat und deren Wehen nun
rund zwei Monate zu früh eingesetzt haben. Mit diesem Fehltritt
riskiert Ivan nicht nur seine private, sondern auch seine berufliche
Existenz, denn sein überstürzter Aufbruch gen London bedeutet, dass
er, ein angesehener Baustellen-Vorarbeiter und Beton-Fachmann, am
darauf folgenden Tag beim komplizierten Fundament-Guss eines neuen
Hochhauses nicht anwesend sein kann – was seinen Vorgesetzten
(Stimme: Ben Daniels) und seinen Kollegen (Stimme: der grandiose
Andrew Scott, oft im selben Satz witzig und tragisch zugleich) in
helle Panik versetzt.
"Drive": Eine folgenschwere Entscheidung veranlasst Ivan Locke
(Tom Hardy), Birmingham in Richtung London zu verlassen.
© Impuls Pictures AG
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Wie auch über den Realismus des Geschehens liesse sich hier lange
über die Subtilität des Unterfangens diskutieren. Sätze wie "You
make one little mistake and the whole world comes crashing down" –
bezogen auf den Zement-Guss, aber unübersehbar im übertragenen
Sinne gemeint – oder Ivans Mantra "That is my decision" (eines
von vielen) stecken voller doppeldeutigen Symbolismus, der in weniger
kompetenten Händen wohl unerträglich schwerfällig gewirkt hätte.
(Eine spannende philosophische Analyse liesse sich wohl aus dem
sicherlich nicht zufällig entstandenen Namen des Protagonisten
gewinnen. Gerade zwischen dem Geburt-Subplot und John Lockes Thesen
zum freien, von allen äusseren Einflüssen unbelasteten Geist eines
neugeborenen Kindes scheint sich eine Verbindung aufzudrängen.) Doch
Knight und allen voran der ausgezeichnete Tom Hardy, dessen beinahe
walisischer Singsang-Dialekt in scharfem Kontrast zum schwer
wiegenden Ton der Handlung steht, setzen diesen hypothetischen
Gefahren eine veritable Tour de force der Erzählkunst und der
Figurenzeichnung entgegen, abgehandelt in klaustrophobischer, niemals
aber eintöniger Atmosphäre, die einen eineinhalb Stunden gebannt
auf die Leinwand starren lässt.
★★★★★