Donnerstag, 12. Juni 2014

Boyhood

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat. 

Richard Linklaters Boyhood bildet eine ganze Kindheit ab, von der Einschulung bis zum College-Eintritt. Zwölf Jahre nahm die Realisierung des Projekts in Anspruch; die Darsteller blieben durchgehend dieselben. Das Resultat ist ein faszinierendes soziokulturelles Zeitbild der USA nach 9/11.

Zu den Vorbildern des texanischen Regisseurs Richard Linklater zählen unter anderen der Japaner Yasujiro Ozu und der Franzose Robert Bresson, Meister der siebten Kunst, deren Filme nicht zuletzt durch ihre Nähe zum Leben und ihre tief greifende emotionale Kraft zu Klassikern geworden sind. In dieser Tradition bewegt sich auch Linklater: Sein Zweitwerk Slacker (1991) zeigte den ziellosen Alltag eines Bohémiens aus Austin; Dazed and Confused (1993) gilt als quintessentielles Werk über die Jugend in den späten Siebzigerjahren; sein wohl berühmtester Beitrag zur Filmgeschichte ist das Beziehungs-Triptychon Before Sunrise (1995), Before Sunset (2004) und Before Midnight (2013), in dem er zwei Liebende an verschiedenen Stationen ihres Lebens 90 Minuten lang Gespräche führen lässt.

Und nun hat seine Faszination mit dem realitätsnahen Abbilden des Lebens mit Boyhood einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Sieben Jahre alt war Ellar Coltrane, als Linklater ihn 2002 für die Hauptrolle in diesem Mammutprojekt castete; diesen Sommer feiert er seinen 20. Geburtstag. In den zwölf dazwischen liegenden Jahren traf sich Linklater immer wieder mit Coltrane und dem erweiterten Cast, um der Vita des Protagonisten Mason (Coltrane) einige weitere Kapitel hinzuzufügen. Über die Jahre wird er mit dem harten Schulalltag konfrontiert, zankt sich mit seiner älteren Schwester Samantha (Lorelei Linklater), erlebt die erste Liebe, macht Bekanntschaft mit Drogen und Alkohol. Auch an seinen getrennt lebenden Eltern geht die erste Dekade des 21. Jahrhunderts nicht spurlos vorbei: Während sich sein Vater Mason Sr. (Ethan Hawke) von einem unsteten Abenteurer in einen sesshaften, verantwortungsbewussteren Menschen entwickelt, gerät seine Mutter Olivia (Patricia Arquette), eine angehende Lehrerin, immer wieder an die falschen Männer, was die Familie zu zahlreichen Umzügen innerhalb von Texas zwingt.

Wie schon die magistrale Before-Reihe zeichnet sich der makellos fliessende Boyhood nicht in erster Linie durch eine markante ästhetische Gestaltung aus. Linklaters Kino setzt andere Akzente: Figurenzeichnung, hintersinniger Humor, dramaturgische Finessen, simpel-expressive Dialoge. Nicht selten sind hier Charaktere in einem ausgedehnten Zwiegespräch zu sehen, gefilmt in einer einzelnen langen Einstellung, sich über scheinbare Nebensächlichkeiten unterhaltend – Mason Sr. gibt seinem langsam das Pubertätsalter erreichenden Sohnemann Ratschläge, worüber er sich mit Mädchen unterhalten könnte; Mason Jr. tauscht sich mit einer Klassenkameradin über die Kleinstadt aus, in die er gezogen ist, was nach und nach in eine Anekdote über den Selbstmordversuch eines befreundeten Teenagers mündet. Einem stringenten Plot folgt der Film indes nicht; vielmehr werden hier Schlaglichter auf kleine und grosse Momente im Leben eines Mitte der Neunzigerjahre geborenen Kindes gerichtet – eine Kindheit im Zeitraffer.

"Where Are You Now, My Son?": Boyhood porträtiert die Kindheit von Mason (Ellar Coltrane).
© Universal Pictures Switzerland
Politik, Kultur und Gesellschaft spielen hier dementsprechend auch nur im Hintergrund eine Rolle; doch auch sie sind untrennbar mit der Geschichte von Masons Jugend verbunden. Trällert Samantha zu Beginn noch Britney Spears' "Oops!... I Did It Again", ist im weiteren Verlauf Gnarls Barkleys Electro-Soul-Hit "Crazy" zu hören; Mason Sr. hält Brandreden gegen George W. Bush und den Irakkkrieg und verteilt mit seinen Kindern im an sich urrepublikanischen Texas Obama-Plakate; Olivia steht symbolisch für Millionen allein erziehender Mütter, deren Kinder Zeugen werden, wie die klassisch-patriarchalischen Geschlechterrollen zerbröseln. Boyhood ist ein zugleich erhebendes und leise betrübliches Filmerlebnis voller Hoffnung und Melancholie. Man wird dazu animiert – man könnte auch sagen: gezwungen –, das letzte Jahrzehnt Revue passieren zu lassen, mit all seinen Hochs und Tiefs. Das ist der Film einer Generation. 

★★★★★

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