Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.
Die Filmproduktion von Singapur spielt im internationalen Vergleich
eine verschwindend kleine Rolle. Umso bemerkenswerter ist der Erfolg
der Tragikomödie Ilo Ilo, die 2013 in Cannes mit stehenden
Ovationen bedacht wurde. Darin beleuchtet Regisseur Anthony Chen
wirtschaftliche und familiäre Strukturen.
"The
only reason to make films that are a reflection on history is to talk
about the present". Dieser gemeinhin dem englischen Filmemacher und
Sozialisten Ken Loach (Kes, Riff-Raff) zugeschriebene
Satz bewahrheitet sich in Ilo Ilo einmal mehr. Chen erzählt
eine Geschichte aus dem Jahr 1997, als eine schwere Wirtschaftskrise
die dem Rest der Welt jahrelang so unverwundbar erschienenen
asiatischen Tiger-Ökonomien ins Schlingern brachte. Die
Arbeitslosenzahlen explodierten und mit ihnen die Selbstmordrate;
Menschen versuchten sich an riskanten Investitionen in eigene
Geschäftsideen; Laien gingen an die Börse, nur um dort noch das
letzte Hemd zu verlieren. Vergleiche mit der seit mehr als einem
halben Jahrzehnt andauernden globalen Rezession – welche erneut
auch vor Asien nicht Halt gemacht hat – liegen auf der Hand.
Es ist kein Zufall, dass Ilo Ilo in Singapur spielt: Der
Stadtstaat gehört zusammen mit Kuala Lumpur, Bangkok, Manila und
Jakarta zu den wichtigsten Finanzmetropolen Südostasiens, nicht
zuletzt dank seiner zentralen geografischen Lage; auf engstem Raum
prallen hier unzählige Ethnien, Kulturen und Sprachen aufeinander.
Neben Englisch ("Mein Chef spricht nur Englisch. Ein Snob")
fungiert Tagalog als Lingua Franca, eine Sprache, deren
Lehnwortschatz sich – unter anderem – aus Englisch, Chinesisch,
Japanisch, Arabisch, Hindi, Sanskrit und Malaiisch speist. Vor diesem
geradezu globalisierten Hintergrund entwirft Chen eine transnationale
Handlung voller Nuancen: Teresa (Angeli Bayani) ist von den
Philippinen nach Singapur gekommen, um sich eine geregelte Arbeit zu
suchen. Fündig wird sie beim berufstätigen Ehepaar Teck (Chen
Tianwen) und Hwee Leng (Yeo Yann Yann), welche sie als Haushälterin
und Kindermädchen für ihren widerborstigen Sohn Jiale (Koh Jia Ler)
einstellen.
Das philippinische Kindermädchen Teresa (Angeli Bayani) kümmert
sich in Singapur um den kleinen Jiale (Koh Jia Ler).
© trigon-film
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Zwar leidet Ilo Ilo über weite Strecken an seinen öfter mal
bemühend wirkenden Figuren, denen dramaturgisch allzu dienliche
Probleme, Spannungen und Sorgen angedichtet werden, welche sich
innerhalb eines einzigen offenen Gespräches klären liessen – Hwee
Lengs Misstrauen gegenüber Teresa, Jiales Abneigung gegen die neue
Nanny, Tecks Geheimniskrämerei, was seine Machenschaften und
Gewohnheiten angeht. Doch dies geschieht zugegebenermassen nicht ohne
Grund: Ähnlich wie Jia Zhangke in seinem wuchtigen Episodenfilm A
Touch of Sin zeigt Chen auf, wie tief sich ökonomische
Umwälzungen ins soziale Gefüge eingraben und dadurch
zwischenmenschliche Beziehungen korrumpiert werden.
Allerdings erinnert Chens Modus operandi hier weniger an den
verbittert-satirischen Stil Jias als an die frühen
sozialrealistischen Werke Ang Lees. Wie Eat Drink Man Woman
folgt Ilo Ilo einem weitgehend losen Plot, in dem die vier
Hauptakteure sich auf unterschiedliche Art und Weise mit den neuen
Begebenheiten zu arrangieren versuchen. Als besonders pointiert
erweisen sich in diesem Zusammenhang die Ressentiments, die Hwee Leng
der Immigrantin Teresa gegenüber hegt, die besser kocht, sich mit
Jiale auseinanderzusetzen weiss und, in einem hochgradig symbolischen
Bild, am Steuer eines stehen gebliebenen Autos sitzt, während Hwee
Leng, Teck und Jiale draussen anschieben. So handelt Ilo Ilo
auch von den interkulturellen Konflikten, die in Singapur, aller
Internationalität zum Trotz, nach wie vor schwelen – obschon es
gerade der Schmelztiegel-Charakter des Landes ist, der ihm zu einer
besseren Zukunft verhelfen könnte. Es ist schade, dass Chens
thematisch gewichtiger Film auf der emotionalen Ebene nur sporadisch
zu packen weiss.
★★★
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