Donnerstag, 19. Juni 2014

Ilo Ilo

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Die Filmproduktion von Singapur spielt im internationalen Vergleich eine verschwindend kleine Rolle. Umso bemerkenswerter ist der Erfolg der Tragikomödie Ilo Ilo, die 2013 in Cannes mit stehenden Ovationen bedacht wurde. Darin beleuchtet Regisseur Anthony Chen wirtschaftliche und familiäre Strukturen. 

"The only reason to make films that are a reflection on history is to talk about the present". Dieser gemeinhin dem englischen Filmemacher und Sozialisten Ken Loach (Kes, Riff-Raff) zugeschriebene Satz bewahrheitet sich in Ilo Ilo einmal mehr. Chen erzählt eine Geschichte aus dem Jahr 1997, als eine schwere Wirtschaftskrise die dem Rest der Welt jahrelang so unverwundbar erschienenen asiatischen Tiger-Ökonomien ins Schlingern brachte. Die Arbeitslosenzahlen explodierten und mit ihnen die Selbstmordrate; Menschen versuchten sich an riskanten Investitionen in eigene Geschäftsideen; Laien gingen an die Börse, nur um dort noch das letzte Hemd zu verlieren. Vergleiche mit der seit mehr als einem halben Jahrzehnt andauernden globalen Rezession – welche erneut auch vor Asien nicht Halt gemacht hat – liegen auf der Hand. 

Es ist kein Zufall, dass Ilo Ilo in Singapur spielt: Der Stadtstaat gehört zusammen mit Kuala Lumpur, Bangkok, Manila und Jakarta zu den wichtigsten Finanzmetropolen Südostasiens, nicht zuletzt dank seiner zentralen geografischen Lage; auf engstem Raum prallen hier unzählige Ethnien, Kulturen und Sprachen aufeinander. Neben Englisch ("Mein Chef spricht nur Englisch. Ein Snob") fungiert Tagalog als Lingua Franca, eine Sprache, deren Lehnwortschatz sich – unter anderem – aus Englisch, Chinesisch, Japanisch, Arabisch, Hindi, Sanskrit und Malaiisch speist. Vor diesem geradezu globalisierten Hintergrund entwirft Chen eine transnationale Handlung voller Nuancen: Teresa (Angeli Bayani) ist von den Philippinen nach Singapur gekommen, um sich eine geregelte Arbeit zu suchen. Fündig wird sie beim berufstätigen Ehepaar Teck (Chen Tianwen) und Hwee Leng (Yeo Yann Yann), welche sie als Haushälterin und Kindermädchen für ihren widerborstigen Sohn Jiale (Koh Jia Ler) einstellen. 
Das philippinische Kindermädchen Teresa (Angeli Bayani) kümmert sich in Singapur um den kleinen Jiale (Koh Jia Ler).
© trigon-film
Zwar leidet Ilo Ilo über weite Strecken an seinen öfter mal bemühend wirkenden Figuren, denen dramaturgisch allzu dienliche Probleme, Spannungen und Sorgen angedichtet werden, welche sich innerhalb eines einzigen offenen Gespräches klären liessen – Hwee Lengs Misstrauen gegenüber Teresa, Jiales Abneigung gegen die neue Nanny, Tecks Geheimniskrämerei, was seine Machenschaften und Gewohnheiten angeht. Doch dies geschieht zugegebenermassen nicht ohne Grund: Ähnlich wie Jia Zhangke in seinem wuchtigen Episodenfilm A Touch of Sin zeigt Chen auf, wie tief sich ökonomische Umwälzungen ins soziale Gefüge eingraben und dadurch zwischenmenschliche Beziehungen korrumpiert werden. 


Allerdings erinnert Chens Modus operandi hier weniger an den verbittert-satirischen Stil Jias als an die frühen sozialrealistischen Werke Ang Lees. Wie Eat Drink Man Woman folgt Ilo Ilo einem weitgehend losen Plot, in dem die vier Hauptakteure sich auf unterschiedliche Art und Weise mit den neuen Begebenheiten zu arrangieren versuchen. Als besonders pointiert erweisen sich in diesem Zusammenhang die Ressentiments, die Hwee Leng der Immigrantin Teresa gegenüber hegt, die besser kocht, sich mit Jiale auseinanderzusetzen weiss und, in einem hochgradig symbolischen Bild, am Steuer eines stehen gebliebenen Autos sitzt, während Hwee Leng, Teck und Jiale draussen anschieben. So handelt Ilo Ilo auch von den interkulturellen Konflikten, die in Singapur, aller Internationalität zum Trotz, nach wie vor schwelen – obschon es gerade der Schmelztiegel-Charakter des Landes ist, der ihm zu einer besseren Zukunft verhelfen könnte. Es ist schade, dass Chens thematisch gewichtiger Film auf der emotionalen Ebene nur sporadisch zu packen weiss.

★★★

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