Donnerstag, 31. Juli 2014

How to Train Your Dragon 2

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


Pixar-Rivale DreamWorks gelang 2010 mit dem begeisternden How to Train Your Dragon, einer sehr freien Adaption von Cressida Cowells gleichnamiger Buchreihe, ein qualitativer Meilenstein. Auch Teil zwei weiss zu gefallen, opfert den Tiefgang aber allzu oft dem vordergründigen und überhasteten Spektakel.

Seit es dem Teenager Hiccup (Stimme: Jay Baruchel) im ersten Film gelungen ist, die Bewohner seiner Heimat, der einsamen Wikinger-Insel Berk, davon zu überzeugen, dass Drachen keine Gefahr für sie darstellen und sich zu treuen Haus- und Reittieren domestizieren lassen, sind fünf Jahre vergangen. Der Franchisen-Titel How to Train Your Dragon hat an sich keine Gültigkeit mehr – die fliegenden, Feuer speienden Echsen sind gezähmt, Frieden ist im Reich von Häuptling Stoick (Gerard Butler) eingekehrt und Hiccup hat alle Zeit der Welt, mit seinem schwarzen Drachen Toothless neue Gestade zu erkunden. Dort findet Regisseur und Autor – eine seltene Kombination bei den Filmen der grossen Animationsstudios – Dean DeBlois (Co-Regisseur des Disney-Hits Lilo & Stitch) neue Gefahren: Der finstere Drago (grandios: Djimon Hounsou) schart eine Armee von Drachen um sich, der wohl auch das trutzige Berk nicht gewachsen wäre. Während Stoick dementsprechend das bewaffnete Réduit plant, will es Hiccup, inzwischen 20 Jahre alt, mit Diplomatie versuchen. Auf dem Weg zu Drago wird er jedoch von der Drachenzähmerin Valka (die hervorragende Cate Blanchett) abgefangen, die sich als seine tot geglaubte Mutter entpuppt.

Trotz mehrerer, ineinander verzahnter Handlungsstränge voller emotionaler Spannung reisst How to Train Your Dragon 2 kaum durch seine Plot-Konzeption mit, weniger noch als sein Vorgänger, der zum grössten Teil aus der Etablierung von Berk und dem Drachen-Bestiarium bestand. Knapp bis zur Hälfte widmet sich DeBlois der Exposition: Figuren werden eingeführt, Hintergründe erklärt, die nötigsten Brücken zum ersten Film geschlagen. (Detailliertere Informationen dazu finden sich angeblich in der Fernsehserie DreamWorks Dragons.) Und dennoch wirkt in Sachen Charaktermotivation und -konflikte in diesem Film vieles unterentwickelt, mitunter sogar irritierend verkürzt. Hiccup erholt sich zu schnell vom Schock, seiner Mutter zu begegnen; Dragos Plan bleibt stets unklar skizziert; die Differenzen Stoicks und Valkas werden zu leicht beiseite geschafft. Gelöst werden die aufgeworfenen Konflikte schlussendlich in zwei actionreichen Schlussakt-Schlachtszenen, deren Wendungen nicht alle restlos überzeugen.

Auf zu neuen Abenteuern: Hiccup (Stimme: Jay Baruchel) und sein Drache Toothless erforschen unbekannte Lande.
© 2014 Twentieth Century Fox Film Corporation
Doch mit Ausnahme einer deplatzierten, als komödiantische Ablenkung angelegten "Romanze" zwischen einer von Hiccups Kameradinnen und einem Ex-Schergen Dragos beweist auch der zweite Teil von DreamWorks' Drachen-Reihe, warum sie es – mehr noch als Shrek, Madagascar und Kung Fu Panda – verdient hat, zum Studio-Flaggschiff erkoren zu werden. Aus den Kinderbüchern von Cowell werden hier, trotz aller erzählerischer Vereinfachung, Geschichten gewonnen, die sich nicht selten durch ihre emotionale Reife und ihren Mut, düsterere Motive zu erkunden, auszeichnen. Wunderbar die anrührende Szene, in welcher der Film (fast) aller Kindlichkeit entsagt und Stoick und Valka ihr Hochzeitslied "For the Dancing and the Dreaming" – geschrieben vom irischen Celtic-Punker und Pogues-Bandleader Shane MacGowan (sein erster neuer Songtext seit mehr als einem Jahrzehnt) – anstimmen.

Nicht verändert hat sich das Pièce de résistance der Franchise: Auch How to Train Your Dragon 2 entstand mit der Hilfe von Kameramann Roger Deakins, dessen visuelle Beratung in den atemberaubend animierten Bildern mühelos erkennbar ist. Gerade die immer wieder an Meister Hayao Miyazaki erinnernden Flugsequenzen verleihen diesem Film die Portion Magie, die seine Handlung ein wenig vermissen lässt.

★★★

Donnerstag, 24. Juli 2014

Blue Ruin

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Mit Hilfe der Internet-Plattform Kickstarter ist es Regisseur, Autor und Kameramann Jeremy Saulnier gelungen, seinen neuesten Film fast ausschliesslich über Crowdfunding zu finanzieren. Das Resultat der innovativen Kampagne ist das archaische Rachedrama Blue Ruin.

Saulniers zweite Regiearbeit wirkt wie ein geistiger Verwandter von Jeff Nichols' Debüt, dem ausserhalb der USA kaum beachteten Arkansas-Familiendrama Shotgun Stories, welches, wie auch Saulniers Erstling, die Horrorkomödie Murder Party, 2007 erschien. Beide zeigen ein Amerika, das sich an die Visionen anlehnt, welche John Steinbeck und William Faulkner in ihren Romanen prägten – ein Amerika der Familienfehden, der Waffensammlungen und der Geister der Vergangenheit, die das Land unentwegt heimsuchen. Nichols' Film beeindruckte mit seiner dichten Atmosphäre, seinem düsteren Blick auf die geradezu biblischen Verhältnisse im Herzen der Vereinigten Staaten und mit dem Kunststück, die zentralen Konflikte so aufzulösen, dass – trotz des Titels – während der gesamten 90 Minuten Laufzeit nicht ein einziger Schuss fiel.

Blue Ruin übernimmt Stimmung und Subtext von Shotgun Stories, doch eine gewaltlose Beilegung ihrer Differenzen bleibt Saulniers Protagonisten nicht vergönnt. Vielmehr beleuchtet der Film die tragische Spirale der Gewalt, in die sie mit ihren alttestamentarischen Vorstellungen von Schuld und Sühne geraten (und der wohl auch Nichols' Figuren anheim gefallen wären, hätten sie jemals Gebrauch von ihren Flinten gemacht). Stein des Anstosses ist hier die Ermordung eines Ehepaars in den frühen Neunzigerjahren. Die mittlerweile erwachsenen Waisen Sam (Amy Hargreaves) und Dwight (Macon Blair – hervorragend) sind mit dem Trauma unterschiedlich umgegangen: Während Erstere zwei Kinder hat und einer einträglichen beruflichen Tätigkeit nachgeht, ist Letzterer ein bärtiger Landstreicher, der in seiner mobilen Rostlaube schläft und in Mülltonnen nach Essbarem sucht. Als der für den Mord an seinen Eltern verurteilte Wade Cleland aus dem Gefängnis entlassen wird, stellt Dwight ihm nach und bringt ihn um. Damit setzt er nicht nur sich selber, sondern auch Sam und ihre Töchter, dem Zorn des Cleland-Clans aus.

Der Rachefeldzug von Dwight (Macon Blair) führt ihn in eine fatale Spirale der Gewalt.
© Praesens Film
Anders als etwa dem atmosphärisch vergleichbaren Out of the Furnace fehlt Blue Ruin eine explizit als solche erkennbare politische Dimension. Saulnier erweist sich hier nicht als soziokulturell motivierter Chronist, sondern als überaus begabter Geschichtenerzähler in der Tradition von Hitchcock und Ford. Sein wortkarger Thriller lebt von der beklemmenden Stimmung, dem Gefühl, dass die Hauptfigur – welche nach dem Mord an Wade sich beinahe zur Unkenntlichkeit frisiert – jeden Moment von seinen Verfolgern gestellt werden könnte. Reisserisch oder unnötig blutrünstig wird der Film trotz diverser schockierend drastischer Gewaltmomente indes nie. Und auch die moralische Problematik des Rachegedankens lässt Saulnier nicht aussen vor: Im letzten Akt blättert Dwight nachgerade melancholisch durch ein Fotoalbum der Clelands, in dem Schnappschüsse von Angel-Ausflügen, Hauskatzen und spielenden Kindern zu sehen sind.

Untermalt wird die gekonnt aufgezogene Handlung von überzeugender Kameraarbeit, deren Subtilität aber immer wieder einem etwas aufdringlichen Blaufilter zum Opfer fällt; derweil sich das begrenzte Budget des Projekts besonders im bisweilen unsauberen Tonschnitt bemerkbar macht. Doch dies sind geringfügige Probleme in einem ansonsten hochklassigen Stück Erzählkino.

★★★★

Donnerstag, 17. Juli 2014

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Kleinere Unstimmigkeiten hindern zwar Neele Vollmars Kinderbuch-Verfilmung Rico, Oskar und die Tieferschatten an wahrer cineastischer Grösse; doch mit seinem verqueren Charme, "geerbt" von Kästner und Lindgren, schafft es der Film dennoch spielend, Klein und Gross zu unterhalten.

Rico (Anton Petzold) ist zehn Jahre alt und nach eigener Ansicht "tiefbegabt". Was das bedeutet, erklärt er dem Zuschauer nach einer hübsch animierten Einleitung gleich selber: Er denke viel nach, mehr als die meisten Leute, die ihn trotzdem gemeinhin für geistig minderbemittelt halten. Bei so vielen Gedanken, die wie Bingo-Kugeln in seinem Kopf herumrollen, kann es schon einmal vorkommen, dass sich der unternehmungslustige Berliner Junge nicht mehr an den Heimweg erinnert, auch wenn ihn nur noch ein Zebrastreifen von der eigenen Haustüre trennt.

Rund um dieses liebenswert exzentrische Kind und dessen Art, die Welt zu sehen, ist Andreas Steinhöfels 2008 veröffentlichter Bestseller Rico, Oskar und die Tieferschatten angelegt, ein Buch, das in einem nicht allzu weit von der Realität entfernten Deutschland spielt. Sowohl der Roman als auch Neele Vollmars werkgetreue Adaption handeln unter anderem von Kindesentführung und der prekären finanziellen Situation der unteren Mittelschicht. Ob sie 2000 Euro Lösegeld denn bezahlen könnte, die der "Schnäppchenentführer" Mister 2000, welcher derzeit in Berlin sein Unwesen treibt, für die von ihm gekidnappten Kinder verlangt, will Rico von seiner hingebungsvollen Mutter (Karoline Herfurth) wissen, die in einem Nachtclub einer nicht näher definierten Arbeit nachgeht. "Seh' ick so aus?", gibt diese trocken zurück. 

Das Berlin von Steinhöfel und Vollmar wirkt mit seinen schrägen Typen – Ekel Fitzke (Milan Peschel), Schnulzen-Fanatikerin Dahling (Ursela Monn), Hausmeister Marrak (Axel Prahl, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Slavoj Žižek aufweist), eine herrische Eisverkäuferin (Anke Engelke) –, mit seinen Yuppies (ein wunderbar gegen den Strich besetzter David Kross) und Hipstern, mit seinen Prostituierten und Stadtstreichern stellenweise wie die Kinderausgabe von Sven Regeners Vision der Bundeshauptstadt. Nicht selten erinnert es, gerade nachdem sich Rico mit dem achtjährigen Oskar (Juri Winkler), einem stets einen Helm tragenden, hochbegabten Sonderling, anfreundet, auch an jenes aus den Büchern Erich Kästners – Ricos Ermittlungen, als Oskar spurlos verschwindet, tragen unverkennbar Züge von Emil Tischbeins Berlin-Odyssee in Emil und die Detektive; sein strategisches Vorgehen wiederum evoziert die Abenteuer von Astrid Lindgrens jugendlichem Meisterdetektiv Kalle Blomqvist. 

Tief- und hochbegabt: Rico (Anton Petzold, mit Eiswaffel) und Oskar (Juri Winkler, mit Helm) werden dicke Freunde.
© 2014 Twentieth Century Fox Film Corporation.
Und wie schon Gerhard Lamprechts 1931 gedrehte Verfilmung des Kästner-Klassikers zeichnet sich auch Rico, Oskar und die Tieferschatten weniger durch die schauspielerischen Glanzleistungen seiner Darsteller – gerade Juri Winkler bekundet Mühe damit, seine Dialogzeilen natürlich wirken zu lassen – oder ästhetische Innovation aus als durch seine feine Darstellung davon, wie ein Kind die deutsche Weltstadt zu einer exakt verorteten Zeit erlebt. Diese immer wider aufblitzende Beobachtungsgabe von Vollmars Film entschuldigt auch für die Forrest Gump-Verklärung, die seinem Protagonisten zuteil wird. Dessen bedenkliche Absage an Oskars Intelligenz – "Deine Laune ist immer im Keller, weil du so schlau bist" – wird als tiefgründige Weisheit dargestellt, was dem ansonsten so sympathischen Film, der im Abspann bereits seine eigene Fortsetzung ankündigt, nicht gut zu Gesicht steht.

★★★

Donnerstag, 10. Juli 2014

Out of the Furnace

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat. 

Out of the Furnace ist im wahrsten Sinne des Wortes "grosses" Kino – grosse Namen, grossen Themen, grosse Emotionen. Im Milieu der gebeutelten Stahlindustrie Pennsylvanias zeichnet Scott Coopers zweiter Film ein düsteres amerikanisches Stimmungsbild. 

Vergleicht man Coopers neues Werk mit seinem Regiedebüt, dem mit zwei Oscars (Hauptdarsteller und Song) ausgezeichneten Musikdrama Crazy Heart (2009), fallen einem durchaus inhaltliche Ähnlichkeiten auf. Beide erzählen vom Niedergang einer Figur, einer Lebensart, eines Landes, von einer kathartischen Katastrophe, vom Versuch einer Erlösung. Jeff Bridges' Country-Sänger Otis "Bad" Blake tingelte in Crazy Heart durch Bowling-Bahnen, billige Spelunken und triste Bars; den Frust darüber, bei Grossanlässen zum Aufwärm-Akt degradiert worden zu sein, kontert er mit exzessivem Alkoholkonsum, der ihn an den Rand des physischen und mentalen Verderbens drängt. Out of the Furnace handelt vom verantwortungsbewussteren Russell (Christian Bale, nach seinem Schauspiel-Meisterstück in American Hustle mit einer dezenteren, aber keineswegs unterlegenen Darbietung), einem Stahlarbeiter aus dem grauen Industrie-Nest North Braddock, Pennsylvania, der versucht, seinem unsteten Bruder Rodney (Casey Affleck), einem traumatisierten Irakkriegs-Veteranen, ein geregeltes Leben schmackhaft zu machen. Doch das Schicksal will es anders: Das Stahlwerk steht vor der Schliessung; Russell baut einen Autounfall, wandert ins Gefängnis und verliert seine Freundin (Zoë Saldana) an einen Polizisten (Forest Whitaker); derweil Rodney seine halbmafiöse Vaterfigur (Willem Dafoe) dazu überredet, ihn in die finsteren Appalachen-Wälder New Jerseys zu schicken, um dort an den illegalen Strassenkämpfen des psychopathischen Harlan DeGroat (Woody Harrelson) teilzunehmen.

Doch obwohl sich dieser keinem klassischen dramatisch minutiös strukturierten Plot folgende Film – Russells Gefängnisstrafe etwa nimmt knapp 15 Minuten Laufzeit ein, bevor er wieder entlassen wird – narrativ Crazy Heart zu gleichen scheint, verbinden ihn stärkere Bande mit anderen Werken: Coopers Darstellung der dem Untergang geweihten Industrielandschaften des amerikanischen Nordostens evoziert David O. Russells fulminantes Boxerdrama The Fighter (2010); die Krise der US-Industrie und ihrer Arbeiter – welche stellvertretend für eine ganze Gesellschaft stehen – wurde im vergangenen Jahr auch von Alexander Payne in der magistralen Tragikomödie Nebraska beleuchtet; wie Andrew Dominiks prätentiöser Killing Them Softly benutzt Cooper den Wahlkampf 2008 als zeitlichen Hintergrund; den Topos der Hinterwäldler-Drogenszene kennt man aus Debra Graniks Winter's Bone (mit dem sich Out of the Furnace in Dickon Hinchliffe den Score-Komponisten teilt). Die nachgerade biblischen Familienverstrickungen im Zentrum der Erzählung wiederum erinnern an Derek Cianfrances eindrückliches Drama The Place Beyond the Pines; ebenso die atemberaubende natürliche Schönheit North Braddocks – bei Cianfrance war es Schenectady, New York –, konterkariert durch die rauchenden Kaminschlote und die menschlichen Verbrechen, welche hier in Szene gesetzt werden.

"Real Steel": Eine unglückliche Verkettung von Ereignissen zwingt Stahlarbeiter Russell (Christian Bale) dazu, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen.
© Ascot Elite
Explizite sozipolitische Kommentare behält sich Cooper allerdings vor. Sein Film bleibt stets im Parabelhaften verankert; er zeichnet sich primär durch seine getragene Atmosphäre und eine Art proletarische Schwermut aus. Rodney träumt davon, der eigenen Versehrtheit zu entfliehen; Russell versucht sich mit dem Verlust seiner Freundin zu arrangieren; auf einem Jagdausflug mit seinem Onkel (Sam Shepard) entsagt er der Gewalt, nur um später zu einem scheinbar kaltblütigen Rächer zu werden, wobei sich der Zuschauer dabei ertappt, innerlich diese Form der archaischen, westernartigen Selbstjustiz gut zu heissen. Von klaren Antworten auf die von ihm aufgeworfenen moralischen und emotionalen Probleme sieht Out of the Furnace weitgehend ab. Cooper belässt es dabei, diese Fragen stimmungsvoll und hochgradig ästhetisch in den Raum zu stellen. Zwar schafft es sein Film nicht ganz, einen zu einer tief greifenden Diskussion zu animieren, doch gebührt ihm Lob dafür, über die Grenzen einer in sich geschlossenen Erzählung hinaus zu denken.

★★★★

Donnerstag, 3. Juli 2014

Über-Ich und Du

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat. 

Einer Psychologie-Komödie, welche den Zuschauer seinen eigenen Verstand, oder wenigstens sein Humorverständnis, anzweifeln lässt, wohnt etwas anregend Ironisches inne. Der Filmgenuss profitiert davon aber nur begrenzt – die diffuse Causa von Benjamin Heisenbergs Über-Ich und Du.

Tatsächlich wirkt dieser kuriose Streifen streckenweise wie eines jener vertrackt-perfiden psychologischen Experimente, in denen die Probanden in einem Warteraum platziert werden, mit der Information, die Studie beginne jeden Augenblick – ohne zu ahnen, dass der Versuch darin besteht zu beobachten, wie die Wartenden reagieren, wenn sie immer wieder aufs Neue vertröstet werden. Weniger kafkaesk, dafür ähnlich frustrierend, geht es in Über-Ich und Du zu und her, einem Film über den Buchhehler Nick (Georg Friedrich), der sich als Haushaltshilfe beim pensionierten Star-Psychologen Curt Ledig (André Wilms) einnistet. Regisseur Heisenberg (Schläfer, Der Räuber) verkauft seinen Film als Komödie, doch die Bezeichnung mutet vermessen an. Das Problem ist nicht etwa, dass das vorhandene Witzmaterial nicht zu amüsieren wüsste; vielmehr erweist sich das Ganze als oftmals bemühende Geduldsprobe, ein scheinbar fruchtloses Warten auf den Versuch eines Witzes. Das von Heisenberg und Josef Lechner verfasste Drehbuch wirkt, als hätten die beiden vergessen, ihre Erzählung mit Gags anzureichern.

Natürlich gibt es Elemente, die sich grosszügig als Pointen bezeichnen liessen: die offenbar ansteckende Neurose Curts, Küchen nicht betreten zu können; seine innige Beziehung zu seinen Gehstöcken; die schweigsamen Schergen einer nebulösen Buch-Mafiosa (Maria Hofstätter), welche Nick ans Leder will; die ratlose Spiesser-Familie Ledig, die Nick nicht vertrauen mag; der unerklärliche Running Gag unablässig streitender Ballonfahrer. Kein einziges dieser Versatzstücke aber scheint einer erkennbaren Form von Humor zu folgen. Der Slapstick ist schlaff und bar jeglicher Energie, Wortwitz ist nirgendwo zu finden, die Absurditäten wie auch die Charakterkomödie scheitern an einer Handlung ohne feste Bezugspunkte, deren Exposition während des Vorspanns in einer überhasteten, letztlich verwirrenden Reihe von Telefonbeantworter-Nachrichten abgewickelt wird und deren Akteure bis zuletzt bestenfalls vage umrissen bleiben.

Therapie einmal anders: Psychologe Curt Ledig (André Wilms, rechts) verordnet dem Hehler Nick (Georg Friedrich) eine asketische Kur.
© Vega Film
So schafft es der Film auch nie, eine nachvollziehbare Dramaturgie aufzubauen. Stattdessen reihen sich Szenen in, wohlwollend ausgedrückt, gemessenem Tempo aneinander, welche man wohl Rorschach-Test-artig als Geschichte interpretieren sollte. Nicks Buchhändlerin, die auch seine Liebhaberin zu sein scheint, gerät irgendwann an die Antiquariats-Mafia; Curt und Nick ziehen sich zur Therapie in die Berge zurück, wo Letzterer sich zwei Tage lang bis zum Hals in die Erde eingraben lässt, während Ersterer vergnügt in sein Diktaphon hinein analysiert; ohne ersichtlichen Grund schalten sich die Ledigs zunehmend ins Geschehen ein; und als hätte sich Frauke Finsterwalders Möchtegern-Satire Finsterworld in Heisenbergs Werk eingeschlichen, dient Curts Nazi-Vergangenheit als schlussendlich hinfälliges Plot-Element.

Wären hier nicht die engagierten Darsteller Georg Friedrich und André Wilms am Werk, würde Über-Ich und Du wohl gänzlich ins Unerträgliche absacken. Zwar mag es keinem dieser beiden erstklassigen Mimen richtig gelingen, dem Skript legitime Lacher zu entlocken, doch ihre abgeklärte Präsenz ist Balsam in einer alles in allem stümperhaft aufgezogenen Komödie. Fazit: Ignorieren.

Mittwoch, 2. Juli 2014

Fruitvale Station

Zu einer Zeit, in der ein Spike Lee zusehends an Relevanz verliert und mehr mit kontroversen Äusserungen als mit Filmen für Diskussionsstoff sorgt, sieht man sich gezwungen, anderswo nach gewichtigen cineastischen Beiträgen zur Situation der schwarzen Bevölkerung im zeitgenössischen Amerika zu suchen. Lee Daniels konnte 2009 mit dem Coming-of-Age-Drama Precious auf sich aufmerksam machen, verspielte sich seinen Ruf aber mit den darauf folgenden Fehlschlägen The Paperboy und The Butler; 2011 verband Dee Rees' Pariah die Rassenthematik mit der Selbstfindung eines lesbischen Teenagers.

Mit Fruitvale Station ist dem erst 28-jährigen Ryan Coogler jedoch ein Werk gelungen, welches die ganze Bandbreite abdeckt, über die sich Lee in seinen besten Filmen – Do the Right Thing, Jungle Fever, Clockers – definiert: erzählerische Wucht, einen Hang zum harten, nicht selten an der Grenze zum Cinéma vérité wandelnden Sozialrealismus, eine implizite, polarisierende Parteilichkeit, die im Idealfall Ken Loachs Quasi-Manifeste evozieren.

Coogler diente ein realer Vorfall als Inspiration zu seinem Langspielfilm-Debüt als Regisseur und Drehbuchautor. In der Neujahrsnacht 2009 wurde der 22-jährige schwarze Familienvater Oscar Grant III an der Titel gebenden S-Bahn-Station in Oakland, Kalifornien, von Johannes Mehserle, einem Beamten der Bahnpolizei, erschossen, nachdem er und seine Freunde wegen eines im Zug entbrannten Streits dort festgehalten wurden. Mehserle gab später zu Protokoll, im Eifer des Gefechts seine Pistole mit seinem Taser verwechselt zu haben; er wurde wegen fahrlässiger Tötung zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt.

Der Fall führte an der US-Westküste zu schweren Protesten und Unruhen; die politischen Kommentatoren von links bis rechts verloren keine Zeit, Parallelen zu den berüchtigten Los Angeles Riots von 1992 zu ziehen, in denen sich die Wut über den Freispruch jener Polizisten entlud, welche den dunkelhäutigen Rodney King im März 1991 zusammengeschlagen hatten. Beide Ereignisse wurden als Ausdruck eines tief im amerikanischen Bewusstsein verankerten Rassismus rezipiert, deren Besonderheit nicht in ihnen selbst lag, sondern im Umstand, dass sie dank inoffiziellem Filmmaterial – ein Amateur-Filmer hielt Kings Peiniger auf VHS fest, derweil eine ganze Reihe von Zeugen-Handy-Videos nach Grants Tod ins Internet gelangten – einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden.

An Silvester 2008 versucht Oscar Grant III (Michael B. Jordan) sein Leben in den Griff zu bekommen.
© Ascot Elite

Anders als es bei Lee wohl der Fall gewesen wäre, wird dies in Fruitvale Station so nie explizit gesagt. Coogler belässt es bei feineren Arten des leitenden Kommentars, wie etwa in jener grandiosen Einstellung des losfahrenden Schicksalszuges, dessen unzählige Passagiere verschwommen vor der Kamera vorbei ziehen. Heerscharen von Menschen benutzten die Bahn an diesem Neujahrsmorgen, doch der Zuschauer weiss, spätestens seit der Eröffnungsszene des Films, welche eines der originalen Zeugen-Videos zeigt, dass diese Fahrt im Tod von Oscar Grant (Michael B. Jordan – grossartig) enden wird. Das Opfer ist – wieder einmal – ein Schwarzer, obschon der fatale Streit von einem weissen Gang-Mitglied angezettelt wurde. Coogler scheint andeuten zu wollen, dass der Ablauf der Dinge zu vorhersehbar ist, als dass noch von Zufall gesprochen werden könnte.

Bevor sich Fruitvale Station aber dem effektiven Fall widmet, versucht er, abseits des Archivmaterials, den letzten Tag im Leben des Oscar Grant zu rekonstruieren. Für Coogler ist Grant ein junger Kleinkrimineller auf dem Weg der Besserung; wie viel davon der Realität entspricht, ist ebenso unklar wie letztendlich unerheblich. Die Drogen, die er bis anhin verkauft hat, versenkt er im Pazifik; an einer Tankstelle kümmert er sich um einen streunenden Hund, welcher kurz darauf (ohne dramaturgische Dringlichkeit) überfahren wird; seiner Freundin Sophina (Melonie Diaz in einer Rolle, wie sie Rosie Perez vor 20 Jahren hätte spielen können) will er ein besserer Partner, seiner Tochter Tatiana (Ariana Neal) ein verantwortungsvollerer Vater sein; vor der abendlichen Silvester-Party feiert er mit der ganzen Familie den Geburtstag seiner Mutter (Octavia Spencer – herausragend).

"Fight the Power"? Oscar und seine Freunde werden in der Neujahrsnacht an der Oaklander Bahnstation Fruitvale von Polizisten, darunter Officer Caruso (Kevin Durand) festgehalten.
© Ascot Elite
Was man diesen ersten beiden Dritteln des Films ankreiden kann, ist ein Hang zur bisweilen allzu simpler Manipulation. Oscars väterliches Wettrennen mit Tatiana hätte auch ohne verklärende Zeitlupe zur übergreifenden Tragik von Fruitvale Station beigetragen; und es lässt sich darüber streiten, ob die dramatische Verkürzung, eine der Handy-Filmerinnen von Fruitvale schon früher auftreten zu lassen, wirklich nötig war. Doch Cooglers rohe Inszenierung – die mitunter an Dennis Hoppers Colors und David Ayers End of Watch angelehnt scheint –, unterstützt von seinem Drehbuch, in dem er ein makelloses Gespür für die Darstellung von Strassen-Slang beweist, sowie einem durchgehend auf Höchstniveau agierenden Cast, überzeugt auch angesichts solcher Unstimmigkeiten. Der Film erzählt während seiner ersten Stunde von einem ethnisch durchmischten Amerika, in dem klassische Distinktionen längst keine Gültigkeit mehr besitzen, in dem Oscar nicht von einem "bösen Weissen", sondern von einem rational argumentierenden Latino entlassen wird, in dem die gesellschaftlichen und ideologischen Gräben nicht primär zwischen Hautfarben, sondern Lohnsektoren klaffen.

So handelt Fruitvale Station auch von der Wohlstandsschere, die in Amerika den Ausbruch aus der Armut inzwischen beinahe verunmöglicht. Welche Rolle dabei der schwelende, nachhallende Rassismus spielt, beleuchtet Coogler im wuchtigen Schlussdrittel seines Debüts. Hier erhält die Handkamera eine nachgerade nervöse Bewegungsfreiheit; die zum Jahreswechsel nach San Francisco strömenden Menschenmassen verleihen den Szenen eine chaotische Unübersichtlichkeit, welche zunächst noch als utopische Harmonie zwischen Rassen und Klassen inszeniert wird – Oscars Freunde bringen mit Hilfe der Lautsprecher eines Wildfremden einen ganzen S-Bahn-Waggon mit ihrer Rap-Musik zum Tanzen.

"Do the Right Thing": Oscar wird die Neujahrsnacht nicht überleben.
© Ascot Elite
Doch das Unheil naht, wie so oft im libertarisch geprägten US-Kino, in Uniform: Oscar und seine Entourage werden in Fruitvale von den Polizisten Caruso (ein fantastischer Kurzauftritt Kevin Durands) und Ingram (Chad Michael Murray) gestellt; die Emotionen kochen über; der beschwichtigende Oscar wird zu Boden geworfen und angeschossen. Der Jünger des Amerikanischen Traums, dessen Vorsatz zu Neujahr es war, neu anzufangen, wird gewaltsam am Erreichen dieses Ziels gehindert. Grund dafür war ein Fall von menschenunwürdigem Racial Profiling; das Resultat ist eine weitere Familie ohne Vaterfigur, "another one of those broken homes", wie Gil Scott-Heron sie 2011 auf seinem letzten Album besang. Im Moment des Todesschusses konzentriert sich Coogler in einer brillanten Bilderreihe auf Nahaufnahmen der Akteure: Oscar ist gezeichnet von Überraschung statt Schmerz; Schütze Ingram und vor allem Caruso, welche kurz zuvor noch auf ihre Gefangenen eingetreten haben, steht eine Mischung aus Schock, Verzweiflung, Verwirrung und Angst ins Gesicht geschrieben, ein Unglauben über die eigene Tat. Fruitvale Station ist eine Chronik des Chaos, welche die moderne amerikanische Gesellschaft prägt – wo sich vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Malaise unterschwelliger Rassismus und eine gefährliche Unsicherheit über die eigene Identität die Hand reichen.

★★★★