Zu einer Zeit, in der ein Spike Lee zusehends an Relevanz verliert
und mehr mit kontroversen Äusserungen als mit Filmen für
Diskussionsstoff sorgt, sieht man sich gezwungen, anderswo nach
gewichtigen cineastischen Beiträgen zur Situation der schwarzen
Bevölkerung im zeitgenössischen Amerika zu suchen. Lee Daniels
konnte 2009 mit dem Coming-of-Age-Drama Precious auf sich
aufmerksam machen, verspielte sich seinen Ruf aber mit den darauf
folgenden Fehlschlägen The Paperboy und The Butler;
2011 verband Dee Rees' Pariah die Rassenthematik mit der
Selbstfindung eines lesbischen Teenagers.
Mit Fruitvale Station ist dem erst 28-jährigen Ryan Coogler
jedoch ein Werk gelungen, welches die ganze Bandbreite abdeckt, über
die sich Lee in seinen besten Filmen – Do the Right Thing,
Jungle Fever, Clockers – definiert: erzählerische
Wucht, einen Hang zum harten, nicht selten an der Grenze zum Cinéma
vérité wandelnden Sozialrealismus, eine implizite, polarisierende
Parteilichkeit, die im Idealfall Ken Loachs Quasi-Manifeste
evozieren.
Coogler diente ein realer Vorfall als Inspiration zu seinem
Langspielfilm-Debüt als Regisseur und Drehbuchautor. In der
Neujahrsnacht 2009 wurde der 22-jährige schwarze Familienvater Oscar
Grant III an der Titel gebenden S-Bahn-Station in Oakland,
Kalifornien, von Johannes Mehserle, einem Beamten der Bahnpolizei,
erschossen, nachdem er und seine Freunde wegen eines im Zug
entbrannten Streits dort festgehalten wurden. Mehserle gab später zu
Protokoll, im Eifer des Gefechts seine Pistole mit seinem Taser
verwechselt zu haben; er wurde wegen fahrlässiger Tötung zu einer
zweijährigen Haftstrafe verurteilt.
Der Fall führte an der US-Westküste zu schweren Protesten und
Unruhen; die politischen Kommentatoren von links bis rechts verloren
keine Zeit, Parallelen zu den berüchtigten Los Angeles Riots von
1992 zu ziehen, in denen sich die Wut über den Freispruch jener
Polizisten entlud, welche den dunkelhäutigen Rodney King im März
1991 zusammengeschlagen hatten. Beide Ereignisse wurden als Ausdruck
eines tief im amerikanischen Bewusstsein verankerten Rassismus
rezipiert, deren Besonderheit nicht in ihnen selbst lag, sondern im
Umstand, dass sie dank inoffiziellem Filmmaterial – ein
Amateur-Filmer hielt Kings Peiniger auf VHS fest, derweil eine ganze
Reihe von Zeugen-Handy-Videos nach Grants Tod ins Internet gelangten
– einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden.
An Silvester 2008 versucht Oscar Grant III (Michael B. Jordan) sein Leben in den Griff zu bekommen. © Ascot Elite |
Anders als es bei Lee wohl der Fall gewesen wäre, wird dies in
Fruitvale Station so nie explizit gesagt. Coogler belässt es
bei feineren Arten des leitenden Kommentars, wie etwa in jener
grandiosen Einstellung des losfahrenden Schicksalszuges, dessen
unzählige Passagiere verschwommen vor der Kamera vorbei ziehen.
Heerscharen von Menschen benutzten die Bahn an diesem Neujahrsmorgen,
doch der Zuschauer weiss, spätestens seit der Eröffnungsszene des
Films, welche eines der originalen Zeugen-Videos zeigt, dass diese
Fahrt im Tod von Oscar Grant (Michael B. Jordan – grossartig) enden
wird. Das Opfer ist – wieder einmal – ein Schwarzer, obschon der
fatale Streit von einem weissen Gang-Mitglied angezettelt wurde.
Coogler scheint andeuten zu wollen, dass der Ablauf der Dinge zu
vorhersehbar ist, als dass noch von Zufall gesprochen werden könnte.
Bevor sich Fruitvale Station aber dem effektiven Fall widmet,
versucht er, abseits des Archivmaterials, den letzten Tag im Leben
des Oscar Grant zu rekonstruieren. Für Coogler ist Grant ein junger
Kleinkrimineller auf dem Weg der Besserung; wie viel davon der
Realität entspricht, ist ebenso unklar wie letztendlich unerheblich.
Die Drogen, die er bis anhin verkauft hat, versenkt er im Pazifik; an
einer Tankstelle kümmert er sich um einen streunenden Hund, welcher
kurz darauf (ohne dramaturgische Dringlichkeit) überfahren wird;
seiner Freundin Sophina (Melonie Diaz in einer Rolle, wie sie Rosie
Perez vor 20 Jahren hätte spielen können) will er ein besserer
Partner, seiner Tochter Tatiana (Ariana Neal) ein
verantwortungsvollerer Vater sein; vor der abendlichen
Silvester-Party feiert er mit der ganzen Familie den Geburtstag
seiner Mutter (Octavia Spencer – herausragend).
"Fight the Power"? Oscar und seine Freunde werden in der Neujahrsnacht an der Oaklander Bahnstation Fruitvale von Polizisten, darunter Officer Caruso (Kevin Durand) festgehalten. © Ascot Elite |
Was man diesen ersten beiden Dritteln des Films ankreiden kann, ist
ein Hang zur bisweilen allzu simpler Manipulation. Oscars väterliches
Wettrennen mit Tatiana hätte auch ohne verklärende Zeitlupe zur
übergreifenden Tragik von Fruitvale Station beigetragen; und
es lässt sich darüber streiten, ob die dramatische Verkürzung,
eine der Handy-Filmerinnen von Fruitvale schon früher auftreten zu
lassen, wirklich nötig war. Doch Cooglers rohe Inszenierung – die
mitunter an Dennis Hoppers Colors und David Ayers End of
Watch angelehnt scheint –, unterstützt von seinem Drehbuch, in
dem er ein makelloses Gespür für die Darstellung von Strassen-Slang
beweist, sowie einem durchgehend auf Höchstniveau agierenden Cast,
überzeugt auch angesichts solcher Unstimmigkeiten. Der Film erzählt
während seiner ersten Stunde von einem ethnisch durchmischten
Amerika, in dem klassische Distinktionen längst keine Gültigkeit
mehr besitzen, in dem Oscar nicht von einem "bösen Weissen",
sondern von einem rational argumentierenden Latino entlassen wird, in
dem die gesellschaftlichen und ideologischen Gräben nicht primär
zwischen Hautfarben, sondern Lohnsektoren klaffen.
So handelt Fruitvale Station auch von der Wohlstandsschere,
die in Amerika den Ausbruch aus der Armut inzwischen beinahe
verunmöglicht. Welche Rolle dabei der schwelende, nachhallende
Rassismus spielt, beleuchtet Coogler im wuchtigen Schlussdrittel
seines Debüts. Hier erhält die Handkamera eine nachgerade nervöse
Bewegungsfreiheit; die zum Jahreswechsel nach San Francisco
strömenden Menschenmassen verleihen den Szenen eine chaotische
Unübersichtlichkeit, welche zunächst noch als utopische Harmonie
zwischen Rassen und Klassen inszeniert wird – Oscars Freunde
bringen mit Hilfe der Lautsprecher eines Wildfremden einen ganzen
S-Bahn-Waggon mit ihrer Rap-Musik zum Tanzen.
"Do the Right Thing": Oscar wird die Neujahrsnacht nicht überleben. © Ascot Elite |
Doch das Unheil naht, wie so oft im libertarisch geprägten US-Kino,
in Uniform: Oscar und seine Entourage werden in Fruitvale von den
Polizisten Caruso (ein fantastischer Kurzauftritt Kevin Durands) und
Ingram (Chad Michael Murray) gestellt; die Emotionen kochen über;
der beschwichtigende Oscar wird zu Boden geworfen und angeschossen.
Der Jünger des Amerikanischen Traums, dessen Vorsatz zu Neujahr es
war, neu anzufangen, wird gewaltsam am Erreichen dieses Ziels
gehindert. Grund dafür war ein Fall von menschenunwürdigem Racial
Profiling; das Resultat ist eine weitere Familie ohne Vaterfigur,
"another one of those broken homes", wie Gil Scott-Heron
sie 2011 auf seinem letzten Album besang. Im Moment des Todesschusses
konzentriert sich Coogler in einer brillanten Bilderreihe auf
Nahaufnahmen der Akteure: Oscar ist gezeichnet von Überraschung
statt Schmerz; Schütze Ingram und vor allem Caruso, welche kurz
zuvor noch auf ihre Gefangenen eingetreten haben, steht eine Mischung
aus Schock, Verzweiflung, Verwirrung und Angst ins Gesicht
geschrieben, ein Unglauben über die eigene Tat. Fruitvale Station
ist eine Chronik des Chaos, welche die moderne amerikanische
Gesellschaft prägt – wo sich vor dem Hintergrund der
wirtschaftlichen Malaise unterschwelliger Rassismus und eine
gefährliche Unsicherheit über die eigene Identität die Hand
reichen.
★★★★
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