Auch mit 84 überrascht Schauspiel- und Regie-Veteran Clint Eastwood
weiter. Sein neuester Film, der auf einem Broadway-Jukebox-Musical
basiert, erzählt vom Werdegang der Popband The Four Seasons. Ganz
grosses Kino ist das vielleicht nicht, wohl aber ein anregendes Stück
Eastwood'scher Americana.
Was sich wie eine sichere, relativ konventionelle Hollywood-Affiche
anhört, wird unter der Ägide Clint Eastwoods – Sergio Leones Mann
ohne Namen, "Dirty" Harry Callahan, einer der wenigen
Leinwandstars, deren Erfolg hinter der Kamera mit dem davor
konkurrieren kann – zu einem kleinen Kuriosum. Rülpsende Nonnen,
die sich am Messwein gütlich tun, und ein bis zur Karikatur
überzeichneter homosexueller Plattenproduzent ("It was 1959.
People thought that Liberace was just a bit... theatrical")
bevölkern dieses musikalische Biopic, als wären sie einer jener
berühmt-berüchtigten Komödienpossen entsprungen, in denen sich
Eastwood und sein treuer Orang-Utan Clyde mit einer Horde trotteliger
Neonazi-Biker prügeln (Guilty-Pleasure-Geständnis: Unterhaltsam
sind sowohl Every Which Way But Loose als auch Any Which Way
You Can). Die hochkarätigen Kaugummi-Pop-Songs der Four Seasons
werden von den originalen Broadway-Darstellern vorgetragen. Es sind
aber nicht die allzu gleichförmig, ja brav inszenierten
Gesangseinlagen, die Eastwooods Verfilmung des Tony-Award-gekrönten
Musicals Jersey Boys zu einem lohnenswerten Erlebnis machen,
sondern vielmehr die an Martin Scorsese gemahnende Milieu-Zeichnung,
das Porträt der kleinen Leute hinter der Musik, die sich 1951 zu
einer Popgruppe zusammenschlossen, um aus der perspektivlosen
Tristesse der Immigranten-Armenviertel von Belleville, New Jersey,
auszubrechen. Die Alternativen, laut Bandgründer Tommy DeVito
(Vincent Piazza), wären lediglich die Armee ("You'd maybe get
killed") oder die Mafia ("You'd probably get killed") gewesen.
Zusammen mit Nick Massi (Michael Lomenda) und dem begabten
Falsetto-Sänger Francis Castelluccio (John Lloyd Young), welcher
sich später in Frankie Valli umbenennen wird, kämpft
Schmalspurganove Tommy unter dem Schutz von Mafioso Gyp DeCarlo
(Christopher Walken – seine exzentrische Sprechart einmal mehr ein
kleines surreales Meisterwerk) in den Fünfzigerjahren unermüdlich
für den Durchbruch seiner Band, wovon ihn auch die Tatsache nicht
abhält, dass er im örtlichen Knast Stammgast-Status geniesst. Die
Wende kommt für ihn, Frankie und Nick, als, unter Mithilfe des
jungen Joe Pesci (Joey Russo), Songschreiber Bob Gaudio (Eric Bergen)
zur Gruppe stösst – trotz Tommys Vorbehalten gegnüber dem "behütet aufgewachsenen Grünschnabel" (er stammt aus der New
Yorker Bronx). The Four Seasons werden als Backup-Band unter Vertrag
genommen, erarbeiten sich das Recht, vier Songs aufzunehmen, und
erobern schliesslich, zu Beginn der Sechzigerjahre, die USA im Sturm.
Jersey
Boys ähnelt in vielen Punkten Eastwoods unterbewertetem J.
Edgar, seiner stimmungsvollen Biografie des langjährigen
FBI-Tyrannen J. Edgar Hoover. Auch hier macht Kameramann Tom Stern
Gebrauch von grossartig stilisierter Beleuchtung und einer
ausgewaschenen, beinahe monochromen Farbpalette. Erneut gilt
Eastwoods Aufmerksamkeit der uramerikanischen Legenden- und
Ikonenbildung; im Stile von Scorseses GoodFellas sprechen die
Figuren oft direkt in die Kamera, um ihre eigenen Erinnerungen an
Aufstieg und Fall des Phänomens Four Seasons an den Mann zu bringen.
Dominiert zunächst noch Tommy die Handlung, reisst nach und nach
Frankie die Macht des Erzählers an sich – analog zu seiner
Entfremdung von seinem einstigen Freund. "Everybody needs to
remember it in his own way", meint Nick in einem Epilog (der, wie
schon vergleichbare Szenen in J. Edgar, durch mediokres
Alters-Makeup auffällt), wohl in Anlehnung an die alte John
Ford'sche Western-Weisheit, nach der die Legende das Primat über die
ohnehin niemals objektive Wahrheit haben sollte. Obwohl sicherlich
kein Hauptwerk Eastwoods, unterstreicht Jersey Boys dessen
Talent als Chronist amerikanischer Kulturgeschichte.
★★★
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