Donnerstag, 30. Oktober 2014

Class Enemy

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Der Slowene Rok Biček, 29, lotet in seinem ersten Langspielfilm aus, wo die Grenze zwischen emotionalem Versagen und moralischer Schuld liegt. Trotz begrenzter charakterlicher Tiefe liefert Class Enemy einen spannenden Blick auf die im Mikrokosmos Gymnasium herrschenden Dynamiken. 

Das erste Bild von Class Enemy zeigt die 17-jährige Sabina (Daša Cupevski), wie sie an ihrem Platz sitzt, alleine, umgeben von ihren schwatzenden Kameraden aus der Abschlussklasse einer slowenischen Mittelschule. Nicht allzu viel Zeit wird vergehen, bevor sich der Teenager das Leben nimmt und ihre Mitschüler im strengen Lehrer Robert Zupan (Igor Samobor) den Verantwortlichen ausmachen, welcher nach dem schwangerschaftsbedingten Ausscheiden der regulären Deutsch- und Klassenlehrerin Nuša (Maša Derganc) deren Amt übernommen hatte. "Wir vermissen ihr Lachen und ihre Energie", ist allenthalben in der Klasse zu hören; Zupan, der auch wegen seines Insistierens auf der Unterrichtssprache Deutsch bald einmal als "Nazi" beschimpft wird, habe mit seinem "Terror" Sabina "die Lebensfreude geraubt". Da aber dem Zuschauer gleich zu Beginn wohl die wahre Stellung gezeigt wird, die Sabina unter ihren Kollegen und Kolleginnen eingenommen hat – integriert, gemocht, aber wahrscheinlich nicht das Herz der Klassengemeinschaft –, muss er im Konflikt zwischen Schülern und Lehrer (und Rektorat) einen kritischen Blick walten lassen. Während Zupans kühle Distanziertheit sowie seine eher konfrontativen pädagogischen Methoden sicher nicht Musterbeispiele des korrekten Verhaltens, gerade in einer Ausnahmesituation, sind, ist auch die Reaktion seiner Schützlinge alles andere als gerechtfertigt.

Rok Biček, der sich thematisch auf den Spuren von Ilmar Raag (The Class), Laurent Cantet (Entre les murs) und Thomas Vinterberg (Jagten) bewegt, sieht im Selbstmord Sabinas ein Ereignis, welches bei allen Beteiligten die Frustration mit dem Alltag und Ressentiments gegenüber dem Schulbetrieb als solchem an die Oberfläche drängt. Für Tadej (Jan Zupančič), der gerne mit pubertärer Selbstüberzeugtheit über die "liberale, schwulenliebende slowenische Elite" herzieht, ist seine Klassenkameradin ein Opfer des notenorientierten Bildungssystems, vertreten durch Robert Zupan und Rektorin Zdenka (Nataša Barbara Gračner); Luka (Voranc Boh), dessen Mutter gerade erst verstorben ist, scheint sich unterbewusst an die Hoffnung zu klammern, dem Tod einen Sinn zu geben, indem er einen lebenden Schuldigen dafür finden kann; Nik (Jan Vrhovnik), so wirkt es, ist angetan von nichts Anderem als der blossen Idee der Rebellion. Und auf der Gegenseite steht Robert, der der Situation mit Humanismus und Rationalismus begegnen will – er behandelt Thomas Mann ("Der Tod eines Mannes ist eher eine Angelegenheit seiner Hinterbliebenen denn seine eigene") –, deswegen des Nazismus bezichtigt wird und sich so in seiner leicht arroganten Meinung über seine "undisziplinierte, unkonzentrierte, schwatzhafte" neue Klasse bestätigt sieht. 

Deutschlehrer Robert Zupan (Igor Samobor) wird nach dem Selbstmord einer Schülerin von seinen Schützlingen der Mitschuld bezichtigt.
© trigon-film
Biček navigiert während des Films elegant und neutral zwischen beiden Fronten hin und her, wenngleich man letzten Endes doch eher geneigt ist, mit Zupan, welcher von Igor Samobor vorzüglich interpretiert wird, zu sympathisieren – hauptsächlich deshalb, weil die Figurenzeichnung der Schülerschaft kaum über Stereotypen hinauszugehen vermag. Tadej ist die ernsthaft vorgetragene Karikatur eines Jungkonservativen; Luka steuert nicht viel mehr zur Geschichte bei, als wiederholt das Klassenzimmer zu verlassen; Nik ist der coole Musiker, Primož (Dan David Natlačen Mrevlje) der Streber, Špela (Špela Novak) die intrigante Zicke. (Noch schlimmer trifft es die Eltern eines chinesischstämmigen Schülers – einer Stimme der Vernunft –, welche lediglich der komödiantischen Auflockerung dienen.) Derartigen Misstönen zum Trotz ist Biček mit Class Enemy ein feinfühliges Psychodrama gelungen, das auf eine aussichtsreiche Regie-Zukunft hoffen lässt.

★★★★

Donnerstag, 23. Oktober 2014

We Are the Best!

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Drei Mädchen mit bübischen Haarschnitten wollen Anfang der Achtzigerjahre die Stockholmer Punk-Szene aufrütteln. Was verspricht, ein Coming-of-Age-Film der etwas anderen Art zu sein, enttäuscht letzten Endes die Erwartungen: Vor lauter jugendlichem Überschwang vernachlässigt We Are the Best! die Stringenz.

1982: Fünf Jahre sind seit der Veröffentlichung des Stil bildenden Sex-Pistols-Albums Never Mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols vergangen; zwei seit die Dead Kennedys ihr Debüt mit Fresh Fruit for Rotting Vegetables feierten; im Mai dieses Jahres bringen The Clash mit Combat Rock ihre zweitletzte LP heraus. Doch wer auf den Schulhöfen von Stockholm als cool gelten will, hängt sich keine Sid-Vicious-Plakate ins Zimmer und hört nicht mehr Punk-Eigengewächse wie KSMB oder Ebba Grön, sondern zieht sich hautenge Gymnastik-Anzüge an und tanzt zu den geistigen Erben ABBAs. Dabei machen die 13-jährigen Freundinnen Bobo (Mira Barkhammar) und Klara (Mira Grosin) aber nicht mit. Gelangweilt und frustriert von Schule und Familie, gründen die beiden – ohne jede Erfahrung mit Instrumenten – eine Mädchen-Punk-Band, deren erster Hit ein Hass-Song gegen den Sportunterricht sein soll. Um ihren Sound zu optimieren, bemühen sie sich darum, die Gitarrenspielerin Hedvig (Liv LeMoyne), die scheue, zurückhaltende Christin, für den Punk zu begeistern.

Die Figuren von We Are the Best! (schwedischer Originaltitel: Vi är bäst!) trifft keine Schuld, dass die Verfilmung von Coco Moodyssons Comic Never Goodnight durch ihren Ehemann Lukas (Fucking Åmål) keinen bleibenden Eindruck hinterlässt. Die sensible Bobo mit Kurzhaarfrisur und Drahtbrille, die wilde Klara mit Irokesenschnitt und zu grossen Holzfällerhemden und die vernünftige Hedvig, die sich nichtsdestoweniger über den Verlust ihres Engelshaars freut, sind dynamische Charaktere, die der Fantasie eines Erich Kästner hätten entspringen können, die in Cornelia Funkes Wilden Hühnern nicht fehl am Platz gewirkt hätten, mit denen sich Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf wohl bestens verstanden hätte. Selbst wenn das Drehbuch ihre Entwicklung im Schlussdrittel ein wenig ausser Acht lässt und einer überhasteten Liebesgeschichte – mit obligatem Konfliktpotential innerhalb des Trios – unterordnet, schimmert die wunderbare Menschlichkeit von den Jungmimen Barkhammar, Grosin und LeMoyne hindurch.

Es lebe der Punk! Klara (Mira Grosin, rechts), Bobo (Mira Barkhammar, Mitte) und Hedvig (Liv LeMoyne) gründen 1982 im ABBA liebenden Stockholm eine Punk-Band.
© Columbus Film SA
Doch leider irrt der Plot von Moodyssons Film mehr oder weniger ziellos umher. Die überwiegend mit einer rasant geführten Handkamera gefilmten Sequenzen, die Klara und Bobo beim Proben zeigen oder ihr frühpubertär angespanntes Verhältnis zum familiären Umfeld illustrieren, verlieren ihre Wirkung durch unablässige Wiederholung. Zwar mag der Stil die abrupten Wechsel zwischen jugendlicher Langeweile und rebellischem Enthusiasmus widerspiegeln; doch es fehlt die inhaltliche Varietät, um als Einheit zu überzeugen. Der klimaktische Auftritt in einer Västeråser Turnhalle mitsamt einem Punk-Tumult – obgleich ein amüsanter, erhebender Gründungsmythos für die angedeutete Zukunft der drei Rabaukinnen – wirkt hastig hinzu gedichtet und allzu märchenhaft arrangiert. Moodyssons fadenscheiniges Skript und repetitive Inszenierung werden letztlich allein durch die Präsenz seiner herausragenden Hauptdarstellerinnen aufgewertet. We Are the Best! ist eine ziemlich frustrierende Verschwendung von solidem Figurenmaterial.

★★

Montag, 20. Oktober 2014

The Maze Runner

© 2013 Twentieth Century Fox Film Corporation

★★★

"Sporting rather refined imagery – bar a slight overuse of a shaking handheld camera – and being noticeably grimmer and grittier in tone than many other YA adaptations of the recent past, the movie, quite miraculously, manages to somewhat counteract its glaring problems by offering perfectly serviceable entertainment."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Freitag, 17. Oktober 2014

Das grosse Museum

Das Museum ist eine Zeitblase, in dem sich die verschiedenen historischen Epochen die Hand reichen können – aber auch eine Institution der Gegenwart, die dem Besucher nur sehr eingeschränkte Sichten auf eine stilisierte und romantisierte Vergangenheit erlaubt. Es ist, wie Alexander Sokurov es in seinem Eremitage-Monument Russian Ark so elegant formuliert hat, eine Arche der Geschichte – aber auch ein Mausoleum, in dem die Errungenschaften anderer Zeiten weggeschlossen, konserviert, eingefroren werden. Seine gesellschaftliche Funktion wird wahlweise als Überwindung sozialer Unterschiede im Angesichte der Kunst sowie als Gegenüberstellung des Individuums mit seinen kulturellen Wurzeln beschrieben; Eisenstein argumentierte, der ideale Museumsbesuch fände alleine und bei Nacht statt.

Johannes Holzhausen lässt all diese widersprüchlichen Ansätze in seine Direct-Cinema-Dokumentation Das grosse Museum einfliessen und zeigt zugleich auf, dass dieser Nimbus des altehrwürdigen Kunst-Heterotopias ein hart erarbeiteter ist. Über zwei Jahre hat die Produktion des Films in Anspruch genommen; er kartografiert die Wiedereröffnung der habsburgischen Kunstkammer im Kunsthistorischen Museum Wien – in der jüngeren Vergangenheit von Arthouse-Filmern wie Lech Majewski (The Mill and the Cross) und Jem Cohen (Museum Hours) als Kulisse benutzt – vom Umbau bis zur offiziellen Gala-Einweihung.

Dazwischen ist Holzhausen mit seiner Kamera dabei, wie Deckenverzierungen aufgefrischt, Exponate restauriert und Parkettböden mit roher Gewalt aufgerissen und anschliessend neu verlegt werden, wie sich das Personal von Generaldirektorin und PR-Chef bis hin zur alt gedienten Raum-Aufseherin auf die neue Herausforderung vorbereitet. Trotz seiner ostentativ "neutralen" Verfahrensweise findet der Film gerade im bisweilen fast nonchalanten Umgang mit der Würde des Ortes Momente des feinen Humors: Hier ist eine Reinigungskraft mit einem Staubsauger im Schritt einer griechischen Statue zu Gange; dort jagt ein Angestellter auf der Suche nach einer Akte mit einem Kickboard durch das weitläufige Archivbüro. "Scheisse, Scheisse, Scheisse", murmelt ein junger Restaurator in breitem Wienerisch, als der Mechanismus eines ausgeklügelt automatisierten Modellschiffes aus dem 16. Jahrhundert zu klemmen scheint – bevor er es wenig später in seiner ganzen vergoldeten Pracht dem Direktor des British Museum vorführt.

Kunst muss leiden: Im Kunsthistorischen Museum in Wien wird umgebaut.
© Xenix Filmdistribution
In Das grosse Museum wird die Aussergewöhnlichkeit des KHM gleichzeitig herunter gebrochen und zementiert. Szenen, in denen in sterilen Sitzungszimmern über den Schriftsatz der neuesten Werbekampagne ("Die eckige Drei ist ein absolutes No-Go", "Mir gefällt das Wort 'gültig' nicht") oder die Umsatzrechnung ("Wir werden vom internationalen touristischen Publikum verglichen") debattiert wird, oder wo die KHM-Repräsentanten gezeigt werden, die während einer Auktion um ein die Sammlung vervollständigendes Verkaufsstück buhlen, haben etwas Ikonoklastisches. Indem dem Kinopublikum der fest im geschäftlichen Wettbewerbsalltag verankerte Kontext des Hauses bewusst wird, dessen Ausstellungsräume reichlich mit Werken von Rubens, van Eyck und Bruegel bestückt sind, geht zweifellos ein Stück der Gebäude-Mystik verloren.

Doch in dieser Entmystifizierung findet Holzhausen auch eine neue Art, sich der Kunst zu stellen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Dem Zuschauer wird ein neuer Blick auf jene Gegenstände gewährt, welche er sonst nur als unantastbare, in Glasvitrinen und hinter unsichtbaren Alarmauslösern verbarrikadierte Kostbarkeiten kennt; in Das grosse Museum werden sie fassbar, ja geradezu lebendig. Königskronen werden dem Ausstellungskontext entrissen, ihr Samtbezug auf Unreinheiten untersucht; Statuen verlieren vorübergehend ihren Kopf; in Gemälden werden die Grabungen mikroskopisch kleiner Käfer rekonstruiert. Dass der Kunstdiskurs auch hinter den Mauern des Kunsthistorischen Museums noch nicht abgeschlossen ist, belegt die Szene, in der zwei Kunsthistorikerinnen mit einem Emissär des belgischen Rubenianums darüber diskutieren, wie viel von Peter Paul Rubens tatsächlich in einem kleinen Bild steckt.

In der habsburgischen Kunstkammer werden zahllose Schätze ausgestellt. 
© Xenix Filmdistribution
Zwischen ästhetischem und menschlichem Inventar findet hier ohnehin eine Annäherung statt: Während die Kunstwerke im Laufe der Kunstkammer-Vorbereitung aus ihrer teils jahrhundertealten Starre gezerrt werden, ist das Museums-Management äusserst erpicht darauf, dass jeder Angestellte die "stilvolle und zeitlose" Institution, in deren Namen er arbeitet, perfekt widerspiegelt; die humane Präsenz soll zur Verlängerung des Gebäudes werden. Wer in den Ruhestand geht, wird selber zu einem Fall für die Archivierung: Die Arbeitsakte wird zu einer verschlossenen Mappe, welche im labyrinthischen Kellergewölbe des KHM, unweit Hunderter von nicht ausgestellten Objekten, in ein Regal eingeordnet wird. Ganz nach Eisenstein "verschmelzen" Mensch und Kunst miteinander.

Einziger Wermutstropfen in diesem faszinierenden Film ist die Tatsache, dass sich Holzhausen, wie es scheint implizit, mit fremden Federn schmückt. Nicht nur das übergreifende Konzept, sondern sogar spezifische Passagen von Das grosse Museum scheinen direkt aus Nicolas Philiberts La ville Louvre aus dem Jahr 1990 entlehnt zu sein. Auch dort wurde umgebaut; auch dort wurde vor an Wänden angelehnten Gemälden – stellenweise fast mit identischen Worten – über deren Inszenierung beraten; auch Philibert richtete die Kamera verschmitzt auf nervöse, leicht genervte Warentransporteure; auch er verwandelte die menschlichen Akteure zum Schluss in Exponate. Die nachhallendste Entsprechung ist diejenige von Holzhausens Kickboard-Bürohengst: Philibert (wenn auch mit verdächtig kontinuierlichem Schnitt) sah einem Louvre-Mitarbeiter dabei zu, wie er auf Rollschuhen durch die Gänge flitzte.

Das Museum – Mausoleum und Archiv.
© Xenix Filmdistribution
Das grosse Museum ist also ein verkapptes Remake. Holzhausen hat La ville Louvre nach eigener Angabe gesehen, doch das läge bald 20 Jahre zurück; sein Einfluss beschränke sich auf "nebulöse Erinnerungen". Die frappierende Ähnlichkeit der beiden Werke spricht aber – leider – eine andere Sprache. Kunst, das lässt sich in beiden feststellen, beruht auf inspirierenden Präzedenzen und auf Aneignungen, die längst nicht alle als proper bezeichnet werden können. Doch mindestens den Gefallen einer Erwähnung im Abspann oder auf der Film-Website hätte Holzhausen Philibert erweisen sollen. Da man nach einer solchen aber vergeblich sucht, hinterlässt sein ansonsten makelloser Film einen leicht bitteren Nachgeschmack.

★★★★

Donnerstag, 16. Oktober 2014

Get on Up

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat. 

Gut zehn Jahre, nachdem Musiker wie Ray Charles oder Johnny Cash auf gleiche Weise filmisch verewigt wurden, erweist Regisseur Tate Taylor der 2006 verstorbenen Funk-Soul-Legende James Brown dieselbe Ehre. Get on Up liefert ansprechende Unterhaltung im routinierten, gestandenen Biopic-Format. 

Als der 17-jährige, frisch inhaftierte James Brown, gespielt von Chadwick Boseman (welcher im vergangenen Jahr als Baseballspieler Jackie Robinson in 42 schon Erfahrung in der Rolle einer Bürgerrechtsikone sammeln konnte) nach einem Gefängnisaufruhr seine Auffassung von musikalischer Leidenschaft mit dem Gospel-Musiker Bobby Byrd (Nelsan Ellis), seinem späteren besten Freund, teilt, fällt der Satz: "You gotta fill the song with somethin', or it won't move nobody!" Er, der über Gospel und R 'n' B quasi eigenhändig den Funk erfand, verdientermassen zum "Godfather of Soul" stilisiert wurde und mit seinem unvergleichlichen Stil den Grundstein für Motown-Sound und schwarzen Hip-Hop legte, erfährt in Get on Up eine enzyklopädische biografische Behandlung, die, trotz erratisch-assoziativem Schnitt quer durch die Jahrzehnte, nach dem von Filmen wie Ray oder Walk the Line vorgegebenen (und von Jobs eben nur scheinbar unwiderruflich zerstörten) Biopic-Schema folgt. Tate Taylor (The Help) pflügt durch die wichtigen Stationen von Browns Vita – die ärmliche Kindheit in Mississippi und Georgia, seine vagabundenhaften Jugendjahre im rassistischen Süden, sein Einstieg ins Musikgeschäft, Werde- und Niedergang sowie die schlussendliche Erlösung – ohne jemals zwingend zu fesseln, zu "bewegen".


Das Publikum erhält lediglich kurze Einblicke in die soziokulturelle Bedeutung dieser überlebensgrossen Persönlichkeit, welche der Nachwelt unauslöschliche Hits wie "I Got You (I Feel Good)", "Please, Please, Please", "I Got the Feelin'" oder "Get Up (I Feel Like Being a) Sex Machine" hinterlassen hat: In Zusammenarbeit mit Manager Ben Bart (Dan Aykroyd in guter Form) und Produzent Syd Nathan (Fred Melamed – eine blosse Karikatur) erstritt er sich inmitten der turbulenten Sechzigerjahre geschäftliche Autonomie; am Tag nach der Ermordung Martin Luther Kings spielte er ein im Fernsehen übertragenes Konzert in Boston, wobei er praktisch im Alleingang einen Publikumskrawall – und mit ihm wohl dutzende weitere im ganzen Land – abwenden konnte, indem er an die Vernunft der schwarzen Bevölkerung appellierte. Eine der letzten Szenen des Films zeigt Brown und Byrd im Gespräch, während Byrds Swimming Pool für den Winter vorbereitet wird: "We've come a long way", sagt Brown, "white folks cleanin' our pool".

"I Got the Feelin'": Mit seinen Innovationen in Gospel und R 'n' B wird James Brown (Chadwick Boseman) zum legendären "Godfather of Soul".
© Universal Pictures Switzerland
Was dominiert, ist Browns Persona – seine nicht selten die Bandmitglieder überfordernde Spontaneität, seine unbändige Energie, die Boseman eindrücklich wiederzugeben weiss, sein gespaltenes Verhältnis zu den Frauen in seinem Leben, inklusive seiner Mutter (Viola Davis), sein Hang zu Tyrannei und Egomanie; je länger der Film, desto mehr häufen sich die Momente, in denen er von sich selber in der dritten Person spricht. Das alles mag untrennbar mit Brown verbunden sein, doch da Taylor den Fokus überwiegend auf derart alt bekannte Muster legt – Cash und Charles wurden in ihren jeweiligen Biopics mit ähnlichen Problemen konfrontiert –, greift der Film niemals tiefer als es solider Boulevardjournalismus zu tun pflegt.

Doch Get on Up wartet grosszügig mit mitreissend inszenierten Musikszenen, bisweilen zumindest ansatzweise anregenden Nebenfiguren – Höhepunkt: Brandon Mychal Smith als Little Richard – und äusserst wirkungsvollen Setdesigns auf, um mühelos zu unterhalten. Dass der Film 140 Minuten dauert, ist dank seines flotten Erzählrhythmus kaum zu bemerken. Der Godfather of Soul hätte wahrlich Besseres verdient, doch gegen diese kurzweilige Reise durch die amerikanischen Nachrkiegsjahrzehnte hätte wohl auch er nichts einzuwenden gehabt.

★★★

Dienstag, 14. Oktober 2014

The Double

Passend zu seinem Motiv – dem Identitätsverlust des Einzelnen in der Maschinerie des Alltags – ist Richard Ayoades The Double, frei adaptiert nach Fyodor Dostoyevskys gleichnamiger Novelle von 1846, ein Film, der geprägt ist von Pastiche. Ihm übel gesinnte Kommentatoren könnten gar argumentieren, dass Ayoade Originalität durch Hommagen ersetzt. 

The Double spielt in einer dystopischen Version der Achtzigerjahre; die niemals vollständig ausgeleuchtete, düster-industrielle Ausstattung, die den Charakteren keinen Ausbruch erlaubt, gemahnt an Michael Radfords Nineteen Eighty-Four und Terry Gilliams Brazil; ebenso das an sich futuristische, aber stets defekte technologische Arsenal, auf das Protagonist Simon James (Jesse Eisenberg), ein unscheinbarer junger Mann mit einem kaum definierten Beruf, Zugriff hat. Dass er von einem aus dem Nichts auftauchenden, selbstbewussten Doppelgänger, der sich James Simon nennt (Eisenberg zum Zweiten), aus dem Leben drängen lässt – er verliert die Gunst seines Vorgesetzten (Wallace Shawn) und die Hoffnung, seine heimliche Liebe (Mia Wasikowska) auf sich aufmerksam zu machen –, hat etwas Kafkaeskes. Die knappen, oft leicht verdrehten Dialoge evozieren Wes Anderson, dessen Einfluss sich bereits in Ayoades Erstling, der vergleichsweise linearen, obschon nicht minder skurrilen, Romanverfilmung Submarine bemerkbar machte.

Zwar verbindet The Double diese Inspirationspunkte zu einem eigenen Stil – Ayoade beweist einen ungemein ausgereiften Gestaltungswillen –, aber sie vermögen nicht, die zitierten Primärtexte gänzlich vergessen zu machen. Doch ist das überhaupt das Ziel? Die Frage lässt sich nicht schlüssig beantworten; allerdings scheint dieser Umstand durchaus kalkuliert, so dass The Double immer wieder wirkt, als wäre er in den Ruinen der Sets von Radford und Gilliam gedreht worden. Der Film wird heimgesucht vom Geist eines britischen Kinos der Vergangenheit, aus der Zeit des perspektivlosen Thatcherismus – eines britischen Kinos des subversiven Pessimismus.

Es sind diese Ideen, die Ayoade, eigentlich ein Verehrer der British New Wave, hier wieder aufgreift und mit einem Plot verbindet, in dem die Welt von einer schrillen Kopie (James) mehr angetan ist als vom stilleren, umsichtigeren, zurückhaltenderen Original (Simon). Grundsätzlich handelt es sich dabei um einen (anti-)kapitalistischen Diskurs: Wer sich verkaufen kann, wer ohne Skrupel die Schwächen Anderer auszunutzen weiss, kommt nicht nur finanziell, sondern auch zwischenmenschlich zum Erfolg; nicht das Was ist entscheidend, sondern das Wie. Simons erleichtertes "I like to think I'm pretty unique" zum Schluss sollte wohl cum grano salis genommen werden. So erhält die fundamentale Ähnlichkeit von The Double mit anderen bekannten Werken eine anregend selbstreflexive Dimension. Die belohnte Schein-Originalität von James spiegelt sich wider in Ayoades elegantem Spiel mit Einflüssen und Inspirationen.

"Same Same But Different": Der unscheinbare Simon James (Jesse Eisenberg) wird von einem mysteriösen Doppelgänger (Jesse Eisenberg) aus dem Leben gedrängt.
© Alcove Entertainment
Erzählerisch verhält sich die stilistisch virtuose Dostoyevsky-Adaption wie ein schwarzhumoriges Stimmungsbild. Sie strebt eine bedrückende, wenn auch absurd gebrochene (etwa durch Gastauftritte von Chris Morris und Chris O'Dowd, mit denen Ayoade in der Sitcom The IT Crowd agierte) Atmosphäre an, in der Satire und genuine Emotionen nur schwer voneinander zu unterscheiden sind. Legt eine Szene den Fokus auf die Beziehung zwischen Simon und Mia Wasikowskas Hannah, folgen meist zärtliche, sorgsam ausgearbeitete Austausche, doch der Film macht nie einen Hehl daraus, dass dieses Stück Wilder'scher Romantik nicht das Zentrum des Ganzen bildet.

In vielerlei Hinsicht wirkt der letztlich ausserordentlich betörende The Double wie ein notwendiger Schritt in Ayoades Selbstfindung als Regisseur, ein lobenswert eigensinnig realisiertes Experiment, in dem russische Literatur, britisches Kunstkino mit sozialkritischer Sensibilität und ein mit japanischsprachiger Popmusik reichlich bestückter in überraschender Harmonie zueinander finden. 

★★★★

Donnerstag, 9. Oktober 2014

Gone Girl

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Gillian Flynns Thriller-Bestseller Gone Girl hat in David Fincher (Fight Club, The Social Network) den idealen Regisseur gefunden. In seinen Händen wird der Stoff zu einer stilistischen Meisterleistung, einer kalten, zynischen Satire über die Abgründe im Amerika der Rezession.

Es ist kein Zufall, dass ein Film, welcher während seiner insgesamt zweieinhalbstündigen Laufzeit immer wieder an Werke Alfred Hitchcocks erinnert – vorab an Dial M for Murder (1954) und Psycho (1960) –, in der Diskussion jene Benimmregel voraussetzt, die "Hitch" von seinem Publikum regelmässig verlangte: "Don't give away the ending – it's the only one we have". Eine Rezension über Gone Girl, ein Film, der erzählerisch von seinen kleineren und grösseren Enthüllungen lebt, ist demnach verpflichtet, aus Rücksicht auf jene, welche sich Flynns Erfolgsroman (noch) nicht zu Gemüte geführt haben, in vage Euphemismen und skizzenhafte Plot-Erörterungen zu hüllen. Eine Orientierung über die Prämisse muss genügen: Am fünften Hochzeitstag von Nick (Ben Affleck) und Amy (Rosamund Pike) verschwindet Letztere spurlos. Die einzigen Hinweise, welche die Polizei, angeführt von Inspektorin Rhonda Boney (Kim Dickens), vorfindet, sind ein Blutfleckchen in der Küche, ein zerborstener Glastisch sowie das erste Rätsel der Schnitzeljagd, die Amy zum Jahrestag für Nick vorbereitet hat. Da Boney Nicks Verhalten und Anzeichen auf eine durch Geldsorgen zerrüttete Ehe zunehmend verdächtig erscheinen, rückt er bald ins Zentrum der Ermittlung; derweil die Medien ihn bereits als Frauenmörder verurteilt haben. Einzig seine Zwillingsschwester Margo (Carrie Coon) und sein Anwalt (Tyler Perry – wunderbar) halten noch zu ihm. 

Die Schwächen von Gone Girl, wenn man sie denn als solche bezeichnen will, sind im Grunde nichts anderes als bewährte Stilmittel im Kanon des David Fincher. Er operiert einmal mehr mit chirurgischer Präzision, seine Charaktere sind zu analysierende Objekte auf einem kalten Seziertisch; Empathie hat ihnen Fincher mit ganz wenigen Ausnahmen (Benjamin Button in The Curious Case of Benjamin Button, Eduardo Saverin in The Social Network) nie entgegen gebracht. Somit erweist sich der Versuch des Publikums, in den zutiefst unsympathischen Protagonisten Nick und Amy emotional ansprechende Identifikationsfiguren zu finden, als schier unlösbare Herausforderung. 

Ein Bild aus besseren Tagen: Nach fünf Jahren Ehe wird die Beziehung zwischen Nick (Ben Affleck) und Amy (Rosamund Pike) am Tiefpunkt angelangt und Amy verschwunden sein.
© 2014 Twentieth Century Fox Film Corporation
Doch das ist auch eines der faszinierenden Themen in diesem Film: Schein und Sein, die Macht der Sympathie, das Hinterfragen des eigenen Moralverständnisses. "I'm not a murderer", gibt Nick während eines Talkshow-Interviews zu Protokoll – in einer jener Sendungen, deren Moderatoren ohne handfeste Beweise hoffnungsvoll zu bedenken geben, dass am Ende der Ermittlung die Todesstrafe wartet –, "but that doesn't make me a good person". Abseits der Kriminalthriller-Versatzstücke, deren Anspruch auf Realismus – "Hitch" lässt grüssen – besonders gegen Ende bewusst nicht ausserorderntlich hoch liegt, beleuchten Fincher und Drehbuchautorin Flynn ein zerfallendes Mittelklasse-Amerika, das in der privaten und der öffentlichen Sphäre verlernt hat, ein aufrichtiges Gespräch zu führen. 

Dies ist spannend im Hitchcock'schen Sinne, wird aber erst durch die Form zu einem der besten Filme des Jahres. Die aus verschiedenen Perspektiven dargelegte Geschichte ist virtuos inszeniert; Kameramann Jeff Cronenweths düster-bedrohliche Kompositionen, mit denen er bereits Finchers The Girl with the Dragon Tattoo veredelte, erfüllen auch hier bestens ihren Zweck. Als formaler Höhepunkt sticht die schlicht atemberaubende Ambient-Musik von Trent Reznor und Atticus Ross heraus, welche den besten Szenen (Stichwort: Dame in Rot) zusätzliche Intensität verleiht. Die Sympathien in Gone Girl liegen weder bei Nick noch bei Amy; stattdessen liegen sie bei den magistralen Qualitäten des David Fincher. 

★★★★★

Donnerstag, 2. Oktober 2014

Calvary

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat. 

In seiner erst zweiten Regiearbeit, der schwarzen Tragikomödie Calvary, wandelt der Ire John Michael McDonagh auf den Pfaden von Buñuel, Bresson und Bergman. Seine Aufmerksamkeit gilt dem sisyphusartigen Kampf des guten Samariters gegen den Zynismus, den Undank und die Gleichgültigkeit seiner Mitmenschen.

Der Film beginnt denkbar drastisch: "I first tasted semen when I was seven years old", sagt eine Stimme im Off, verborgen hinter dem Trenngitter des von Father James Lavelle (Brendan Gleeson) besetzten Beichtstuhls in einer kleinen Kirche im ländlichen Nordwesten Irlands. Nach kurzem Zögern antwortet der Pfarrer: "That’s certainly a startling opening line". Einen Moment lang muss man befürchten, dass John Michael McDonagh im Anschluss an seinen Erstling, den grossartigen The Guard, denselben Weg wie sein Bruder Martin eingeschlagen haben könnte, der sich nach dem Erfolg von In Bruges ganz der cineastischen Meta-Spielerei hingegeben und mit Seven Psychopaths ein amüsant-selbstreflexives, letztlich aber doch enttäuschendes Zweitwerk abgeliefert hat. Doch mit Ausnahme dieser ersten Zeilen sowie eines späteren Dialogs über "third-act revelations" bleibt Calvary seinen Figuren und seinen durchaus ernsthaften Themen treu. 

Father James' Gespräch mit dem Unbekannten – eine herausragende Sequenz, gefilmt in einer einzigen starren Einstellung – endet mit der Drohung des als Kind von einem Pfarrer vergewaltigten Beichteablegers, am konsternierten James ein Exempel statuieren zu wollen: Stellvertretend für den inzwischen verstorbenen Peiniger und seinesgleichen soll er, das Musterbeispiel des guten Geistlichen, am kommenden Sonntag eines gewaltsamen Todes sterben. Anstatt die Polizei zu verständigen (Beichtgeheimnis!), stellt sich der von Brendan Gleeson unübertrefflich prägnant verkörperte James seinem Schicksal und macht es sich zur Aufgabe, sein Amt weiterhin mit der gebotenen Würde auszuüben. Die ihm verbleibende Woche, seinen ganz persönlichen Gang zum Kalvarienberg zu Golgata, verbringt er damit, seiner Gemeinde auf den Zahn zu fühlen, sich unter seinen Schäfchen umzuhören, um Näheres über ihre Affären und ihre krummen Geschäfte zu erfahren. rhält er Besuch von seiner depressiven Tochter Fiona (Kelly Reilly), die ihm noch immer nicht verziehen hat, dass er nach dem Tod seiner Frau die Priesterweihe seiner Vaterrolle vorzog.

"Diary of a County Sligo Priest": Der gute Pfarrer James (Brendan Gleeson) erhält eine Morddrohung.
© Ascot Elite Entertainment Group
McDonagh besinnt sich in seinem neuen Film auf die Tradition des spirituell angehauchten – nicht aber explizit religiösen – Kinos, das sich mit Fragen der Theodizee, des Glaubens, des selbst im Angesichte himmelschreienden Unrechts beharrlich schweigenden Gottes – eine Spezialität von Bergman und Dreyer –, des ewigen Wettstreits zwischen Gut und Böse auseinandersetzt. Wie der junge Landpfarrer in Robert Bressons Journal d'un curé de campagne oder der marginalisierte Padre Nazario in Luis Buñuels Nazarín ist Father James ein Fremder in der eigenen Gemeinde, welche kollektiv den Respekt vor seinem Stand verloren zu haben scheint – obschon er, der einstige Alkoholiker, die vielleicht einzige intakte Moralinstanz im Dorf stellt. (Vergleiche mit High Noon erscheinen ebenfalls angebracht.) Der Metzger (Chris O'Dowd) schlägt seine Frau, der Pub-Besitzer (Pat Shortt) will der Hochfinanz an den Kragen, der Automechaniker (Isaach de Bankolé) schwelgt in der Promiskuität, der amerikanische Schriftsteller (M. Emmet Walsh) sehnt sich nach einer Waffe, mit der er seinem Leben ein Ende setzen kann, der betuchte, dekadente Adlige (Dylan Moran) hat jeden Sinn für Werte verloren; dennoch ist es Father James, vor dem die Touristen panisch ihre Kinder in Sicherheit bringen. Und Gott sah, dass er gut war – schwieg und tat nichts.

Wie den Coen-Briüdern in ihrem unterbewerteten Meisterstück A Serious Man gelingt McDonagh hier die erzählerisch wie ästhetisch tadellose Balance zwischen abseitigem, grimmigem, schmerzhaftem Humor und der dezenten Behandlung zutiefst existenzieller Themen; Calvary ist zugleich vorzügliche Unterhaltung und intelligentes philosophisches Filmschaffen.

★★★★★