Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.
Der
Slowene Rok Biček, 29, lotet in seinem ersten Langspielfilm aus, wo
die Grenze zwischen emotionalem Versagen und moralischer Schuld
liegt. Trotz begrenzter charakterlicher Tiefe liefert Class Enemy
einen spannenden Blick auf die im Mikrokosmos Gymnasium herrschenden
Dynamiken.
Das
erste Bild von Class Enemy zeigt die 17-jährige Sabina (Daša
Cupevski), wie sie an ihrem Platz sitzt, alleine, umgeben von ihren
schwatzenden Kameraden aus der Abschlussklasse einer slowenischen
Mittelschule. Nicht allzu viel Zeit wird vergehen, bevor sich der
Teenager das Leben nimmt und ihre Mitschüler im strengen Lehrer
Robert Zupan (Igor Samobor) den Verantwortlichen ausmachen, welcher
nach dem schwangerschaftsbedingten Ausscheiden der regulären
Deutsch- und Klassenlehrerin Nuša (Maša Derganc) deren Amt
übernommen hatte. "Wir vermissen ihr Lachen und ihre Energie",
ist allenthalben in der Klasse zu hören; Zupan, der auch wegen
seines Insistierens auf der Unterrichtssprache Deutsch bald einmal
als "Nazi" beschimpft wird, habe mit seinem "Terror" Sabina "die Lebensfreude geraubt". Da aber dem Zuschauer gleich zu
Beginn wohl die wahre Stellung gezeigt wird, die Sabina unter ihren
Kollegen und Kolleginnen eingenommen hat – integriert, gemocht,
aber wahrscheinlich nicht das Herz der Klassengemeinschaft –, muss
er im Konflikt zwischen Schülern und Lehrer (und Rektorat) einen
kritischen Blick walten lassen. Während Zupans kühle
Distanziertheit sowie seine eher konfrontativen pädagogischen
Methoden sicher nicht Musterbeispiele des korrekten Verhaltens,
gerade in einer Ausnahmesituation, sind, ist auch die Reaktion seiner
Schützlinge alles andere als gerechtfertigt.
Rok
Biček, der sich thematisch auf den Spuren von Ilmar Raag (The
Class), Laurent Cantet (Entre les murs) und Thomas
Vinterberg (Jagten) bewegt, sieht im Selbstmord Sabinas ein
Ereignis, welches bei allen Beteiligten die Frustration mit dem
Alltag und Ressentiments gegenüber dem Schulbetrieb als solchem an
die Oberfläche drängt. Für Tadej (Jan Zupančič), der gerne mit
pubertärer Selbstüberzeugtheit über die "liberale,
schwulenliebende slowenische Elite" herzieht, ist seine
Klassenkameradin ein Opfer des notenorientierten Bildungssystems,
vertreten durch Robert Zupan und Rektorin Zdenka (Nataša Barbara
Gračner); Luka (Voranc Boh), dessen Mutter gerade erst verstorben
ist, scheint sich unterbewusst an die Hoffnung zu klammern, dem Tod
einen Sinn zu geben, indem er einen lebenden Schuldigen dafür finden
kann; Nik (Jan Vrhovnik), so wirkt es, ist angetan von nichts Anderem
als der blossen Idee der Rebellion. Und auf der Gegenseite steht
Robert, der der Situation mit Humanismus und Rationalismus begegnen
will – er behandelt Thomas Mann ("Der Tod eines Mannes ist eher
eine Angelegenheit seiner Hinterbliebenen denn seine eigene") –,
deswegen des Nazismus bezichtigt wird und sich so in seiner leicht
arroganten Meinung über seine "undisziplinierte, unkonzentrierte,
schwatzhafte" neue Klasse bestätigt sieht.
Deutschlehrer
Robert Zupan (Igor Samobor) wird nach dem Selbstmord einer Schülerin
von seinen Schützlingen der Mitschuld bezichtigt.
© trigon-film |
Biček
navigiert während des Films elegant und neutral zwischen beiden
Fronten hin und her, wenngleich man letzten Endes doch eher geneigt
ist, mit Zupan, welcher von Igor Samobor vorzüglich interpretiert
wird, zu sympathisieren – hauptsächlich deshalb, weil die
Figurenzeichnung der Schülerschaft kaum über Stereotypen
hinauszugehen vermag. Tadej ist die ernsthaft vorgetragene Karikatur
eines Jungkonservativen; Luka steuert nicht viel mehr zur Geschichte
bei, als wiederholt das Klassenzimmer zu verlassen; Nik ist der coole
Musiker, Primož (Dan David Natlačen Mrevlje) der Streber, Špela
(Špela Novak) die intrigante Zicke. (Noch schlimmer trifft es die
Eltern eines chinesischstämmigen Schülers – einer Stimme der
Vernunft –, welche lediglich der komödiantischen Auflockerung
dienen.) Derartigen Misstönen zum Trotz ist Biček mit Class
Enemy ein feinfühliges Psychodrama gelungen, das auf eine
aussichtsreiche Regie-Zukunft hoffen lässt.
★★★★