Donnerstag, 2. Oktober 2014

Calvary

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat. 

In seiner erst zweiten Regiearbeit, der schwarzen Tragikomödie Calvary, wandelt der Ire John Michael McDonagh auf den Pfaden von Buñuel, Bresson und Bergman. Seine Aufmerksamkeit gilt dem sisyphusartigen Kampf des guten Samariters gegen den Zynismus, den Undank und die Gleichgültigkeit seiner Mitmenschen.

Der Film beginnt denkbar drastisch: "I first tasted semen when I was seven years old", sagt eine Stimme im Off, verborgen hinter dem Trenngitter des von Father James Lavelle (Brendan Gleeson) besetzten Beichtstuhls in einer kleinen Kirche im ländlichen Nordwesten Irlands. Nach kurzem Zögern antwortet der Pfarrer: "That’s certainly a startling opening line". Einen Moment lang muss man befürchten, dass John Michael McDonagh im Anschluss an seinen Erstling, den grossartigen The Guard, denselben Weg wie sein Bruder Martin eingeschlagen haben könnte, der sich nach dem Erfolg von In Bruges ganz der cineastischen Meta-Spielerei hingegeben und mit Seven Psychopaths ein amüsant-selbstreflexives, letztlich aber doch enttäuschendes Zweitwerk abgeliefert hat. Doch mit Ausnahme dieser ersten Zeilen sowie eines späteren Dialogs über "third-act revelations" bleibt Calvary seinen Figuren und seinen durchaus ernsthaften Themen treu. 

Father James' Gespräch mit dem Unbekannten – eine herausragende Sequenz, gefilmt in einer einzigen starren Einstellung – endet mit der Drohung des als Kind von einem Pfarrer vergewaltigten Beichteablegers, am konsternierten James ein Exempel statuieren zu wollen: Stellvertretend für den inzwischen verstorbenen Peiniger und seinesgleichen soll er, das Musterbeispiel des guten Geistlichen, am kommenden Sonntag eines gewaltsamen Todes sterben. Anstatt die Polizei zu verständigen (Beichtgeheimnis!), stellt sich der von Brendan Gleeson unübertrefflich prägnant verkörperte James seinem Schicksal und macht es sich zur Aufgabe, sein Amt weiterhin mit der gebotenen Würde auszuüben. Die ihm verbleibende Woche, seinen ganz persönlichen Gang zum Kalvarienberg zu Golgata, verbringt er damit, seiner Gemeinde auf den Zahn zu fühlen, sich unter seinen Schäfchen umzuhören, um Näheres über ihre Affären und ihre krummen Geschäfte zu erfahren. rhält er Besuch von seiner depressiven Tochter Fiona (Kelly Reilly), die ihm noch immer nicht verziehen hat, dass er nach dem Tod seiner Frau die Priesterweihe seiner Vaterrolle vorzog.

"Diary of a County Sligo Priest": Der gute Pfarrer James (Brendan Gleeson) erhält eine Morddrohung.
© Ascot Elite Entertainment Group
McDonagh besinnt sich in seinem neuen Film auf die Tradition des spirituell angehauchten – nicht aber explizit religiösen – Kinos, das sich mit Fragen der Theodizee, des Glaubens, des selbst im Angesichte himmelschreienden Unrechts beharrlich schweigenden Gottes – eine Spezialität von Bergman und Dreyer –, des ewigen Wettstreits zwischen Gut und Böse auseinandersetzt. Wie der junge Landpfarrer in Robert Bressons Journal d'un curé de campagne oder der marginalisierte Padre Nazario in Luis Buñuels Nazarín ist Father James ein Fremder in der eigenen Gemeinde, welche kollektiv den Respekt vor seinem Stand verloren zu haben scheint – obschon er, der einstige Alkoholiker, die vielleicht einzige intakte Moralinstanz im Dorf stellt. (Vergleiche mit High Noon erscheinen ebenfalls angebracht.) Der Metzger (Chris O'Dowd) schlägt seine Frau, der Pub-Besitzer (Pat Shortt) will der Hochfinanz an den Kragen, der Automechaniker (Isaach de Bankolé) schwelgt in der Promiskuität, der amerikanische Schriftsteller (M. Emmet Walsh) sehnt sich nach einer Waffe, mit der er seinem Leben ein Ende setzen kann, der betuchte, dekadente Adlige (Dylan Moran) hat jeden Sinn für Werte verloren; dennoch ist es Father James, vor dem die Touristen panisch ihre Kinder in Sicherheit bringen. Und Gott sah, dass er gut war – schwieg und tat nichts.

Wie den Coen-Briüdern in ihrem unterbewerteten Meisterstück A Serious Man gelingt McDonagh hier die erzählerisch wie ästhetisch tadellose Balance zwischen abseitigem, grimmigem, schmerzhaftem Humor und der dezenten Behandlung zutiefst existenzieller Themen; Calvary ist zugleich vorzügliche Unterhaltung und intelligentes philosophisches Filmschaffen.

★★★★★

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