Luc und Jean-Pierre Dardenne, die grossen Realisten des französischsprachigen Kinos, widmen sich in Deux jours, une nuit einmal mehr der belgischen Arbeiterklasse – diesmal aber mit einer hinter dem Naturalismus verborgenen politischen Botschaft. Das macht den Film artifizieller, aber keineswegs schlechter.
Das Wochenende ist der vielleicht ultimative Triumph der
Gewerkschafts-Bewegung; seit etwas mehr als einem Jahrhundert
geniessen in den westlichen Industriestaaten die meisten Arbeiter das
Recht, sich zwei Tage die Woche von den Strapazen des Alltags zu
verabschieden und sich ganz dem eigenen Wohlbefinden zu widmen. So
jedenfalls sieht es die Theorie vor. In der Praxis jedoch, wie es die
Regie-Brüder Dardenne (La promesse, Rosetta, L'enfant, Le gamin au vélo) in Deux jours, une nuit geradezu
parabelhaft illustrieren, hält dieser Traum den unausweichlichen
Anforderungen und Zwängen der globalisierten Wirtschaft nicht Stand.
Sandra (Marion Cotillard) will nach einer schweren Depression ihre
Arbeit in einer Sonnenkollektoren-Fabrik wieder aufnehmen, doch
Dumont (Batiste Sornin), ihr Vorgesetzter, hat andere Pläne für
sein Unternehmen: Er hat Sandras Kollegen darüber abstimmen lassen,
ob sie sie wieder in die Firma integrieren sollen oder nicht; wenn
nicht, profitieren die verbleibenden Arbeiter vom Lohnüberschuss und
erhalten einen Bonus von 1'000 Euro. Zwei stimmen für Sandra, 14
gegen sie. Da aber der Vorarbeiter (Olivier Gourmet) einige Leute
eingeschüchtert hat, wird die Abstimmung am darauf folgenden Montag
wiederholt. Für Sandra bedeutet dies ein Wochenende voller
Gespräche, in denen sie mit Hilfe ihres Mannes Manu (Fabrizio
Rongione) versucht, ihre Kameraden umzustimmen – die Arbeit dringt
ein in die gewerkschaftlich erstrittene Freizeit.
Dem Film gelingt es hervorragend, diese Transgression mit subtilsten
Mitteln einzufangen; dass es sich dabei um eine Übertretung
gesellschaftlich anerkannter Grenzen handelt, wird niemals
angesprochen, sondern von den Protagonisten kommentarlos hingenommen.
Sandra "ertappt" auf ihrer Reise durch die zahlreichen
heruntergekommenen Lütticher Industrie-Vororte ihre Kollegen, viele
davon Immigranten, dabei, wie sie ihre finanziellen Mittel aufbessern
wollen: Manche verkaufen handgemachte Fliesen, andere reparieren
Autos oder assistieren im Waschsalon, wieder andere helfen aus als
Fussballtrainer für Kinder oder arbeiten schwarz im
Lebensmittelgeschäft. Unter dem Druck von Rezession und
internationalem Wettbewerb hat das Wochenende seinen Status gänzlich
verloren, was sich selbst in der Struktur des Films bemerkbar macht:
Das Ganze folgt einem wohl bewusst repetitiven Schema – Sandra
besucht einen Mitarbeiter, bittet um dessen Stimme, hört sich dessen
Erklärung für sein Bonus-Votum an –, das den immer gleichen Trott
des Arbeitsalltags widerzuspiegeln scheint.
Sandra (Marion Cotillard) muss im Laufe eines Wochenendes ihre
Mitarbeiter davon überzeugen, gegen einen Bonus zu stimmen, der ihr
die Stelle kosten würde.
© Xenix Filmdistribution |
Das menschliche Drama in diesem letztlich tristen, aber dennoch –
auch durch einige allzu glückliche Wendungen und Zufälle –
seltsam erhebenden Film kreist um das uralte ethische Dilemma von der
Bedeutung des Einzelnen im Angesicht einer gleichgestellten Masse:
Von der problematischen Methode abgesehen, handelt Dumont – als
Chef nicht nur während des Wochenendes unantastbar – unmoralisch,
wenn er Sandra zum monetären Vorteil von 16 anderen Arbeitern
entlässt? (In seinen Schlussminuten verschiebt der Film das Gewicht
dieser Frage auf geschickte Art und Weise.) Und als emotionales
Zentrum figuriert Sandra, von Marion Cotillard zurückhaltend, aber
kraftvoll gespielt, deren äusserst lebensecht eingefangene
Depression zum Symbol für ein korruptes System wird, in dem Menschen
zu Entscheidungen gedrängt werden, welche sich moralisch nicht
verantworten lassen. In Deux jours, une nuit verlieren die
Dardennes ein Stück ihres radikalen Dokumentarismus und gewinnen
dafür neue politische Relevanz.
★★★★
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