Ein zweieinhalbstündiges Porträt eines englischen
Nationalmalers passt da eigentlich kaum ins Konzept. Doch was wie ein radikaler
Bruch Leighs mit seiner bisherigen Filmografie – Ausnahme: das Musical Topsy-Turvy – anmuten mag, hat mehr mit
seinem angestammten Terrain zu tun als sich im ersten Augenblick vermuten
lässt, stellt aber zugleich auch einen faszinierenden Aus- und Aufbruch eines souveränen
Altmeisters dar.
Mr. Turner erzählt in üppigen 149 Minuten von den letzten 23 Jahren im Leben Joseph Mallord William Turners (1775–1851), dem vielleicht bedeutendsten bildenden Künstler, sicherlich dem wichtigsten Maler der Romantik, den England hervorgebracht hat. Schon in jungen Jahren als enormes Talent gefeiert, jahrzehntelang der von Kollegen sowohl bewunderte als auch beniedene Liebling von Adel und Königshaus, hoch geachtet als begnadeter Landschaftsmaler, wandte sich der verschrobene Einzelgänger gegen Ende seines Lebens einem abstrakteren Stil zu, der ihm im frühen viktorianischen Zeitalter nichts als Spott eintrug. "He's clearly losing his eyesight", höhnt Prince Albert (Tom Wlaschiha) beim Gang durch die Royal Academy of Arts; "A dirty yellow mess", giftelt Queen Victoria (Sinead Matthews) die Nase rümpfend.
Mr. Turner erzählt in üppigen 149 Minuten von den letzten 23 Jahren im Leben Joseph Mallord William Turners (1775–1851), dem vielleicht bedeutendsten bildenden Künstler, sicherlich dem wichtigsten Maler der Romantik, den England hervorgebracht hat. Schon in jungen Jahren als enormes Talent gefeiert, jahrzehntelang der von Kollegen sowohl bewunderte als auch beniedene Liebling von Adel und Königshaus, hoch geachtet als begnadeter Landschaftsmaler, wandte sich der verschrobene Einzelgänger gegen Ende seines Lebens einem abstrakteren Stil zu, der ihm im frühen viktorianischen Zeitalter nichts als Spott eintrug. "He's clearly losing his eyesight", höhnt Prince Albert (Tom Wlaschiha) beim Gang durch die Royal Academy of Arts; "A dirty yellow mess", giftelt Queen Victoria (Sinead Matthews) die Nase rümpfend.
Leighs Film ist nicht zuletzt eine Hommage an einen eigensinnigen
Künstler, der sich Zeit seines Lebens eisern weigerte, sich auf seinen
Lorbeeren auszuruhen und sich selbstzufrieden in seinem Ruhm zu sonnen. Anders
als etwa sein Zeitgenosse William Wordsworth, der Lyrik-Gigant der englischen
Romantik, verwandelte sich Turner (Timothy Spall) nicht von einem einstigen
Ikonoklasten in ein lebendes Monument, das in jedem neuen Ansatz, jedem Versuch
der Innovation ein Sakrileg festzustellen glaubte. Im Gegenteil: Turner setzte
mit seinem virtuosen Spiel mit dem Licht, das in seinen späteren Bildern feste
Formen verschwimmen liess, sein eigenes künstlerisches Erbe aufs Spiel – im
Namen der eigenen ästhetischen Vision.
Der Ikonoklast: J. M. W. Turner (Timothy Spall, rechts) wird in ganz Grossbritannien als genialer Maler bewundert – bevor er eine neue Richtung einschlägt. © Pathé Films AG |
Und diese, das wird in Mr.
Turner offensichtlich, entwickelte sich parallel zu den Umwälzungen, die
sich zu Turners Lebzeiten in seiner Heimat abspielten. Die Glorie der idyllischen
georgianischen Epoche wich der industriellen Pracht des Viktorianismus; eines
der populärsten Bilder Turners zeigt die Abschleppung des Kriegs-Segelschiffs
Temeraire, das Admiral Nelson in der Schlacht bei Trafalgar grosse Dienste
leistete, durch ein Dampfboot. Durch die pittoresken Landschaften, deren
Wiedergabe auf Leinwand Turner zu einer wohlhabenden Berühmtheit machten, fuhren
nun plötzlich pechschwarz rauchende Lokomotiven; während sich London zum
dunstigen Kaminschlot-Moloch von Charles Dickens wandelte, verabschiedete sich
Turners Kunst von klaren Konturen und nahm eine Gestalt in, die wenig später
die französischen Impressionisten inspirieren sollte.
Dies ist denn auch der Berührungspunkt von Leighs
"konventionelleren" Sozialdramen und seiner episodisch aufgezogenen
Künstlervita: Sie zeigt nicht nur ein
Land, sondern auch eine Gesellschaft im Wandel. Lesley Manville – aus Another Year noch in bester Erinnerung –
taucht als Mary Somerville auf, eine der wenigen bekannten Wissenschaftlerinnen
in einer Ära, der derartig aktive Frauen hochgradig suspekt waren. Auch
anderswo ist der Übergang zur Moderne spürbar, etwa in Turners Gespräch mit dem
zweiten Ehemann seiner Geliebten Sophia Booth (Marion Bailey), welcher vor der
Abschaffung der Sklaverei im britischen Empire traumatische Jahre als
Zimmermann auf einem Sklavenschiff zugebracht hatte.
Was Leigh mit dem meisterhaft inszenierten Mr. Turner letztendlich gelungen ist,
ist eine zu keinem Zeitpunkt professiorial wirkende Kontextualisierung von
Turners Leben und Wirken. Mit wundervoller Eleganz verbindet der Film das
Private mit dem Öffentlichen; vom Gang von William Turner Senior (Paul Jesson)
über einen Londoner Markt bis zu jenen Szenen, deren Fokus sich plötzlich von Turner
auf sein Umfeld verschiebt, welches er – wie Leigh – stets mit der
Aufmerksamkeit des Chronisten begutachtet.
Der Künstler: Turner in Aktion, grandios in Szene gesetzt von Regisseur Mike Leigh und Kameramann Dick Pope. © Pathé Films AG |
Beeindruckende Sorgfalt lässt der Film auch in seiner
Darstellung der Periode zwischen 1828 und 1851 walten – diese Art der Verortung
muss das Publikum selber vornehmen, da Leigh auf das Einblenden von
Jahreszahlen verzichtet. Nicht nur wird der Zeitgeist mit Kostümen und
Ausstattung zum Leben erweckt; Leigh hat es in seinem Drehbuch ausgezeichnet
verstanden, das Ganze mit einer authentischen, minutiös ausgerabeiteten Sprache
auszuschmücken. Vielleicht das Einzige, was in diesem reichen Zeitbild zu
wünschen übrig lässt, ist Turners Verhältnis zu den Frauen in seinem Leben.
Ausser seinem späten häuslichen Glück mit Mrs. Booth bleiben seine anderen
Beziehungen – darunter mit seiner langjährigen Haushälterin Hannah (Dorothy
Atkinson) und deren Tante (Ruth Sheen), mit der er um 1800 zwei Töchter gezeugt
hatte – eher unklar umrissen.
Doch dies sind geringfügige Einwände zu einem insgesamt
magistralen Film, der von einem grandiosen Timothy Spall getragen wird, welcher
Turners sauertöpfische Grunz- und Grummellaute virtuos als Ausdrücke tief
liegender Gefühle zu interpretieren weiss. Vollendet wird das Ganze von
Kameramann Dick Pope, der Leighs dezent subtile Vision in betörende, von
Turner'schem Licht durchflutete Bilder übersetzt. Mr. Turner ist eine famose Verneigung eines grossen Künstlers vor
dem anderen.
★★★★★
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