Kaum ein anderer Film in diesem Jahr verlangt seinem Publikum so viel ab wie Nuri Bilge Ceylans 196-minütiger Winter Sleep. Doch es lohnt sich, sich der Herausforderung des Palme-d'or-Gewinners zu stellen: Man wird belohnt mit einem spartanischen, intensiven, komplexen Charakterdrama belohnt.
Als
das Filmfestival von Cannes 2007 sein 60-jähriges Bestehen feierte, steuerten
36 Regisseure insgesamt 34 Kurzfilme à drei Minuten zur Jubiläums-Anthologie Chacun son cinéma bei. Unter den teilnehmenden Cineasten waren neben Leuten
wie Lars von Trier, Roman Polanski und David Lynch auch Joel und Ethan Coen mit World Cinema vertreten: Ein texanischer Cowboy (Josh Brolin) betritt ein
Programmkino und lässt sich über das Angebot informieren; zur Auswahl stehen
Jean Renoirs La règle du jeu und Climates, der vierte Langspielfilm des
Türken Nuri Bilge Ceylan. Der Cowboy lässt sich auf Letzteren ein und verlässt
den Saal anschliessend tief in Gedanken versunken und sichtlich bewegt: "I
enjoyed that picture. There's
a hell of a lot of truth in it."
Die
Beschreibung trifft auch auf Ceylans neuesten Film zu, ein – so paradox es auch
klingen mag – intimes Monumentalwerk von fast 200 Minuten Länge, in dem ebenso
minutiös wie lebensecht die emotionale Erstarrtheit des kappadokischen
Hoteliers Aydin (Haluk Bilginer) porträtiert wird. Im kargen Zentrum Anatoliens
führt der einstige Theaterschauspieler ein Berghotel, das ihn, zusammen mit
seiner Tätigkeit als Immobilien-Vermieter, zum reichsten Mann der Gegend
gemacht hat. Doch sein materieller Wohlstand wie auch seine leicht arrogante
Art, die er in seinen Kolumnen für die Lokalzeitung jeweils auf die Spitze
treibt, haben ihn von seinen Mitmenschen entfremdet: Seine viel jüngere Frau
Nihal (Melisa Sözen) fühlt sich bevormundet, seine Schwester Necla (Demet
Akbağ), die mit ihm und Nihal das Hotel bewohnt, kritisiert seine
selbstgefällige Weltanschauung; derweil er für den säumigen Mieter Ismail
(Nejat Isler) und dessen Bruder, den unterwürfigen Imam Hamdi (Serhat Mustafa
Kiliç), bloss Indifferenz übrig hat. Handfestere Konflikte delegiert er, gerade
während der kalten Wintermonate, in denen Hotelgäste rar sind, an seinen treuen
Assistenten Hidayet (Ayberk Pekcan).
Der Hotelier und Ex-Schauspieler Aydin (Haluk Bilginer) ist reich, aber unbeliebt. Selbst seine Schwester Necla (Demet Akbağ, hinten rechts) tut sich schwer mit seinen Ansichten. © trigon-film |
Im
Abspann steht zu lesen, dass sich Ceylan von den Novellen Anton Chekhovs hat
inspirieren lassen; doch nicht minder deutlich zu erkennen ist hier der
Einfluss Ingmar Bergmans. An die Beziehungsdramen des Schweden erinnernd,
entfaltet sich Winter Sleep in ausgedehnten, mit akribischer Sorgfalt
entwickelten Dialogen. Je länger ein Gespräch dauert, desto mehr Nuancen in der
Beziehung zweier Figuren kommen zum Vorschein (unterstützt durch Gökhan
Tiryakis subtile, äusserst präzise Kameraarbeit). Wie eine Gruppe von
Archäologen legen Ceylan und seine ausnahmslos herausragend agierenden
Schauspieler Schicht um Schicht von emotionalen Schattierungen und schwelenden
Spannungen frei, die sich im Laufe des Films immer mehr zu einem unterschwellig
abgründigen Bild des menschlichen Scheiterns verdichten.
★★★★★
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