Donnerstag, 29. Januar 2015

Big Hero 6

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Seit 2009 verfügt Disney über die Rechte am Marvel-Universum. Doch mit Big Hero 6 erfährt erst jetzt eine Franchise des Comic-Riesen eine Animationsfilm-Behandlung. Der ebenso kinderfreundliche wie niveauvolle Superheldenfilm besticht mit Herz und fein ausgearbeiteten Charakteren.

Schon mit seinem Schauplatz setzt sich der Film von Don Hall und Chris Williams von der von korrupten Geschäftsmännern, finsteren Wissenschaftlern und grössenwahnsinnigen Verbrechern unterwanderten Comic-Schablonenstadt ab, in denen die maskierten Rächer gängigerweise ihren Tätigkeiten nachgehen. Während Superman durch Metropolis patrouilliert, Batman in Gotham City für Recht und Ordnung sorgt und diverse Marvel-Helden sich in Abstraktionen von Los Angeles und New York tummeln, spielt Big Hero 6 (basierend auf der gleichnamigen Comicreihe) im vergleichsweise beschaulichen San Fransokyo. Hier säumen japanische Kirschbäume die charakteristisch steilen Strassenfluchten San Franciscos. Die ikonischen roten Bögen der Golden Gate Bridge haben die Form von Torii, wie man sie aus der Architektur shintoistischer Schreine kennt; an den Wolkenkratzern und Neon-Schildern der Innenstadt stehen lateinische Buchstaben und Kanji-Schriftzeichen nebeneinander; im öffentlichen Verkehr haben die Figuren die Wahl zwischen einer Metro im amerikanischen Baustil und dem berühmten Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszug. San Fransokyo ist ein wunderbar detailreicher Hybrid aus japanischer und westlich-amerikanischer Kultur – ein erfrischender, einfallsreich konzipierter Bruch mit den Konventionen des Superhelden-Genres.

Vielleicht weil sich Big Hero 6 an ein jüngeres Publikum wendet als Blockbuster wie Iron Man, Thor oder The Amazing Spider-Man“, bietet er (vergleichbar mit dem nachgerade radikal anderen Captain America: The Winter Soldier) auch erzählerisch eine willkommene Abwechslung zum etablierten Marvel-Plot, der, obschon der gezwungen düsteren DC-Alternative überlegen, selbst in äusserst unterhaltsamen Filmen wie The Avengers oder Guardians of the Galaxy ein wenig repetitiv wirkte. Das Skript von Robert L. Baird, Dan Gerson und Jordan Roberts läuft nicht schnurgerade auf den obligaten finalen Kampf gegen den Bösewicht hinaus – wichtiger sind Figurenzeichnung, Hintergründe, Weltenbildung.


Der 14-jährige Hiro (Stimme: Ryan Potter) findet im Pflegeroboter Baymax (Scott Adsit) einen treuen, wenn auch sehr ungewöhnlichen, Freund.
© Disney
So packt die Geschichte des 14-jährigen Tech-Genies Hiro Hamada (Stimme: Ryan Potter), der mit seinen Freunden Wasabi (Damon Wayans Jr.), GoGo (Jamie Chung), Fred (T. J. Miller) und Honey Lemon (Génesis Rodriguez) herausfinden will, warum sich ein Kabukimaske tragender Unbekannter an einer Erfindung Hiros vergriffen hat, nicht primär wegen der narrativen Wendungen, sondern weil hier ausnahmslos dreidimensionale, sorgfältig eingeführte und entwickelte Charaktere agieren. Dies gilt auch für Hiros treuesten Freund, welcher auf den meisten Filmplakaten verdientermassen die zentrale Position einnimmt: Der weisse Vinyl-Blob Baymax (hervorragend gesprochen von Scott Adsit), ein von Hiros Bruder Tadashi (Daniel Henney) gebauter Pflegeroboter, spielt den ruhenden Pol in Hiros chaotischer Helden-Entourage und begeistert mit seinem friedliebenden, sanften und herrlich bedächtigen Wesen, was viel zum sympathischen Witz von Big Hero 6 beiträgt. Auf seine Weise funktioniert Baymax, der bisweilen Erinnerungen an Brad Birds Iron Giant wach werden lässt, als ideale Mixtur von Mechanik und Menschlichkeit sogar als Metapher für den Film an sich: So wie er, obwohl er stets als programmierte Maschine erkennbar bleibt, mit seiner intuitiven Persönlichkeit und seinem fürsorglichen Gemüt berührt und unterhält, findet Big Hero 6 das Herz in der Blockbuster-Maschinerie.

★★★★★

Samstag, 24. Januar 2015

Wild

Das wohl auffälligste Symbol in Jean-Marc Vallées Adaption von Cheryl Strayeds autobiografischem Bestseller Wild: From Lost to Found on the Pacific Crest Trail ist das Bild eines Fuchses, welcher der Protagonistin, beherzt gespielt von Reese Witherspoon, zum ersten Mal auf einem verschneiten Wanderweg-Abschnitt in Kalifornien begegnet. Zwei weitere Begegnungen folgen, beide wahrscheinlich eingebildet. Der Fuchs kann für so manches stehen – Cheryls mentale Verlorenheit nach dem Krebstod ihrer Mutter (Laura Dern), die Wildheit in ihrem Herzen, die sie dazu verleitet, sich nach diesem einschneidenden Ereignis dem Exzess hinzugeben, ihren Mann (Thomas Sadoski) zu betrügen und mit Heroin zu experimentieren.

Doch was die nur halbherzig realisierte Metapher auch heraufbeschwört, ist die unheimliche Fuchs-Puppe in Lars von Triers Antichrist, die mit tiefer Stimme proklamierte: "Chaos reigns". Diese Zeile trifft sowohl auf Cheryls Leben als auch auf Vallées Wild zu: ein Flickenteppich aus Rückblenden, Wiederholungen, Parallelmontagen, imposanten Naturaufnahmen, Wander-Anekdoten, Voiceovers und schlaglichtartig aufblitzenden Bildern, integriert ins chronologisch erzählte Hauptnarrativ – Cheryls einsame Wanderung auf dem Pacific Crest Trail von Südkalifornien bis ins nordwestliche Washington im Jahr 1995.

Der assoziative Modus operandi von Vallée, mit dem er schon in Dallas Buyers Club experimentierte, und Romancier/Drehbuchautor Nick Hornby wird Strayeds "wilden" Jahren definitiv gerecht und verleiht dem Film scheinbar die Aura eines atmosphärischen, zutiefst persönlichen Bewusstseinsstromes. Diese entpuppt sich nach und nach jedoch als dünne Fassade; die Spuren, die Wild zu hinterlassen vermag, sind primär dem inspirierten Gebrauch der Songs von Simon & Garfunkel sowie Reese Witherspoons herausragender Darbietung zuzuschreiben.

Witherspoon gelingt es, dem Zuschauer eine an sich sehr schwierige Persönlichkeit einfühlsam näher zu bringen – ein Umstand, den der Film kaum je vorbehaltlos anerkennt. Strayed scheint befallen vom Narzissmus des Aussteigers – ein Phänomen, welches von Sean Penn im massiv überschätzten Into the Wild ohne jede kritische Brechung bejubelt wurde – mit ihrer Gewohnheit, in den Wanderweg-Gästebüchern literarische Zitate nicht nur mit dem Autorennamen, sondern auch mit ihrem eigenen zu unterschreiben. Doch Witherspoons kernig-nüchterne Interpretation gibt dieser Cheryl Strayed das nötige Profil, die nötige psychologische Tiefe, um ihre Reise bedeutsam wirken zu lassen.

"Tracks": Cheryl Strayed (Reese Witherspoon) wandert auf dem Pacific Crest Trail.
© 2014 Twentieth Century Fox Film Corporation
Ohne sie wäre die Figur gefangen in einem deklamatorischen Drehbuch, das darauf beharrt, mit plumper Exposition und abgedroschen wirkenden inneren Monologen zu operieren. Mit Ausnahme der allerletzten Szene – wirksam gerade wegen ihrer Mischung aus magischer Überhöhung und sachlicher Unmittelbarkeit – interessiert die Geschichte trotz – und nicht wegen – der chaotischen Erzählweise, die mitunter mehr den Anschein eines Gimmicks denn einer thematischen Notwendigkeit macht. Auch Vallées manipulativer Hang zur emotionalen Verkürzung, der sich in Dallas Buyers Club andeutete, ist hier ersichtlich, bis hin zum Punkt des Selbstplagiats: Bekenntnisse von Figuren und Einstellungen mit poetischem Anstrich – aus den Schmetterlingen, die Matthew McConaughey bedeckten, werden Frösche auf Reese Witherspoons Schlafsack – ersetzen tatsächliche Charakterentwicklung.

Der Frankokanadier Vallée erweist sich in seinen englischsprachigen Projekten weiterhin als Regisseur mit begrenztem filmischem Vokabular. Wie Dallas Buyers Club vor ihm lässt Wild die Ambition erkennen, eine wahre Geschichte menschlich bewegend aufzuarbeiten. Völlig gelungen ist ihm dies nicht; auf Grund der ungeschickten Inszenierung spricht Vallées Film zwar an, berührt aber nicht.

★★★

Donnerstag, 22. Januar 2015

A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Nicht nur mit seinem ausladenden Titel sorgt der fünfte Film des 71-jährigen Schweden Roy Andersson für amüsiertes Kopfschütteln und verwirrtes Stirnrunzeln. A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence ist unbeschreibliches, absurdes Kino – ein wahrhaftiges Original.

"Innovation im Kino ist tot. Filmische Qualität ist im Fernsehen zu finden." Diese Einschätzung kursiert seit einigen Jahren in Feuilletons, Fachzeitschriften und Internetforen, ja sogar an Universitäten. Am lautesten wurden die, die sich in den Lichtspielhäusern nach eigenen Angaben zu langweilen begonnen haben, wohl 2013, als im amerikanischen TV House of Cards debütierte, Girls seinen Siegeszug fortsetzte und Game of Thrones endgültig zum Phänomen avancierte. Das "Television Is Better Than Cinema"-Argument ist gleich mehrfach problematisch: Zum einen beruht es auf einer falschen Analogie, handelt es sich bei den beiden konkurrierenden Antipoden doch um fundamental verschieden konzipierte Medien. Zum anderen speist es sich aus einer hoffnungslos verallgemeinernden, frustrierend eng gefassten Gleichsetzung von Hollywood mit der Gesamtheit des Kinos, gegen die auch visionäre erzählerische und ästhetische Rahmensprenger wie Gangs of Wasseypur oder Under the Skin bislang nichts ausrichten konnten.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die aktuellste Demonstration radikaler cineastischer Originalität mit Roy Andersson einem Regisseur zuzuschreiben ist, welcher sich zwischen 1975 und 2000 vom Kino gänzlich verabschiedet hatte und sich stattdessen der Inszenierung von Werbespots widmete, welche den Löwenanteil seines kreativen Schaffens ausmachen. Über 400 Werbungen stehen zwei Kurz- und fünf Langspielfilmen gegnüber, darunter die "Trilogie über das Menschsein", die nach Songs from the Second Floor (2000) und You, the Living (2007) nun mit A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence (Goldener Löwe in Venedig 2014) ihren Abschluss findet.


"Stimmung!": Die Scherzartikelverkäufer Jonathan (Holger Andersson, links) und Sam (Nils Westblom) ziehen mit ihren Waren durch Roy Anderssons absurde Gegenwelt.
© Look Now!
39 Anekdoten, viele davon kürzer als drei Minuten, die meisten in einer einzigen starren Einstellung gefilmt, erzählt Andersson in diesem womöglich ein wenig überlangen Kompendium, das so anders ist als alles, was man sich aus dem Kino – Mainstream oder Arthouse – normalerweise gewohnt ist. Selbst die Mise en scène ist kurios: Ecken und Kanten rücken in die Mitte des Blickfeldes, was den Bildern eine bizarre Qualität verleiht; die Tiefenschärfe gibt den Blick auf Hintergründe frei, die nicht selten wie gemalt aussehen; es dominieren triste Braun- und Grautöne. Die bedächtig vorgetragenen Geschichten handeln von einer unglücklich verliebten Tanzlehrerin, einem von missverstandenem Termin zu missverstandenem Termin eilenden Marine-Offiziellen, den niedergeschlagendsten Scherzartikelverkäufern der Filmgeschichte und einem spätbarocken König, der auf dem Weg in den Krieg in einer vorstädtischen Spelunke Halt macht. In die ohnehin schon lose Erzählstruktur eingewoben sind zumeist wortlose, wunderlich ironisierte Aufnahmen von Menschen in alltäglichen Situationen. (Hiervon hinterlässt vor allem die überraschend bewegende Vignette einer jungen Mutter und ihrem Kinderwagen einen bleibenden Eindruck.)

Erinnerungen an Aki Kaurismäki werden hier wach, Schattierungen von Monty Python sind zu erkennen, doch zum Schluss muss konstatiert werden: Das ist ein lupenreiner Andersson. A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence, gerade unter dem Gesichtspunkt der "Leben-Trilogie", ist das leise Bekenntnis eines Künstlers, der sich nicht anmasst, allgemeingültige Schlüsse über die menschliche Existenz zu ziehen, sondern daran interessiert ist, seine Sicht der Dinge auf Film zu bannen. Eine lustige, betörende, verstörende Vision.

★★★★★

St. Vincent

Gerüchten zufolge hätte die Hauptrolle von Theodore Melfis Regiedebüt ursprünglich Jack Nicholson zufallen sollen. Das ist befremdlich, scheint doch die Rolle des rauchenden, trinkenden, spielenden Misanthropen Vincent MacKenna Bill Murray wie auf den Leib geschrieben. Murray, wie MacKenna, kultiviert den Ruf des exzentrischen alten Haudegens, an dem der Lauf der Zeit kaum Spuren hinterlassen zu haben scheint.

Beide Figuren scheinen in einem Vakuum zu existieren. MacKenna schliesst sich in seinem heruntergekommenen Brooklyner Haus ein und meidet beinahe jeden menschlichen Kontakt; Murray treibt als letzter Aufrechter durch Hollywood und wirkt dabei so, als könne er sich nicht mehr allzu genau daran erinnern, wie es ihn überhaupt dahin verschlagen hat. Er hält sich aus der Studio- und Gildenpolitik weitestgehend heraus; ein von ihm persönlich ab und an abgehörter Telefonbeantworter übernimmt die Funktion eines Agenten; selbst in inferioren Filmen ist er zu grossartigen Leistungen fähig (Stripes, Hyde Park on Hudson). Ein blosser Schauspieler ist der Stammgast in den eigensinnigen Filmen von Jim Jarmusch und Wes Anderson schon lange nicht mehr; doch wann genau der Ghostbusters- und Groundhog Day-Star und einstige Saturday Night Live-Komiker den Übergang zur Ikone vollzogen hat, lässt sich nicht eindeutig feststellen.

Wie MacKenna, Kriegsveteran und antipazifistisches Pendant zu Jeff Bridges' Jeff "Dude" Lebowski, ist Murray eine überlebensgrosse Figur, deren Anwesenheit Melfis St. Vincent wesentlich aufwertet. Vom allerersten Moment an, als Vincent einen eher durchzogenen Witz zum Besten gibt, ist man fasziniert von diesem Charakter, welcher gestrandet scheint in einer zu konventionellen, zu sentimentalen Geschichte – und der sich, allem Anschein nach, selber gestrandet fühlt in einer Welt, die sich kollektiv dazu entschlossen zu haben scheint, ihm auf die Pelle zu rücken. Es ist ein Genuss, dieser Figur zuzusehen.

Aus Geldnot – entstanden durch seinen ausufernden Lebensstil, der ihm auch den Zorn der Wettmafia eingetragen hat – bietet Vincent seiner neuen Nachbarin, der geschiedenen Maggie (Melissa McCarthy mit einem weiteren Beweis, dass sie ausserhalb derber Komödien ihre besten Leistungen erbringt), an, nach der Schule auf ihren zwölfjährigen Sohn Oliver (Jaeden Lieberher) aufzupassen. Für diesen entwickelt er unverhofft (gross-)väterliche Gefühle und nimmt ihn mit in seine Stammbar und auf die Pferderennbahn.

Vincent MacKenna (Bill Murray) kümmert sich um Oliver (Jaeden Lieberher), den Sohn seiner neuen Nachbarin.
© Ascot Elite Entertainment Group
Diverse Versatzstücke in St. Vincent vermögen nur schwer zu überzeugen, auch wenn man sich mit der Tatsache abgefunden hat, dass hier handfest tragische Elemente – Kriegsversehrtheit, Alterserscheinungen, die Angst vor dem Vergessenwerden – auf eine doch sehr märchenhafte, und damit die ernsteren Ansätze abschwächende, Erzählung treffen. Das Wenige, was an zielgerichtetem Plot vorhanden ist, wirkt fadenscheinig konstruiert (Stichwort Wettmafia); Stereotypen werden im Überfluss bedient; und Naomi Watts' peinlich berührende Darbietung als russische Prostituierte – mit passendem Akzent – erinnert an unrühmlichere Zeiten in Hollywood.

Dem wirken positive Aspekte wie Chris O'Dowd als wunderbar weltlich gesinnter katholischer Schullehrer, der oft herrlich feine Humor oder die melancholischen Momente der Magie, die Melfi in gewissen Szenen zu schaffen vermag, entgegen. Die endgültige "Rettung" des Projekts fällt aber zweifellos Bill Murray zu, der mit einer grandiosen, authentischen Performance begeistert, die es verdient hat, in einem Atemzug mit seinen herausragenden Leistungen in Lost in Translation und Hyde Park on Hudson genannt zu werden – vom mässig lustigen Witz zu Beginn bis zum mitgemurmelten "Shelter from the Storm" im Abspann. Es steckt ein Stück Murray in diesem Vincent MacKenna, das weit über beiläufige Ähnlichkeiten hinaus geht, das tiefer greift als es der ihn umgebende Film je könnte.

★★★

Mittwoch, 21. Januar 2015

Pride

© Pathé Films AG

★★★★★

"As Britain – and much of the western world – seems to be finally accepting and embracing non-heterosexuality as a natural part of life on a broad level, leftism has run afoul of Britons, and many other Europeans, in recent years. And yet, here's a movie that betrays an unabashed, full-throated admiration for Marxist thought and socialist ideology. Full of engaging characters and touching moments, it’s a sweet, funny, politically conscious, extraordinarily human paean to the profound power and beauty of solidarity."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 15. Januar 2015

Relatos salvajes

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

In Relatos salvajes, international vertrieben unter dem Titel Wild Tales, zerlegt der Argentinier Damián Szifrón mit sechs schwarzhumorigen Kurzfilmen die Bestie Mensch und ihren naiven Stolz über die eigene Zivilisiertheit auf genüssliche und vergnügliche Art und Weise.

Geschichte Nummer eins dauert nur knapp fünf Minuten: Eine Gruppe von Flugzeugpassagieren entdeckt, dass sie alle denselben Pechvogel nicht nur kennen, sondern auch ihren Teil zum Scheitern seines Lebens beigetragen haben. Die Situation evoziert die heitere Flug-Farce Los amantes pasajeros, doch anders als Pedro Almodóvar, der als Produzent bei Relatos salvajes mitwirkte, macht Szifrón kurzen Prozess und lässt den Flieger ungespitzt in den Garten eines älteren Ehepaars donnern. Begleitet von Gustavo Santaolallas grossartigem musikalischen Hauptthema – ein Hauch von Morricone –, folgt der Vorspann: Die Namen von Darstellern – der bekannteste unter ihnen wohl Ricardo Darín (El aura, XXY, El secreto de sus ojos, Un cuento chino) –, Technikern und Geldgebern werden über Bilder von Löwen, Adlern, Haien, Tigern und allerlei anderen Wildtieren eingeblendet. Der Mensch ist und bleibt ein wildes Tier, so die Andeutung, selbst in der zivilisiertesten Umgebung.

Von der rabiaten Flugzeug-Ouvertüre arbeitet sich der Film vor zu einem Restaurant in der Pampa, wo sich eine junge Frau (Julieta Zylberberg) an einem Gast rächt, dessen Finanz-Betrügereien ihren Vater in den Selbstmord getrieben haben. Via einer skurril-stationären Neuauflage von Steven Spielbergs Duel – das Segment trägt den sprechenden Titel "El más fuert" ("Der Stärkste") – erreicht Szifrón die Stadt: Hier erleidet ein Sprengmeister (Darín) dank privatwirtschaftlicher Bürokratie einen Nervenzusammenbruch; dort bemüht sich die Schickeria darum, ihrem Gärtner (Germán de Silva) ein Verbrechen anzuhängen. Und zum Schluss wird eine Hochzeitsfeier gnadenlos in ihre blutigen Einzelteile zerlegt.

"Das Phantom der Zivilisiertheit": Damián Szifróns Episodenfilm macht auch vor dem heiligen Brauch der Hochzeit nicht Halt (im Bild: Diego Gentile und Érica Rivas).
© Pathé Films AG
Manche dieser Segmente sind lustiger als andere; gewisse bleiben eher auf Grund von Schauspiel und Inszenierung denn punkto Gehalt in Erinnerung. Was Szifrón hier aber zweifellos gefunden hat, ist ein erfrischend anderer filmischer Modus für die satirische Dekonstruktion menschlicher Heucheleien, hat sich in den letzten Jahren das Kammerspiel-Format von Carnage und Le prénom doch etwas festgefahren. Gerade in der sechsten Episode scheint sich Relatos salvajes eine Scheibe vom späten Luis Buñuel abzuschneiden, indem mit genüsslich abseitiger Sardonie die Gültigkeit bourgeoiser Strukturen hinterfragt wird. Obwohl Braut (Érica Rivas) und Bräutigam (Diego Gentile) beide auf ihre Weise Amok laufen, hält die gut situierte Gästeschaft unbeirrt an den althergebrachten Traditionen fest und beharrt darauf, die leeren bürgerlichen Hochzeitsbräuche abzuarbeiten. In der Manier eines Le charme discret de la bourgeoisie oder eines Le fantôme de la liberté erinnert der Film daran, dass Ehe letztendlich nichts anderes als die religiöse Sanktionierung animalischer Fleischeslust ist. Gemeinsam mit den im argentinischen Kino mittlerweile obligaten Seitenhieben gegen die haarsträubenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse im Land erweist sich dies als stärkstes Motiv dieser höchst unterhaltsamen schwarzen Komödie: Gesellschaft merzt das Wilde im Menschen nicht aus; sie verstärkt es nur.

★★★★

Samstag, 10. Januar 2015

Mommy

An sich ist die Prämisse des neuesten Films von Xavier Dolan – des fünften innert fünf Jahren für den 25-jährigen Québécois – bloss ein cleverer Bluff. Mommy spielt in einem Kanada der unmittelbaren Zukunft, in dem nach einem Regierungswechsel ein Gesetz verabschiedet wurde, das es Eltern schwer erziehbarer Kinder erlaubt, das Sorgerecht an den Staat abzutreten. Nichts dergleichen ist geplant in der kanadischen Politik; der Detailgrad, mit dem die Texttafeln zu Beginn die gänzlich fiktive Situation darlegen, steht in keinem Verhältnis zur Rolle, die das Gesetz in Dolans Film letztendlich einnimmt.

Man kann sich darüber aufhalten, dass der Wunderknabe des Weltkinos seinem Werk damit falsche Gravitas zu verleihen versucht, dass er seinem Publikum kein autonomes Mitdenken zutraut, dass er sich mit der prätentiösen Einleitung leicht vergriffen hat. Doch der ausführliche Verweis auf das ominöse Gesetz "S-14" ist immerhin eine schöne Versinnbildlichung dessen, was Dolans Kino in seiner noch jungen Karriere ausmacht.

Dolans Stil ist unverkennbar, seine Filme grundverschieden. Er erzählt Lebensgeschichten und Anekdoten; er liebt die Stilisierung, lässt sich aber seine Abschweifungen in den Realismus nicht nehmen. Seine Mise en scène ist minutiös, seine Bilder pendeln zwischen absoluter Schärfe und ästhetischer Unschärfe; vor seinem rigorosen Gestaltungswillen ist selbst die Form des Bildes nicht sicher – Mommy ist mit Ausnahme zweier Sequenzen im quadratischen 1:1-Format gehalten.

Es ist ein ungemein variables Kino der oftmals grossen Gesten, vergleichbar mit dem frühen Fassbinder, welches Dolan zelebriert. Doch das ist sein Modus, im Grossen auf das Kleine und Persönliche, im Kleinen auf die breiteren Zusammenhänge einzugehen. Die umfassende, ein Jahrzehnt umspannende Liebesgeschichte eines Transsexuellen in Laurence Anyways war eine Auseinandersetzung mit der eigenen Aussenseiter-Identität, während das Kammerspiel Tom à la ferme sowohl als intimes Charakterdrama als auch als Interpretation von Homophobie und traditionellen Familienstrukturen funktioniert.

Diane (Anne Dorval) versucht, mit ihrem verhaltensauffälligen Sohn Steve (Antoine-Olivier Pilon) ein geregeltes Leben zu führen.
© Pathé Films AG
In diesem Zusammenhang wirken auch Dolans Ausführungen über "S-14", wenn nicht eleganter, dann wenigstens stimmiger. Mommy setzt auf der politischen Ebene an, nur um sich in der Folge als persönlicher, äusserst gefühlsstarker Film über die problematische Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Diane Desprès (Anne Dorval) und dem verhaltensauffälligen, sensiblen, aber sporadisch aggresiv-gewalttätigen Steve (Antoine-Olivier Pilon) zu entpuppen. Es ist eine virtuose Würdigung der Mutterrolle, eine Art revisionistische Fortsetzung von Dolans sprechend betiteltem Debüt J'ai tué ma mère – ein gefundenes Fressen für Freudianer –, in dem Anne Dorval auch schon den Part der Mutter inne hatte.

Der Film ist weniger einer stringenten Handlung unterworfen als eine Sammlung von Momenten im turbulenten Alltag von Diane, Steve und ihrer stotternden Nachbarin Kyla (Suzanne Clément, auch zu sehen in J'ai tué ma mère und Laurence Anyways). Die Figuren profilieren sich in agitierten Dialog-Duellen, David O. Russell (The Fighter, Silver Linings Playbook) evozierend, in denen sich die eigentümliche Intonation von Québec-Französisch mit seinen englischen Lehnwörtern und Steves halsbrecherisches Sprachtempo grossartig ergänzen. Rücken Dianes Geldsorgen ins Zentrum, scheint sich der sozialrealistische Einfluss eines Ken Loach anzudeuten. Struktur erhält das Ganze durch Dolans gewohnt eklektischen Soundtrack, in dem Pop und Folk genauso Platz finden wie Schubert; der Einsatz von Lana Del Reys "Born to Die" zum Schluss erinnert an Jacques Audiards ebenso überraschende wie bewegende Katy-Perry-Einspielung in De rouille et d'os.

Die schüchterne Kyla (Suzanne Clément) freundet sich mit dem schwierigen Mutter-Sohn-Duo an.
© Pathé Films AG
In intensiven, aufgeladenen Sequenzen, in denen Euphorie blitzschnell in psychische und physische Gewalt umschlägt, anerkennt Mommy die Beschwerlichkeit des Mutterseins. Mit bemerkenswerter Sorgfalt beschreibt Dolan, inwiefern das Konzept des Sorgerechts nur marginal mit der Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn zusammenhängt. Gleichzeitig widersetzt er sich auch der Tendenz, Eltern über ihren Nachwuchs zu definieren: Der Titel ist Programm; gerade in den letzten 40 Minuten verschwindet Steve zusehends aus dem Fokus des Films, um dem Gewissenskonflikt Dianes Platz zu machen.

Mommy ist ein faszinierender, rauschhafter Film, durchsetzt mit den für Dolan typischen ästhetisch-fetischisierenden Abschweifungen – fantastisch die Kamerafahrt, welche Steve auf seinem Longboard auf dem Weg zum Supermarkt zeigt – und von Kameramann André Turpin mit wunderschönen Bildern versehen, welche dereinst wohl verquer nostalgische Erinnerungen an die 2010er Jahre erwecken werden. Unterstützt von drei bestechenden Schauspielleistungen – allen voran der seiner Muse Anne Dorval –, liefert Dolan hier einmal mehr eine beeindruckende Demonstration seines Könnens. Fünf Filme in fünf Jahren; Mommy ist mit Abstand sein bester – bisher.

★★★★

Donnerstag, 8. Januar 2015

Fury

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Kriegsfilme wandeln oft nah an problematischem Heroismus und heikler Glorifizierung, gerade wenn es um den "letzten grossen Krieg" gegen Hitlers Nazideutschland geht. Dieser Darstellung tritt David Ayer in Fury mit bemerkenswerter psychologischier Tiefe und kompromisslosem Realismus entgegen.

Selten traf eine Tagline – der knappe Einzeiler, der fast jedes Filmplakat schmückt – so zu wie in diesem Fall: "War never ends quietly", steht auf dem Poster zu lesen, und Autor und Regisseur Ayer lässt in seinem 134-minütigen Drama keine Zweifel darüber aufkommen. Fury spielt im April 1945 – im selben Monat, in dem Hitler sich im Führerbunker erschoss, wenige Wochen vor der deutschen Kapitulation vor den Alliierten. Von Siegestrunkenheit ist an der Front, inzwischen im Herzen Deutschlands gelegen, nichts zu spüren: "Hard to believe we're winning this thing", grummelt Sergeant Don "Wardaddy" Collier (Brad Pitt mit einer der besten Leistungen seiner Karriere), bevor er mit der Crew seines Sherman-Panzers "Fury" zu einer neuen Mission aufbricht. Die letzte forderte das Leben eines seiner Mannen, weshalb Collier und seine Kameraden – Boyd "Bible" Swan (herausragend: Shia LaBeouf), Trini "Gordo" Garcia (Michael Peña) und Grady "Coon-Ass" Travis (Jon Bernthal in den Fussstapfen von John Cassavetes in The Dirty Dozen) – kurzfristig Verstärkung vom Bürohengst Norman (Logan Lerman) erhält. Dieser ist ein kriegsunerfahrener Frischling, nicht viel älter als die Kinder in Hitlers "letztem Aufgebot", der sich zunächst mit Händen und Füssen dagegen wehrt, andere Menschen umzubringen.

Doch im Krieg, darauf läuft Fury hinaus, geht jede Unschuld und letztlich auch jede konventionelle Moral verloren. Zwischen Mord und dem Töten von Feinden wird eine scharfe Linie gezogen, welche jeder auf seine Art rechtfertigt: Collier, ein entfernter Verwandter von Aldo Raine, Brad Pitts Zweitweltkriegs-Persona in Quentin Tarantinos Inglourious Basterds, sieht sich auf einem Rachefeldzug gegen die Gräueltaten der SS, Boyd auf einer göttlich abgesegneten Mission der Gerechtigkeit; Grady und Garcia bemühen sich darum, um jeden Preis am Leben zu bleiben. Für Norman, der zu Beginn des letzten Akts das sprechende Kampf-Alias "Machine" verliehen bekommt, wird das Niedermähen deutscher Soldaten nach und nach zu einem kruden Spass. Dass er dafür schlussendlich als Held betitelt wird, ist nichts anderes als perverse Ironie.


Sergeant Don "Wardaddy" Collier (Brad Pitt, rechts) instruiert Norman (Logan Lerman), das neueste Crew-Mitglied seines Panzers "Fury".
© Sony Pictures International
Mittels naturalistischen Dialogen und packend inszenierten Kampfsequenzen, welche nicht vor grausigen Details zurückschrecken – und die, wie in Ayers noch unmittelbarerem End of Watch, niemals zum Selbstzweck verkommen –, stürzt der Regisseur den Zuschauer mitten ins Geschehen, in dem auch hochgradig aktuelle Diskurse aufgegriffen werden: Der Film handelt nicht zuletzt von archaischen Definitionen von Männlichkeit und der performativen Seite der Gewalt. Martialische Pseudonyme, das Fleddern von "erlegten" Gegnern, die Quasi-Vergewaltigung deutscher Frauen – all dies enttarnt Ayer als verzweifelte Versuche männlicher Selbstbestätigung, als Strategie, mit dem fehlenden Heldentum der eigenen Tätigkeit umzugehen. Letzten Endes ist Fury ein Nachfahre von Bernhard Wickis Die Brücke – er erzählt von der dumpfen, sinnlosen Zwangsläufigkeit des Krieges, in dem Einzelschicksale keine Bedeutung haben und Individuen zwischen die Mahlsteine der Geschichte geraten.

★★★★