Samstag, 10. Januar 2015

Mommy

An sich ist die Prämisse des neuesten Films von Xavier Dolan – des fünften innert fünf Jahren für den 25-jährigen Québécois – bloss ein cleverer Bluff. Mommy spielt in einem Kanada der unmittelbaren Zukunft, in dem nach einem Regierungswechsel ein Gesetz verabschiedet wurde, das es Eltern schwer erziehbarer Kinder erlaubt, das Sorgerecht an den Staat abzutreten. Nichts dergleichen ist geplant in der kanadischen Politik; der Detailgrad, mit dem die Texttafeln zu Beginn die gänzlich fiktive Situation darlegen, steht in keinem Verhältnis zur Rolle, die das Gesetz in Dolans Film letztendlich einnimmt.

Man kann sich darüber aufhalten, dass der Wunderknabe des Weltkinos seinem Werk damit falsche Gravitas zu verleihen versucht, dass er seinem Publikum kein autonomes Mitdenken zutraut, dass er sich mit der prätentiösen Einleitung leicht vergriffen hat. Doch der ausführliche Verweis auf das ominöse Gesetz "S-14" ist immerhin eine schöne Versinnbildlichung dessen, was Dolans Kino in seiner noch jungen Karriere ausmacht.

Dolans Stil ist unverkennbar, seine Filme grundverschieden. Er erzählt Lebensgeschichten und Anekdoten; er liebt die Stilisierung, lässt sich aber seine Abschweifungen in den Realismus nicht nehmen. Seine Mise en scène ist minutiös, seine Bilder pendeln zwischen absoluter Schärfe und ästhetischer Unschärfe; vor seinem rigorosen Gestaltungswillen ist selbst die Form des Bildes nicht sicher – Mommy ist mit Ausnahme zweier Sequenzen im quadratischen 1:1-Format gehalten.

Es ist ein ungemein variables Kino der oftmals grossen Gesten, vergleichbar mit dem frühen Fassbinder, welches Dolan zelebriert. Doch das ist sein Modus, im Grossen auf das Kleine und Persönliche, im Kleinen auf die breiteren Zusammenhänge einzugehen. Die umfassende, ein Jahrzehnt umspannende Liebesgeschichte eines Transsexuellen in Laurence Anyways war eine Auseinandersetzung mit der eigenen Aussenseiter-Identität, während das Kammerspiel Tom à la ferme sowohl als intimes Charakterdrama als auch als Interpretation von Homophobie und traditionellen Familienstrukturen funktioniert.

Diane (Anne Dorval) versucht, mit ihrem verhaltensauffälligen Sohn Steve (Antoine-Olivier Pilon) ein geregeltes Leben zu führen.
© Pathé Films AG
In diesem Zusammenhang wirken auch Dolans Ausführungen über "S-14", wenn nicht eleganter, dann wenigstens stimmiger. Mommy setzt auf der politischen Ebene an, nur um sich in der Folge als persönlicher, äusserst gefühlsstarker Film über die problematische Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Diane Desprès (Anne Dorval) und dem verhaltensauffälligen, sensiblen, aber sporadisch aggresiv-gewalttätigen Steve (Antoine-Olivier Pilon) zu entpuppen. Es ist eine virtuose Würdigung der Mutterrolle, eine Art revisionistische Fortsetzung von Dolans sprechend betiteltem Debüt J'ai tué ma mère – ein gefundenes Fressen für Freudianer –, in dem Anne Dorval auch schon den Part der Mutter inne hatte.

Der Film ist weniger einer stringenten Handlung unterworfen als eine Sammlung von Momenten im turbulenten Alltag von Diane, Steve und ihrer stotternden Nachbarin Kyla (Suzanne Clément, auch zu sehen in J'ai tué ma mère und Laurence Anyways). Die Figuren profilieren sich in agitierten Dialog-Duellen, David O. Russell (The Fighter, Silver Linings Playbook) evozierend, in denen sich die eigentümliche Intonation von Québec-Französisch mit seinen englischen Lehnwörtern und Steves halsbrecherisches Sprachtempo grossartig ergänzen. Rücken Dianes Geldsorgen ins Zentrum, scheint sich der sozialrealistische Einfluss eines Ken Loach anzudeuten. Struktur erhält das Ganze durch Dolans gewohnt eklektischen Soundtrack, in dem Pop und Folk genauso Platz finden wie Schubert; der Einsatz von Lana Del Reys "Born to Die" zum Schluss erinnert an Jacques Audiards ebenso überraschende wie bewegende Katy-Perry-Einspielung in De rouille et d'os.

Die schüchterne Kyla (Suzanne Clément) freundet sich mit dem schwierigen Mutter-Sohn-Duo an.
© Pathé Films AG
In intensiven, aufgeladenen Sequenzen, in denen Euphorie blitzschnell in psychische und physische Gewalt umschlägt, anerkennt Mommy die Beschwerlichkeit des Mutterseins. Mit bemerkenswerter Sorgfalt beschreibt Dolan, inwiefern das Konzept des Sorgerechts nur marginal mit der Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn zusammenhängt. Gleichzeitig widersetzt er sich auch der Tendenz, Eltern über ihren Nachwuchs zu definieren: Der Titel ist Programm; gerade in den letzten 40 Minuten verschwindet Steve zusehends aus dem Fokus des Films, um dem Gewissenskonflikt Dianes Platz zu machen.

Mommy ist ein faszinierender, rauschhafter Film, durchsetzt mit den für Dolan typischen ästhetisch-fetischisierenden Abschweifungen – fantastisch die Kamerafahrt, welche Steve auf seinem Longboard auf dem Weg zum Supermarkt zeigt – und von Kameramann André Turpin mit wunderschönen Bildern versehen, welche dereinst wohl verquer nostalgische Erinnerungen an die 2010er Jahre erwecken werden. Unterstützt von drei bestechenden Schauspielleistungen – allen voran der seiner Muse Anne Dorval –, liefert Dolan hier einmal mehr eine beeindruckende Demonstration seines Könnens. Fünf Filme in fünf Jahren; Mommy ist mit Abstand sein bester – bisher.

★★★★

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen