Man kann sich darüber aufhalten, dass der Wunderknabe des Weltkinos seinem Werk damit falsche Gravitas zu verleihen versucht, dass er seinem Publikum kein autonomes Mitdenken zutraut, dass er sich mit der prätentiösen Einleitung leicht vergriffen hat. Doch der ausführliche Verweis auf das ominöse Gesetz "S-14" ist immerhin eine schöne Versinnbildlichung dessen, was Dolans Kino in seiner noch jungen Karriere ausmacht.
Dolans Stil ist unverkennbar, seine Filme grundverschieden. Er erzählt Lebensgeschichten und Anekdoten; er liebt die Stilisierung, lässt sich aber seine Abschweifungen in den Realismus nicht nehmen. Seine Mise en scène ist minutiös, seine Bilder pendeln zwischen absoluter Schärfe und ästhetischer Unschärfe; vor seinem rigorosen Gestaltungswillen ist selbst die Form des Bildes nicht sicher – Mommy ist mit Ausnahme zweier Sequenzen im quadratischen 1:1-Format gehalten.
Es ist ein ungemein variables Kino der oftmals grossen Gesten, vergleichbar mit dem frühen Fassbinder, welches Dolan zelebriert. Doch das ist sein Modus, im Grossen auf das Kleine und Persönliche, im Kleinen auf die breiteren Zusammenhänge einzugehen. Die umfassende, ein Jahrzehnt umspannende Liebesgeschichte eines Transsexuellen in Laurence Anyways war eine Auseinandersetzung mit der eigenen Aussenseiter-Identität, während das Kammerspiel Tom à la ferme sowohl als intimes Charakterdrama als auch als Interpretation von Homophobie und traditionellen Familienstrukturen funktioniert.
Diane (Anne Dorval) versucht, mit ihrem verhaltensauffälligen Sohn Steve (Antoine-Olivier Pilon) ein geregeltes Leben zu führen. © Pathé Films AG |
Der Film ist weniger einer stringenten Handlung unterworfen als eine Sammlung von Momenten im turbulenten Alltag von Diane, Steve und ihrer stotternden Nachbarin Kyla (Suzanne Clément, auch zu sehen in J'ai tué ma mère und Laurence Anyways). Die Figuren profilieren sich in agitierten Dialog-Duellen, David O. Russell (The Fighter, Silver Linings Playbook) evozierend, in denen sich die eigentümliche Intonation von Québec-Französisch mit seinen englischen Lehnwörtern und Steves halsbrecherisches Sprachtempo grossartig ergänzen. Rücken Dianes Geldsorgen ins Zentrum, scheint sich der sozialrealistische Einfluss eines Ken Loach anzudeuten. Struktur erhält das Ganze durch Dolans gewohnt eklektischen Soundtrack, in dem Pop und Folk genauso Platz finden wie Schubert; der Einsatz von Lana Del Reys "Born to Die" zum Schluss erinnert an Jacques Audiards ebenso überraschende wie bewegende Katy-Perry-Einspielung in De rouille et d'os.
Die schüchterne Kyla (Suzanne Clément) freundet sich mit dem schwierigen Mutter-Sohn-Duo an. © Pathé Films AG |
Mommy ist ein faszinierender, rauschhafter Film, durchsetzt mit den für Dolan typischen ästhetisch-fetischisierenden Abschweifungen – fantastisch die Kamerafahrt, welche Steve auf seinem Longboard auf dem Weg zum Supermarkt zeigt – und von Kameramann André Turpin mit wunderschönen Bildern versehen, welche dereinst wohl verquer nostalgische Erinnerungen an die 2010er Jahre erwecken werden. Unterstützt von drei bestechenden Schauspielleistungen – allen voran der seiner Muse Anne Dorval –, liefert Dolan hier einmal mehr eine beeindruckende Demonstration seines Könnens. Fünf Filme in fünf Jahren; Mommy ist mit Abstand sein bester – bisher.
★★★★
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