Donnerstag, 22. Januar 2015

St. Vincent

Gerüchten zufolge hätte die Hauptrolle von Theodore Melfis Regiedebüt ursprünglich Jack Nicholson zufallen sollen. Das ist befremdlich, scheint doch die Rolle des rauchenden, trinkenden, spielenden Misanthropen Vincent MacKenna Bill Murray wie auf den Leib geschrieben. Murray, wie MacKenna, kultiviert den Ruf des exzentrischen alten Haudegens, an dem der Lauf der Zeit kaum Spuren hinterlassen zu haben scheint.

Beide Figuren scheinen in einem Vakuum zu existieren. MacKenna schliesst sich in seinem heruntergekommenen Brooklyner Haus ein und meidet beinahe jeden menschlichen Kontakt; Murray treibt als letzter Aufrechter durch Hollywood und wirkt dabei so, als könne er sich nicht mehr allzu genau daran erinnern, wie es ihn überhaupt dahin verschlagen hat. Er hält sich aus der Studio- und Gildenpolitik weitestgehend heraus; ein von ihm persönlich ab und an abgehörter Telefonbeantworter übernimmt die Funktion eines Agenten; selbst in inferioren Filmen ist er zu grossartigen Leistungen fähig (Stripes, Hyde Park on Hudson). Ein blosser Schauspieler ist der Stammgast in den eigensinnigen Filmen von Jim Jarmusch und Wes Anderson schon lange nicht mehr; doch wann genau der Ghostbusters- und Groundhog Day-Star und einstige Saturday Night Live-Komiker den Übergang zur Ikone vollzogen hat, lässt sich nicht eindeutig feststellen.

Wie MacKenna, Kriegsveteran und antipazifistisches Pendant zu Jeff Bridges' Jeff "Dude" Lebowski, ist Murray eine überlebensgrosse Figur, deren Anwesenheit Melfis St. Vincent wesentlich aufwertet. Vom allerersten Moment an, als Vincent einen eher durchzogenen Witz zum Besten gibt, ist man fasziniert von diesem Charakter, welcher gestrandet scheint in einer zu konventionellen, zu sentimentalen Geschichte – und der sich, allem Anschein nach, selber gestrandet fühlt in einer Welt, die sich kollektiv dazu entschlossen zu haben scheint, ihm auf die Pelle zu rücken. Es ist ein Genuss, dieser Figur zuzusehen.

Aus Geldnot – entstanden durch seinen ausufernden Lebensstil, der ihm auch den Zorn der Wettmafia eingetragen hat – bietet Vincent seiner neuen Nachbarin, der geschiedenen Maggie (Melissa McCarthy mit einem weiteren Beweis, dass sie ausserhalb derber Komödien ihre besten Leistungen erbringt), an, nach der Schule auf ihren zwölfjährigen Sohn Oliver (Jaeden Lieberher) aufzupassen. Für diesen entwickelt er unverhofft (gross-)väterliche Gefühle und nimmt ihn mit in seine Stammbar und auf die Pferderennbahn.

Vincent MacKenna (Bill Murray) kümmert sich um Oliver (Jaeden Lieberher), den Sohn seiner neuen Nachbarin.
© Ascot Elite Entertainment Group
Diverse Versatzstücke in St. Vincent vermögen nur schwer zu überzeugen, auch wenn man sich mit der Tatsache abgefunden hat, dass hier handfest tragische Elemente – Kriegsversehrtheit, Alterserscheinungen, die Angst vor dem Vergessenwerden – auf eine doch sehr märchenhafte, und damit die ernsteren Ansätze abschwächende, Erzählung treffen. Das Wenige, was an zielgerichtetem Plot vorhanden ist, wirkt fadenscheinig konstruiert (Stichwort Wettmafia); Stereotypen werden im Überfluss bedient; und Naomi Watts' peinlich berührende Darbietung als russische Prostituierte – mit passendem Akzent – erinnert an unrühmlichere Zeiten in Hollywood.

Dem wirken positive Aspekte wie Chris O'Dowd als wunderbar weltlich gesinnter katholischer Schullehrer, der oft herrlich feine Humor oder die melancholischen Momente der Magie, die Melfi in gewissen Szenen zu schaffen vermag, entgegen. Die endgültige "Rettung" des Projekts fällt aber zweifellos Bill Murray zu, der mit einer grandiosen, authentischen Performance begeistert, die es verdient hat, in einem Atemzug mit seinen herausragenden Leistungen in Lost in Translation und Hyde Park on Hudson genannt zu werden – vom mässig lustigen Witz zu Beginn bis zum mitgemurmelten "Shelter from the Storm" im Abspann. Es steckt ein Stück Murray in diesem Vincent MacKenna, das weit über beiläufige Ähnlichkeiten hinaus geht, das tiefer greift als es der ihn umgebende Film je könnte.

★★★

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