Freitag, 27. Februar 2015

Selma

Als Vertreter eines primär amerikanischen Kinos, dem an filmischer Repräsentation und Aufarbeitung schwarzer Geschichte und Identität gelegen ist und das sich gerade in den letzten zwei bis drei Jahren stark profilieren konnte, ist Ava DuVernays Selma qualitativ irgendwo in der Mitte des Spektrums anzusiedeln. Das historische Drama um Martin Luther Kings Kampagne für die soziopolitische Emanzipation der schwarzen Bevölkerung im Süden der USA verkommt zwar nicht zu einer unbedarft moralisierenden Geschichtslektion à la Lee Daniels' The Butler, erreicht aber weder die erschütternde Eindringlichkeit eines 12 Years a Slave noch die differenzierte Unmittelbarkeit von Dee Rees' Pariah.

Selma ist grundsolides Erzählkino, das mit der gebührenden Balance zwischen Ehrfurcht und kritischer Distanz aufzeigt, wie der Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. (David Oyelowo) 1965 als frisch ausgezeichneter Friedensnobelpreisträger in Selma, Alabama, zum friedlichen Protest gegen die Rassendiskriminierung aufruft. Denn obwohl Präsident Lyndon B. Johnson (Tom Wilkinson) im Jahr zuvor den Civil Rights Act verabschiedete, der allen Schwarzen das Wahlrecht gewährte und die Segregation verbot, werden Afroamerikaner gerade in den Staaten der ehemaligen Konföderation, insbesondere in Alabama unter Gouverneur George Wallace (Tim Roth), immer noch mit perfiden Mitteln am Ausüben ihres Bürgerrechts gehindert. Also organisieren King und seine Kollegen von der Southern Christian Leadership Conference (SCLC), James Bevel (Common) und Hosea Williams (Wendell Pierce), gewaltlose Demonstrationen und planen einen Marsch von Selma zur Staatslegislatur in Montgomery – trotz der mitunter brutalen Reaktion seitens der Polizei und der weissen Bevölkerung.

DuVernays Film ähnelt in seiner Interpretation jüngerer amerikanischer Geschichte dem insgesamt eher missratenen The Butler. Die Farben mögen weniger grell sein, das Geschehen weniger nah an der Karikatur, Emotionen und Konflikte weniger plakativ; der grossartige David Oyelowo, der sowohl Kings feuriges Charisma als auch seine oft kommentierte Demut furios verkörpert, ist ein anregenderer Protagonist als Forest Whitaker mit seiner Autopiloten-Darbietung; und nicht zuletzt profitiert Selma davon, sich nicht auf die ganze afroamerikanische Nachkriegsgeschichte, sondern lediglich auf ein Weg weisendes Ereignis zu konzentrieren.

1965: Martin Luther King Jr. (David Oyelowo, stehend) führt einen Protestmarsch gegen Rassendiskriminierung in Selma, Alabama, an.
© Pathé Films AG
Doch wie Daniels geben sich Du Vernay und Skripteur Paul Webb im Grunde damit zufrieden, die Geschichte dar- und nachzustellen. Die Handlung pflügt unaufhaltsam voran, die grossen Momente – Sheriff Jim Clark (Stan Houston), der von Annie Lee Cooper (Oprah Winfrey) einen Schlag versetzt bekommt, die Morde am schwarzen Demonstranten Jimmie Lee Cooper (Keith Stanfield) und dem weissen Pfarrer und King-Bewunderer James Reeb (Jeremy Strong) – werden ordnungsgemäss abgehakt; Ikonen beider Seiten des Konflikts, von J. Edgar Hoover (Dylan Baker) über Malcolm X (Nigel Thatch) bis hin zu Mahalia Jackson (Ledisi Young), haben ihren obligaten Kurzauftritt. Das schafft Atmosphäre und einen dokumentaristischen Sinn für die Epoche; doch es fehlen die Details, die das Ganze effektiv zum Leben erwecken, und die psychologische Dringlichkeit, welche die Vergangenheit unmittelbar greifbar macht.

So verdankt Selma seine zweifellos vorhandene Resonanz in erster Linie DuVernays stilsicherer Inszenierung – abgesehen vom übermässigen Gebrauch dramatischer Zeitlupen –, in welcher der expressive Einsatz von Musik eine grosse Rolle spielt (Höhepunkte: Odettas "Masters of War" und der Abspannsong "Glory", einem raffinierter Hybriden aus den "schwarzen" Genres Gospel, Rap und Blues), Oyelowos bemerkenswerter Schauspielleistung sowie seinem inhärenten Aktualitätsbezug. Vor dem Hintergrund umstrittener Wahlgesetz-Reformen, durch welche besonders afroamerikanische Gemeinden benachteiligt werden, und der wohl einschneidendsten US-Rassenunruhen seit den Los Angeles Riots 1992 – ausgelöst durch die vermeidbaren, strafrechtlich kaum verfolgten Tötungen von Mike Brown in Ferguson, Missouri, und Eric Garner in Staten Island, New York – erhält die Geschichte um den Widerstand des schwarzen Selma gegen Polizeibrutalität, die Vorurteile des weissen Bürgertums und die Gleichgültigkeit – oder die Feindseligkeit – der weissen Obrigkeit eine aufwühlende Schärfe.

★★★★

Donnerstag, 26. Februar 2015

National Gallery

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

In seinen nicht selten mehrstündigen Dokumentationen fühlt der heute 84-jährige Frederick Wiseman den unterschiedlichsten Institutionen auf den Zahn. Mit dem dreistündigen National Gallery legt er ein monumentales filmisches Essay über Kunst an sich und das Konzept Museum vor.

Die besten Dokumentarfilme lassen einen die Welt mit anderen Augen sehen. KZ-Überlebende eröffnen einem in Claude Lanzmanns Shoah (1985) eine erschütternde mikrohistorische Sicht auf den Holocaust. Ken Burns versetzt einen in The Civil War (1990) zurück ins Amerika der 1860er Jahre und erläutert Schritt für Schritt, wie der amerikanische Bürgerkrieg zur Formung der modernen USA geführt hat. Leviathan (2012) von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel gelingt es, Hochseefischerei gleichsam aus der Perspektive der gefangenen Meeresbewohner zu zeigen. Und in Joshua Oppenheimers The Act of Killing (2012) erhalten antikommunistische Paramilitärs, die im Indonesien der Sechzigerjahre mehr als eine halbe Million Menschen hinrichteten, eine Plattform, um ihre Taten zu rechtfertigen. Frederick Wisemans Kino ist alltäglicher, aber nicht minder tief greifend. Ein halbes Jahrhundert lang schon porträtiert er die Routine, die sich in öffentlichen Räumen (Central Park, Aspen, Belfast, Maine) und hinter den Mauern jener Institutionen abspielen, die das Rückgrat der westlichen Gesellschaft und Kultur bilden (High School, Hospital, Juvenile Court, Zoo, Ballet, Public Housing, At Berkeley). Sein Stil ist der des Cinéma vérité: Er führt keine Interviews, verzichtet auf Kommentar und Erklärungen; seine Kamera übernimmt die Beobachterrolle, sodass sie von ihren Subjekten nach und nach vergessen wird. In Wisemans Filmen erhält der Alltag eine poetisch überhöhte Note.

National Gallery lädt ein zum Nachdenken über den Stellenwert von Kunst und die Bedeutung der vergleichsweise jungen Institution Museum. Auch knapp 200 Jahre nach der "Erfindung" des öffentlichen, von äusseren Einflüssen grösstenteils abgeschotteten Ausstellungsraums sehen sich Nicholas Penny, der scheidende Direktor der Londoner National Gallery, und seine Mitarbeiter noch mit dem Problem konfrontiert, dass in Museen letztlich der Tod über die Lebendigkeit regiert. "These pictures are going to be here forever, or certainly longer than I will", sinniert einer der diversen Museumspädagogen, der im Laufe von Wisemans Film in Erscheinung tritt. Van Eycks Arnolfini-Hochzeit, Holbeins Gesandte, Turners Fighting Temeraire oder da Vincis Felsgrottenmadonna werden von der Bevölkerung im Idealfall noch jahrhundertelang betrachtet werden können – doch durch eben diese Platzierung im riesigen neoklassizistischen Gebäudekomplex am Trafalgar Square wird den Werken jedweder Kontext entzogen; sie fristen ein archiviertes Dasein fernab von den ursprünglichen Überlegungen und Erwägungen ihrer Urheber.

Frederick Wisemans Film beobachtet das Vorgehen hinter den Kulissen der Londoner National Gallery.
© Xenix Filmdistribution
Doch Wisemans immersiver Gang durch die Bildersäle, die Spezialausstellungen, die Konferenzzimmer, die Restaurationswerkstätten, die Seminarräume geht, gerade dank seiner – absolut gerechtfertigten – Länge, tiefer als etwa Nicolas Philiberts La ville Louvre oder Johannes Holzhausens Das grosse Museum, die einem ähnlichen Museums-Diskurs nachspüren. National Gallery stellt mit seinem Minimalismus und seinem steten Zurückkehren zu gewissen anhaltenden Entwicklungen hinter den Kulissen die bildende Kunst in einen faszinierenden Zusammenhang mit Literatur, Film (Wiseman "ertappt" wiederholt andere Filmcrews) und dem menschlichen Bezug zu kreativem Schaffen. Die emotionale und intellektuelle Auseinandersetzung mit jeglicher Form von Kunst wird zu einem zentralen Element der Conditio humana. Es liegt am Menschen, dem mausoleumartigen Museum Leben einzuhauchen.

★★★★★

Mittwoch, 25. Februar 2015

Citizenfour

Was ist Überwachung? Bevor überhaupt versucht werden kann, das Für und Wider geheimdienstlicher Abhörmethoden – und damit die Validität der Standpunkte von Whistleblower Edward Snowden – abzuwägen, ist es hilfreich, sich über diese Frage Klarheit zu verschaffen. Überwachung deutet auf eine Macht- und Wissensungleichheit hin; sie setzt einen Beobachter voraus, der dank seiner unantastbaren Position quasi uneingeschränkt Kontrolle über den Beobachteten ausübt. Entsprechend nennt der ehemalige NSA-Mitarbeiter Snowden den weitreichenden Surveillance-Apparat des amerikanischen Geheimdienstes NSA und seines britischen Pendants GCHQ, dessen wahre Reichweite er 2013 mit Hilfe der Journalisten Glenn Greenwald und Ewen MacAskill der Weltöffentlichkeit offenbarte, "the greatest weapon of oppression in the history of man".

Doch Überwachung, das wusste schon der englische Denker Jeremy Bentham, ist keine Einbahnstrasse. Im Gegenteil: Ist sich der Beobachtete seiner Situation nicht bewusst, dann sind die regulierenden, unterdrückenden Kapazitäten des Überwachers signifikant eingeschränkt. Nicht umsonst wirbt das totalitäre Regime in George Orwells dystopischem Roman Nineteen Eighty-Four mit dem oft falsch verstandenen Slogan "Big Brother Is Watching You". Nur wenn das überwachte Objekt weiss, dass es beobachtet wird, verfügt das überwachende Subjekt über wahre Macht; die Beobachtung muss internalisiert werden. Ob man tatsächlich abgehört, gefilmt oder beschattet wird, ist letztendlich unwichtig. In den allgegenwärtigen "Big Brother"-Plakaten müssen keine Kameras versteckt sein, damit Orwells Protagonist Winston Smith vor dem Willen der Regierung kuscht; es genügt, wenn er denkt, er könnte in jedem beliebigen Moment beobachtet werden.

Die ideale unterdrückende Überwachung ist also ein sich selbst aufrecht erhaltender Prozess, der laut Michel Foucault tief in die Gesellschaftsstrukturen der westlichen Welt eingedrungen ist: Gefängnisse, Schulen, Fabriken, Krankenhäuser – sie alle funktionieren mehr oder minder nach demselben architektonischen und ideologischen Prinzip, welches im Grunde jeder Form von Privatsphäre zuwider läuft.

Weder Snowden noch Regisseurin Laura Poitras tragen in der Dokumentation Citizenfour diesem komplexen Diskurs wirklich Rechnung; selbst die potenziellen Vorzüge, die Überwachung durchaus mit sich bringen kann, blendet der Film aus. Die einzige Spur einer detaillierten Auseinandersetzung mit dem Thema ist unbeabsichtigt: Die Paranoia, die Snowden während seiner Gespräche in einem Hongkonger Hotelzimmer mit Poitras sowie Greenwald und MacAskill an den Tag legt – er kappt die Telefonleitung und bedeckt sich am Laptop mit einer Decke –, zeugt davon, dass er wohl mehr als jeder andere von der NSA abgehörte Mensch ihre Überwachung verinnerlicht und sich ihren Methoden gefügt hat.

Im Juni 2013 trafen sich Regisseurin Laura Poitras und die Journalisten Ewen MacAskill und Glenn Greenwald (rechts) mit dem NSA-Whistleblower Edward Snowden (links).
© Piffl Medien
Somit steht praktisch vom ersten Moment an die journalistische Integrität des Films im Zweifel. Was Poitras dem Zuschauer bewusst als essenzielle investigative Dokumentation verkauft – als "dritter Teil einer Trilogie über Amerika nach 9/11" –, ist näher an einem politisch geladenen Pamphlet, einem Plädoyer für Snowden, dessen Enthüllungen ihn in weiten Teilen der US-Politik zur Persona non grata, unter der Bevölkerung wahlweise zu einem Helden oder einem Landesverräter gemacht haben, denn an einem nüchternen Denkanstoss. Dass sich Citizenfour dazu entschlossen hat, sich klar auf eine Seite zu schlagen und die Gegenseite, wenn überhaupt, nur parteiisch verzerrt zu Wort kommen zu lassen, ist legitim. Ken Loach verfuhr in The Spirit of '45, seiner leidenschaftlichen Verteidigung des britischen Labour-Sozialismus, nach dem gleichen Prinzip. Doch dadurch, dass Poitras geradezu axiomatisch die moralische Überlegenheit für sich beansprucht, erhält ihr Film eine unsympathisch frömmlerische Aura.

Das ist besonders bedauerlich, da Citizenfour wohl auch ohne seinen moralisierenden Unterton eines seiner Hauptziele erreicht hätte: Poitras' Protokoll ihres E-Mail-Verkehrs und anschliessenden achttägigen Gesprächs mit Snowden (Deckname: "Citizenfour") im Juni 2013 in Hongkong gelingt es, die Person Edward Snowden direkt und ohne die Debatten- und Skandallinse darzustellen. Das Publikum macht Bekanntschaft mit einem sympathischen jungen Mann der ersten Internetgeneration, der trotz aller Nervosität und Paranoia mit merklicher Begeisterung über technische Feinheiten referieren und mit einnehmendem Schalk seine Situation reflektieren kann – ein Whistleblower von, wie es scheint, grösserem menschlichen Format als etwa ein Julian Assange, dem WikiLeaks-Gründer, der sich in den letzten Jahren als wahrer Meister der Selbstvermarktung erwiesen hat. Snowden wirkt bescheidener und weitaus weniger darauf bedacht, seinen Namen mit der Sache zu verknüpfen; man ist geneigt, diesem gewissenhaften Aufrüher den messianischen Anstrich seiner Motivation nachzusehen, uneigennützig zum Wohle des "public interest" zu handeln ("It gives me a good feeling to do something that's good for everybody").

Snowden kontaktierte Poitras Anfang 2013, weil sie sich als Kritikerin der amerikanischen Geheimdienste einen Namen gemacht hat.
© Piffl Medien
Diese erfrischende Vermenschlichung des Nachrichtenthemas Snowden kommt dank der Unmittelbarkeit zustande, die Poitras mit einer atmosphärischen Cinéma-vérité-Ästhetik erzielt. Die thrillerartige Zuspitzung der Enthüllungen im Hongkonger Luxushotel verleiht dem Film eine eindringliche Spannung, die weit über die Kontroverse des Themas hinausgeht. So sehr sich Poitras in der journalistischen Korrektheit vergreift, erweist sie sich doch als mehr als nur fähige Filmemacherin, die mit Musikuntermalung und durchdachten, durchaus subtilen Pillow Shots hervorragend umzugehen weiss. Darum scheitert Citizenfour als Dokumentarfilm nicht: Kombiniert mit der ansprechenden Präsenz Snowdens, weiss er gerade als non-fiktive erzählerische Stilübung zu fesseln.

Ob Snowden nun ein Held oder ein Verbrecher ist, liegt – ob es der Film will oder nicht – beim Zuschauer. Sein Ansporn und seine Ansichten mögen sich nicht mit der ideologischen Realität von Überwachung decken; die Diskussion, ob die unbestritten erschreckenden Verantwortungs-Übergriffe von NSA und GCHQ, die Hunderte Millionen unbescholtener Bürger routinemässig ausspionieren, tatsächlich eine Gefahr für die amerikanische oder gar die westlichen Demokratien darstellen, ist eine, die es sich in grösserer Ausführlichkeit zu führen lohnt. Doch was Snowden offen legte, sollte zweifellos Anstoss zu regen Debatten sowie den nötigen Reformen führen; die Vergleiche mit dem legendären Daniel Ellsberg, der 1971 die brisanten Pentagon Papers über die Details des Vietnamkriegs zur Presse durchsickern liess, erscheinen angebracht. Die Verfolgung, der Snowden seitens seines Heimatlandes seit bald zwei Jahren ausgesetzt ist und die ihn ironischerweise zur Flucht ins Russland Vladimir Putins gezwungen hat, ist ein unerhörtes Unrecht und dürfte als eines der dunkelsten Kapitel der Amtszeit Barack Obamas in die Geschichte eingehen. Zu diesem Schluss wäre man wohl aber auch ohne den makellos gemachten, aber allzu sensationalistisch und intellektuell unseriös vorgetragenen Citizenfour gelangt.

★★

Sonntag, 22. Februar 2015

Into the Woods

Erweiterungen und Neuinterpretationen bekannter (Kinder-)Geschichten erfreuen sich im Kino spätestens seit Tim Burtons Alice in Wonderland (2010) einer beachtlichen Beliebtheit. Zwar konnten Alice, in dem die Titelfigur als 19-Jährige ins Wunderland zurückkehrt, Red Riding Hood, Sam Raimis Oz the Great and Powerful, der dem "Zauberer" aus The Wizard of Oz einen heroischen Hintergrund andichtet und Maleficent, eine Neubewertung der Antagonistin aus Disneys Sleeping Beauty, ansehnliche Einnahmen verzeichnen, aber die Kritiker wussten mit keinem wirklich etwas anzufangen. Fast schon musste man annehmen, den düsteren Versionen fantastischer Stoffe sei nur auf den Musical-Bühnen des Broadway qualitativer Erfolg vergönnt – gerade im Angesicht von Stephen Schwartz' Wicked (nach The Wizard of Oz) oder Stephen Sondheims Märchen-Potpourri Into the Woods.

Mit der Verfilmung von Letzterem hat sich zwar das Blatt vielleicht nicht gewendet, doch wurde dem Subgenre damit zumindest ein überzeugender, solider Eintrag geschenkt. (Ersteres soll Gerüchten zufolge in absehbarer Zukunft von Stephen Daldry auf die Leinwand gebracht werden.) Regie führte Rob Marshall, der 2002 mit dem preisgekrönten Chicago dem Hollywood-Filmmusical neues Leben einhauchte; James Lapines Drehbuch, obschon an manchen Stellen gekürzt und zurecht gestutzt, hält sich weit gehend an die 1986 von Lapine selber verfasste Bühnen-Vorlage.

Mit Hilfe eines kinderlosen Bäckerpaares (Emily Blunt, James Corden) im Zentrum der Geschichte verwebt Into the Woods die klassischen Märchen Aschenputtel, Rotkäppchen, Rapunzel sowie Jack and the Beanstalk zu einem ebenso fantasievollen wie kritisch-ironischen Mash-Up, in dessen Verlauf die dunklen Seiten – von den einschlägigen Disney-Adaptionen gerne übergangen – und die psychologischen Abgründe dieser Märchenstoffe frei gelegt werden. Da überrascht es auch nicht, dass es Bruno Bettelheims Buch The Uses of Enchantment war, das Sondheim (A Funny Thing Happened on the Way to the Forum, Sweeney Todd, West Side Story) und Lapine als Inspiration zu ihrem Musical diente – eine Freud'sche Analyse der Symbolik bekannter Volksmärchen.

Wegen eines Fluchs der Hexe (Meryl Streep) bleibt der Kinderwunsch von Bäckerin (Emily Blunt) und Bäcker (James Corden) unerfüllt.
© The Walt Disney Company Switzerland
Wie schon auf der Broadway-Bühne spielt sich Into the Woods, grob gesagt, in zwei Hauptakten ab. Eine lebhafte Ouvertüre, in der sich die Kamera mit der Flinkheit einer Busby-Berkeley-Nummer durch den Raum bewegt, etabliert die Umstände, unter denen sich das Figuren-Ensemble anschickt, das sichere Dorf zu verlassen und in den finsteren Wald zu einzudringen: Jack (Daniel Huttlestone) wird von seiner Mutter (Tracey Ullman) ins Nachbardorf geschickt, wo er seine geliebte weisse Kuh verkaufen soll. Cinderella (Anna Kendrick) schleicht sich trotz des Verbots ihrer bösen Stiefmutter (die ideal besetzte Christine Baranski) in einem goldenen Kleid zum Ball des Prinzen (Chris Pine). Und Little Red Riding Hood (Lilla Crawford) bricht auf, um ihrer kranken Grossmutter Kuchen und Brot zu bringen. Währenddessen erfahren Bäcker und Bäckerin von ihrer Nachbarin, der Hexe (Meryl Streep), dass ihre Kinderlosigkeit auf einen Fluch zurückzuführen ist, für dessen Umkehr sie vier Objekte beschaffen sollen: Eine Kuh so weiss wie Milch, einen Schuh so pur wie Gold, einen Umhang so rot wie Blut und Haare so gelb wie Mais. Was folgt, ist eine wilde Hetzjagd durch den verzauberten Wald im Stile von Shakespeares Midsummer Night's Dream, in dem unter anderen auch noch die in einen Turm gesperrte Rapunzel (MacKenzie Mauzy) und ihr Prinz (Billy Magnussen) nach ihrem persönlichen Happy End suchen.

Auf der Suche nach den Zutaten, die den Fluch rückgängig machen können, trifft das Bäckerpaar auf den aufmüpfigen Jack (Daniel Huttlestone).
© The Walt Disney Company Switzerland
Haben die Protagonisten aber erst einmal ihr "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute" erreicht – nach aufgeschlitzten Wölfen, abgeschnittenen Zehen und Fersen und ausgestochenen Augen, wie es bei den Gebrüdern Grimm geschrieben steht –, lässt der Film nicht von ihnen ab: Wie dauerhaft die märchenhafte Seligkeit ist, muss sich in Akt zwei erst noch herausstellen.

Ganz so radikal wie Sondheims und Lapines Original geht dieser Into the Woods zwar nicht vor, doch auch Marshall weiss den alten Geschichten durchaus mit hinterlistiger Subversion zu begegnen. Zwischen den Beinen seines bösen Wolfs (Johnny Depp) ist im Gegensatz zum Bühnen-Pendant kein penisförmiger Fortsatz zu finden, doch die Implikation, dass in Rotkäppchen Pädophilie und sexuelles Erwachen eine Rolle spielen, wird dennoch mit schelmischem Schalk vermittelt – wozu nicht zuletzt die kecke Lilla Crawford und besonders der voller Energie aufspielende Depp, der die Lethargie seiner jüngeren Darbietungen hinter sich lässt und sich in der vielleicht besten Form seit Alice in Wonderland zeigt, beitragen. Die Bedeutung der Hexenfigur wiederum wird – trotz einer signifikanten Subplot-Beschneidung gegenüber dem Quellenmaterial – von Marshall, Lapine und der furiosen Meryl Streep auf spannende Art und Weise und mit einer Reihe pointierter und stilsicher inszenierter Lieder neu ausgehandelt; ihr zwielichtiges Handeln erhält Motivation, ihre Taten eine gewisse Resonanz. Für den satirisch-komödiantischen Höhepunkt sorgen indes die beiden Prinzen – ein Traumpaar aus der Warte von Dogberry und Verges –, deren wunderbar überzeichneter Liebes-Klagegesang "Agony" die fundamentale Belanglosigkeit ihresgleichen darlegt.

Und auch Cinderella (Anna Kendrick) spielt beim Abenteuer der Bäcker eine Rolle.
© The Walt Disney Company Switzerland
Doch obwohl sie unverkennbar der Lächerlichkeit preisgegeben werden, sind es nicht die Prinzen, die das härteste Los des Films trifft. Die der Produktion auferlegten Kürzungen, die sich insbesondere während des zweiten Akts bemerkbar machen – und die, angesichts der Fülle von Figuren, das Ganze etwas überladen wirken lassen –, nehmen gewissen Szenen die nötige Rahmung, um den erwünschten Effekt zu erzielen. So wird Rapunzel nicht nur ihres tragischen Endes, sondern überhaupt eines konkreten Endes beraubt; derweil das Schicksal der Bäckerin durch die Abfolge der Geschehnisse einen leisen, aber klar feststellbaren, frauenfeindlichen Unterton erhält.

Letztlich erfüllt Into the Woods seinen Auftrag als Adaption gerade gut genug. Erzählerischen Unzulänglichkeiten und der Tatsache, dass gewisse Darsteller beim Singen natürlicher agieren als beim Sprechen (Emily Blunt, Daniel Huttlestone), stehen die vorzüglichen Schauwerte Ausstattung und Kostüme gegenüber sowie der weitgehende Verzicht auf allzu ausuferndes CGI, welches Burtons Alice, Raimis Oz und Robert Strombergs Maleficent ihre berüchtigte Plastik-Ästhetik verlieh. Dass Marshalls Film funktioniert, das muss festgehalten werden, ist wohl nicht so sehr sein eigenes Verdiens als vielmehr jenes von Sondheim und Lapine. Kann man als Kinozuschauer das Original auf der Bühne nicht erleben, stellt Into the Woods eine taugliche Notlösung dar. 

★★★

Samstag, 21. Februar 2015

Whiplash

© Ascot Elite Entertainment Group

★★★★

"Yes, Whiplash is a primarily artificial construct that at times sacrifices its inner logic in order to get its parabolic point across. But it does so admirably and valiantly, with a level of accomplishment that suggests a writer-director far beyond Chazelle’s years and track record."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 19. Februar 2015

Inherent Vice

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Kultautor Thomas Pynchon rettet Paul Thomas Anderson vor sich selber. Hat der von nicht wenigen als Genie verehrte Autorenfilmer bislang eher mit bemühend prätentiösem Kino auf sich aufmerksam gemacht, zeigt er sich in der Pynchon-Adaption Inherent Vice angenehm undogmatisch.

Es ist was faul im Hippie-Mekka Los Angeles. Der Titel dieser postmodernen Neo-Noir-Geschichte verrät es schon: Inherent Vice, "natürliche Mängel" – ein Begriff aus dem Versicherungs- und Archivierungswesen, der die fundamentale Eigenschaft aller Materialien beschreibt, irgendwann zu verderben. Fäulnis und Zerfall liegen im System selber verborgen. Wir befinden uns im Jahr 1970 und dort, wo noch kurz zuvor der Traum der freien Liebe und des auf Marihuana gründenden Weltfriedens die Nachkriegsgeneration verzauberte, gärt es inzwischen: In Vietnam tobt ein sinnloser Krieg, dem abertausende junge Amerikaner zum Opfer fallen; unter Präsident Nixon boomt der Neokonservatismus; es bilden sich nazistische Gegenreaktionen auf die Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre; die Hoffnung der Ära hat spätestens mit den Verbrechen von Charles Manson und seiner Hippie-Kommune in blanke Paranoia umgeschlagen. Der Traum ist geplatzt; was bleibt, sind Ruinen, Wracks, Desillusionierte, Verräter – Mittzwanziger, die im Drogenrausch des Summer of Love am Heroin hängen geblieben sind, Aktivisten, die von diversen Bundespolizeien als Informanten rekrutiert wurden.

Und mittendrin schlägt sich Privatdetektiv Larry "Doc" Sportello (Joaquin Phoenix) irgendwie durchs Leben. Stets den Joint im Anschlag, stolpert er in Inherent Vice in ein dicht gesponnenes Netz aus Intrigen, krummen Geschäften, Drogenschiebereien und Zahnarzt-Kartellen, in dem die Indizien schnell nicht mehr von bizarren Zufällen, roten Heringen und hanfbedingten Halluzinationen zu unterscheiden sind. Was mit einem Hilferuf seiner Ex-Freundin Shasta Fay Hepworth (Katherine Waterston) beginnt, verwandelt sich schnell in ein haarsträubendes Puzzle, in dem Doc an eine schier endlose Reihe zwielichtiger Figuren und deren Interessen gerät. LAPD-Inspektor und Möchtegern-Schauspieler "Bigfoot" Bjornsen (ein wunderbarer Josh Brolin) möchte Doc als Undercover-Agenten für seine Zwecke gewinnen; Ex-Kommunist Coy Harlingen (Owen Wilson) will sein altes Leben wieder haben; derweil Doc mit seinem Anwalt Sauncho Smilax (Benicio del Toro in einer Rolle, wie sie einst Peter Falk gespielt hätte) herauszufinden versucht, inwiefern ein Immobilienhai (Eric Roberts) in die Machenschaften der Organisation "Golden Fang" verwickelt ist.

Im Los Angeles der Manson-Paranoia versucht Privatdetektiv Doc Sportello (Joaquin Phoenix, links) einen kniffligen Fall zu lösen. LAPD-Inspektor Bjornsen (Josh Brolin) ist ihm dabei nur bedingt behilflich.
© 2014 Warner Bros. Ent.
Der immer wieder an Robert Altmans The Long Goodbye erinnernde Film, obschon keinesfalls eine sklavische Adaption, ist Pynchon in Reinform: undurchdringlich, bevölkert von grotesken Figuren mit noch groteskeren Namen, ein Musterbeispiel für die Grundidee des amerikanischen Literatur-Postmodernismus, dass Wahrheit subjektiv und echte Realitätserkennung nicht selten ein Ding der Unmöglichkeit ist. Zu sehen, wie Anderson, welcher allein für das hervorragende Drehbuch zeichnet, die Vision eines anderen auf die Leinwand bannt, ist nach den bleiernen There Will Be Blood und The Master eine wahre Wohltat; der abseitige Humor Pynchons ein willkommener Ersatz für die erzwungene Ernsthaftigkeit, mit der Anderson normalerweise operiert. So fällt es auch leichter, sich an seinen unbestrittenen filmhandwerklichen Qualitäten zu erfreuen – seinem Auge fürs Detail, seinem Sinn für Zeitkolorit. Trotz aller ironisch-satirischen Verfremdung ist das L.A. des Hippie-Hangovers in Inherent Vice, dank authentischer Dialoge, vorzüglicher Mise en scène und Robert Elswits zeitgemässer Kameraarbeit, ein Ort voller Leben und Charakter, in dessen skurrilen Endzeit-Wahnsinn man nur zu gerne zweieinhalb Stunden lang versinkt.

★★★★

Donnerstag, 12. Februar 2015

Jupiter Ascending

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Ein Platz in der Filmhistorie ist Andy und Lana Wachowski dank ihres bahnbrechenden Cyberpunk-Meilensteins The Matrix sicher. Seit dessen Erscheinen 1999 hat das Geschwisterpaar jedoch kaum mehr zwingende Gründe geliefert, sich ihrer zu erinnern. Aktuellstes Beispiel: Jupiter Ascending.

Nebendarsteller Douglas Booth lag mit seiner vermutlich ehrerbietig gemeinten Aussage, die neueste Regiearbeit der Wachowskis sei eine Mischung aus The Matrix und Star Wars, gar nicht weit daneben. Statt der ich-bewussten Maschinen, welche im (unvorteilhaft gealterten) ersten Teil der Matrix-Trilogie die Erde als eine Art Farm zur Sicherung der eigenen Energie unterhalten, ist es hier das Alien-Adelsgeschlecht Abrasax (Booth sowie Eddie Redmayne und Tuppence Middleton), das seine extreme Langlebigkeit dem "Ernten" bewohnter Planeten verdankt – eine Ähnlichkeit, welche näher am Selbstplagiat als an Motiv-Kontinuität liegt. Die Parallelen zu George Lucas' Weltraum-Oper sind indes nicht etwa in detailreichen ausserirdischen Welten oder spektakulären Effekten zu finden, sondern beschränken sich auf Anleihen der bemühendsten Elemente der ohnehin überwiegend missratenen Star Wars-Prequels. Kreiste Episode I: The Phantom Menace dramaturgisch um nebulöse intergalaktische Handelsabkommen, spielen sich in Jupiter Ascending fürchterlich überhastet erklärte Erbfolge-Querelen und undurchsichtige Machenschaften mit kosmischer Rendite ab.

Als menschliche Protagonistin in diesem haarsträubenden Stück Mumpitz agiert Jupiter Jones (die manieriert spielende Mila Kunis), eine russische Einwandererin, die in Chicago ein eher unbefriedigendes Leben führt – bevor sie eines Tages vom ausserirdischen Ex-Polizisten und Kopfgeldjäger Caine (Channing Tatum in einem unerklärlichen Rückschritt nach Foxcatcher) vor einer Horde böser Aliens gerettet wird. Eine wilde Verfolgungsjagd durch die Stadt führt sie zu Caines einstigem Vorgesetzten Stinger (Sean Bean, welcher oftmals seine Linien aus Game of Thrones zu reziklieren scheint), der Jupiter eröffnet, dass sie die wichtigste Variable im Kampf zwischen den Abrasax-Geschwistern ist. Die Welt, in die sie die beiden genmutierten Retorten-Soldaten einführen, ist proppenvoll von halbherzig etablierten Mythologien, kaum je gezeigten fremden Planeten und Raumstationen sowie hirnrissigen, gleichermassen unscharf skizzierten Entstehungsgeschichten. Das Ganze könnte über einen gewissen altbackenen Charme verfügen – vergleichbar Andrew Stantons unterbewertetem John Carter –, würde die Wachowski-Farce, mit Ausnahme einiger schrecklicher Witzversuche, nicht darauf beharren, mit heiligem Ernst die zynische Kalkulation des Kapitalismus anprangern zu wollen.

Weltraum-Seifenoper: Die Erdenbewohnerin Jupiter (Mila Kunis) erfährt dank dem Soldaten Caine (Channing Tatum) von ihrer Rolle in einem intergalaktischen Konflikt.
© 2014 Warner Bros. Ent.
So aber tappen Andy und Lana (vormals Larry) Wachowski in die gleiche Falle wie in ihrer nur geringfügig besseren Romanverfilmung Cloud Atlas (2012), welche in sechs zeitlich weit auseinander liegenden, thematisch aber eng miteinander verschlungenen Geschichten mit Hilfe bedeutungsschwangerer Dialoge und lächerlich kostümierter Schauspieler so etwas wie eine philosophische Botschaft zu vermitteln versuchte. Zwischen Ambition und Endresultat klafft ein unüberwindbarer Graben; die hohen, wie in The Matrix in einer comichaften Handlung verborgenen Ansprüche zeugen angesichts des schwachsinnigen Rests eher von Selbstüberschätzung denn von satirischem Biss. (Siehe die deplatzierte, an Brazil angelehnte Bürokratie-Persiflage, welche einzig und allein dazu dient, Gaststar Terry Gilliam eine Plattform zu bieten.)

Doch auch als blosses Science-Fiction-Spektakel versagt Jupiter Ascending praktisch auf der ganzen Linie. Muss die frustrierend passive Jupiter nicht gerade in einer desorientierenden, nicht enden wollenden Knall- und Explosions-Orgie aus einer misslichen Lage befreit werden, werden grauenvoll klischierte, absolut nichts sagende Gespräche geführt, welche auch von einem irrwitizig chargierenden Eddie Redmayne – nahe an Jeremy Irons' berüchtigter Darbietung in Dungeons & Dragons – nicht gerettet werden können. 2015 mag noch keine zwei Monate alt sein, doch schon jetzt dürfte Jupiter Ascending als Favorit auf den Titel des schlechtesten Films des Jahres feststehen.

Donnerstag, 5. Februar 2015

Foxcatcher

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Im auf wahren Begebenheiten beruhenden Foxcatcher erzählt Regisseur Bennett Miller nicht nur ein subtiles, unterschwellig brodelndes Charakterdrama um Ambition, Rivalität und Hybris; er findet darin auch eine beklemmende Parabel auf die Illusion des amerikanischen Traumes.

Miller ist ein Spezialist des faktenbasierten Kinos. 1998 legte er mit der Dokumentation The Cruise über einen New Yorker Fremdenführer ein gefeiertes Debüt vor. 2005 rekonstruierte er in Capote mit einem grandiosen Philip Seymour Hoffman in der Titelrolle die Entstehungsgeschichte von Truman Capotes Tatsachenbericht In Cold Blood. 2011 drehte er in Zusammenarbeit mit Aaron Sorkin, dem Autor des Facebook-Porträts The Social Network, das Sportdrama Moneyball, in dem neuartige Scouting-Methoden den amerikanischen Traditionssport schlechthin zum Sprung ins 21. Jahrhundert zwingen.

Und nun also Foxcatcher – die Geschichte der Brüder Mark (Channing Tatum) und Dave Schultz (Mark Ruffalo), welche bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles beide eine Goldmedaille im Ringen gewinnen und daraufhin vom sportbegeisterten Krösus John du Pont (Steve Carell) darum gebeten werden, sich auf seinem Anwesen, genannt "Foxcatcher", unter seiner Führung auf Olympia 1988 vorzubereiten. Dave lehnt aus familiären Gründen ab, doch der jüngere Mark erhofft sich vom Szenerie-Wechsel die Chance, endlich aus dem Schatten seines Bruders treten zu können.

Was in der Folge geschieht – Weltmeistertitel, Foxcatcher-Expansion, Wahnsinn, ein Verbrechen –, arbeitet Miller mit Hilfe eines soliden Skripts von Dan Futterman und E. Max Frye minutiös auf. Ohne grosse Gesten entwickelt Foxcatcher die sich verschiebenden Beziehungen unter den Figuren; viele Szenen leben nicht vom Dialog, sondern von aufgeladenem Schweigen. Die eindringlich aufspielenden Darsteller deuten durch Blicke, Pausen und Bewegungen Gedanken und Motivationen an, die erst viel später offenkundig werden. Gerade Steve Carell, der nach seinen Leistungen in Little Miss Sunshine und Dan in Real Life nun endgültig sein beträchtliches Talent ausserhalb des reinen Komödiengenres unter Beweis stellt, ist eine einnehmende, unheimliche Präsenz – ein vom eigenen Reichtum Geblendeter, der alles will, alles kann ("Ornithologist, philatelist, philanthropist"), alles darf und selbst in seinen grosszügigen Momenten wie ein eiskaltes, gnadenloses Raubtier wirkt.

Der steinreiche Sportfanatiker John du Pont (Steve Carell, links) nimmt Mark Schultz (Channing Tatum), Olympiasieger im Ringen, unter seine Fittiche.
© Ascot Elite Entertainment Group
Coach du Pont, der Schosshund seiner missbilligenden Mutter (Vanessa Redgrave), ist es auch, der dem Film seine sozialkritische Note verleiht. Miller, ganz der scharfsinnige Ikonoklast, erzählt hier von der Absurdität des "American Exceptionalism", von der Legende der Meritokratie Amerika, in der Athleten wie Mark oder Dave zwar dank Selbstinitiative und harter Arbeit reüssieren, letztendlich aber dennoch dem Joch des Mammons unterworfen sind – selbst während der individualistischen Reagan-Jahre. Du Pont, ja der ganze leere, tot scheinende Foxcatcher-Komplex, ist ein Überbleibsel aus der alten Welt; der Geldadel, blind gegenüber seinen eigenen Einschränkungen, beherrscht in den angeblich klassenlosen Vereinigten Staaten Politik, Kultur und Gesellschaft. Foxcatcher, obschon nicht ganz so packend wie Moneyball, ist eine zeitgemässe Dekonstruktion der US-Oligarchie, welche die eigene Allmächtigkeit der Welt als Gipfel des Patriotismus verkauft.

★★★★

Mittwoch, 4. Februar 2015

Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance)

Wer sich zum Kern von Alejandro González Iñárritus Birdman vorarbeiten will, sieht sich mit einem dichten Geflecht aus Ironie, Selbstreflexivität und postmoderner Anspielungswut konfrontiert, welches das ganze Konstrukt im Grunde gegen jedwede Kritik immunisiert. Wirken gewisse Figuren geradezu grobschlächtig simpel gestrickt, lässt sich dies als beabsichtigter Kommentar auf ihre pathologische Oberflächlichkeit lesen. Möchte man sich über die streckenweise hölzern-theaterhaften Dialoge aufhalten, muss man die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass hier, wie etwa in Vanya on 42nd Street von Louis Malle oder La Vénus à la fourrure von Roman Polanski, lediglich Film und Bühne ineinander fliessen.

Doch Iñárritu lässt es nicht bei dieser Verschränkung von Theater und Kino – welche unterstrichen wird durch die digital erzeugte Illusion, Birdman sei in einer einzigen Einstellung gefilmt – bewenden: Sein Film, untermalt von Antonio Sánchez' stimmig-expressivem Schlagzeug-Score, überschreitet auch, symbolisch und buchstäblich, die Grenze zur dem Publikum vertrauten Realität. (Insofern hätte es nicht überrascht, wenn Iñárritu und Kameramann Emmanuel Lubezki auf die 3-D-Technik zurückgegriffen hätten.) Symbolisch, weil Michael Keaton – Tim Burtons Batman –, umgeben von anderen Comicverfilmungs-Veteranen wie Emma Stone (The Amazing Spider-Man) und Edward Norton (The Incredible Hulk), in die Rolle des Riggan Thomson schlüpft, eines abgehalferten Actionstars, dem um 1990 als Blockbuster-Superheld Birdman Hollywood zu Füssen lag und der sich nun am Broadway mit einer Bühnenadaption von Raymond Carvers Kurzgeschichte What We Talk About When We Talk About Love der gehobenen Kultur zuwenden möchte. Buchstäblich, weil Riggan sich wiederholt in Diskussionen mit der Birdman-Stimme in ihm verwickeln lässt, die sich schlussendlich auch direkt an den Kinozuschauer wendet und diesem eine Vorliebe für krachende Action statt "philosophisches Gefasel" ankreidet.

Der Film verfügt dank seines vielschichtigen Spiels mit erfundener und tatsächlicher Realität über einen doppelten Boden, der es ihm erlaubt, so zu wirken, als würde er alles oder nichts von dem, was er und seine Charaktere so treiben, Ernst nehmen. In weniger kompetenten Händen hätte dies schnell zu einer seelenlosen Meta-Etüde degenerieren können, einer Peer Gynt'schen Lauchzwiebel voller Schichten, aber ohne Kern. Doch der doppelte Boden hält: Birdman gelingt es, nicht zuletzt auf Grund seines erfrischend lockeren Umgangs mit dem eigenen Anspruch, einem seinen raffinierten Schwindel überzeugend als wundersamen Zaubertrick zu verkaufen, der sich, bei allem Augenzwinkern – ein angenehmer Kontrast zur leicht dogmatischen Ernsthaftigkeit eines Black Swan –, mit seriösen Themen perzeptiv auseinandersetzt.

Der einstige Actionstar Riggan Thomson (Michael Keaton) will nicht nur seine Karriere, sondern auch seine Beziehung zu seiner Tochter Sam (Emma Stone) retten.
© 2014 Twentieth Century Fox Film Corporation
So findet sich in Iñárritus Drehbuch – entstanden unter der Mitarbeit von Armando Bo, Nicolás Giacobone und Alexander Dinelaris Jr. – etwa die spannende und unumgänglich selbstreflexive Interpretation, dass Kunst an sich effektiv nichts anderes ist als ein aufwändiger Zaubertrick, der sein Publikum im Erfolgsfall in seinen Bann zu ziehen vermag und, in seltenen erlesenen Momenten, etwas über das Leben in seiner Gesamtheit zu sagen hat. Ganz der postmodernen Weltanschauung entsprechend, verlieren dabei sämtliche Distinktionen zwischen hoher und tiefer Kultur ihre Bedeutung. Für die hochnäsige Feuilleton-Kritikerin Tabitha Dickinson (Lindsay Duncan), die Riggans Stück ungesehen zu zerreissen gedenkt – der vielleicht eindimensionalste Charakter des Films –, ist dies unerträglich; für Roland Barthes, der standesgemäss von einem Interviewer zitiert wird, ist es selbstverständlich.

Kunst ist Wahrheit und Lüge zugleich: Dieser verschachtelte Widerspruch verdichtet sich in Birdman zur Figur des Mike Shiner (Norton, bisweilen auf den Spuren seiner Rolle in Fight Club), der als selbstverliebter Stanislavski-Strasberg-Darsteller nur auf der Bühne er selbst sein kann und abseits davon zu genuinen Gefühlen unfähig ist. Der Film lässt aber offen, ob es sich dabei um die grundlegende Tragik oder die narzisstische Affektiertheit seines Berufs handelt. In einer der besten Szenen wankt indes Riggan in einen Schnapsladen, während auf der Strasse hinter ihm ein Schauspieler Macbeths "Tomorrow and tomorrow and tomorrow"-Soliloquie in die Nacht hinaus schreit, in der nicht nur die vergängliche menschliche Existenz mit dem Bühnendasein eines Mimen und seiner Figur verglichen wird, sondern auch der Urheber erzählender Kunst – Gott, der Autor, der Interpret – als "fool" und "idiot" bezeichnet wird. Die Soliloquie bildet in vielerlei Hinsicht das Herzstück des Films. Sie vereint den postmodernen Zusammenbruch von Hierarchien – das hehre Leben geht Hand in Hand mit der profanen Unterhaltung –, die Beziehung zwischen Fiktion, ihrem Vermittler und dessen Realität sowie die Flüchtigkeit menschlichen Daseins in sich.

Riggans ohnehin angeschlagene Psyche wird vom narzisstischen Theatermimen Mike Shiner (Edward Norton) arg auf die Probe gestellt.
© 2014 Twentieth Century Fox Film Corporation
Letzteres ist es auch, worum sich Riggans Geschichte mit all ihren Verästelungen letztendlich dreht. Der Konflikt mit seiner Birdman-Persona, sein Versuch, das Verhältnis zu seiner Tochter (Stone), zu seiner Ex-Frau (Amy Ryan) und zu seiner Freundin und Co-Schauspielerin (Andrea Riseborough) zu retten, die Verbissenheit, mit der er und sein Anwalt (Zach Galifianakis) um das Gelingen des Carver-Projekts kämpfen – all das ist ein Ausdruck von Riggans Angst, der Welt, wenn überhaupt, nur als maskierter Hampelmann in Erinnerung zu bleiben. Zwar verweist der Film mit einem diesbezüglichen Monolog Emma Stones wohl mit zu viel Nachdruck auf diese Dimension der Erzählung, doch der Punkt verliert deswegen kaum an Überzeugungskraft.

Die häufige Erwähnung von Popkultur-Phänomenen wie Facebook, Twitter, iPhone-Journalismus, Hunger Games, Iron Man und X-Men mutet auf den ersten Blick wie plumpe Spezifität mit technophobem Anstrich an, erweist sich jedoch allmählich als gerissener Kommentar auf das Paradox, dass sich die 2010er Jahre darauf spezialisiert zu haben scheinen, alles aufzuzeichnen und gleichzeitig alles zu vergessen. Nicht wenige, wenn nicht alle, Anspielungen, und vielleicht sogar Birdman selber, werden in einigen Jahrzehnten obskure Referenzen sein – "hohes" Kulturgut für die Tabitha Dickinsons der Zukunft. Sich in diesem Klima selber unsterblich machen zu wollen, wie Riggan es verzweifelt versucht, ist ein Schrei ins Nichts. Doch Iñárritus unvollkommener, aber endlos faszinierender Film, emotional getragen von Michael Keatons grandioser, trotz aller Ironie tief empfundener Darbietung, ist es wert, dass man sich an ihn erinnert.

★★★★★

Dienstag, 3. Februar 2015

The Imitation Game

© Ascot Elite Entertainment Group

★★★

"So this is by no means a bad film. It is an accomplished narrative feature in the famously reserved British way – expertly filmed and edited, rigorously doing away with any kind of narrative frills, sporting immaculate costumes and sets. But a movie can only be so streamlined before it starts to veer towards featurelessness."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).