Sonntag, 22. Februar 2015

Into the Woods

Erweiterungen und Neuinterpretationen bekannter (Kinder-)Geschichten erfreuen sich im Kino spätestens seit Tim Burtons Alice in Wonderland (2010) einer beachtlichen Beliebtheit. Zwar konnten Alice, in dem die Titelfigur als 19-Jährige ins Wunderland zurückkehrt, Red Riding Hood, Sam Raimis Oz the Great and Powerful, der dem "Zauberer" aus The Wizard of Oz einen heroischen Hintergrund andichtet und Maleficent, eine Neubewertung der Antagonistin aus Disneys Sleeping Beauty, ansehnliche Einnahmen verzeichnen, aber die Kritiker wussten mit keinem wirklich etwas anzufangen. Fast schon musste man annehmen, den düsteren Versionen fantastischer Stoffe sei nur auf den Musical-Bühnen des Broadway qualitativer Erfolg vergönnt – gerade im Angesicht von Stephen Schwartz' Wicked (nach The Wizard of Oz) oder Stephen Sondheims Märchen-Potpourri Into the Woods.

Mit der Verfilmung von Letzterem hat sich zwar das Blatt vielleicht nicht gewendet, doch wurde dem Subgenre damit zumindest ein überzeugender, solider Eintrag geschenkt. (Ersteres soll Gerüchten zufolge in absehbarer Zukunft von Stephen Daldry auf die Leinwand gebracht werden.) Regie führte Rob Marshall, der 2002 mit dem preisgekrönten Chicago dem Hollywood-Filmmusical neues Leben einhauchte; James Lapines Drehbuch, obschon an manchen Stellen gekürzt und zurecht gestutzt, hält sich weit gehend an die 1986 von Lapine selber verfasste Bühnen-Vorlage.

Mit Hilfe eines kinderlosen Bäckerpaares (Emily Blunt, James Corden) im Zentrum der Geschichte verwebt Into the Woods die klassischen Märchen Aschenputtel, Rotkäppchen, Rapunzel sowie Jack and the Beanstalk zu einem ebenso fantasievollen wie kritisch-ironischen Mash-Up, in dessen Verlauf die dunklen Seiten – von den einschlägigen Disney-Adaptionen gerne übergangen – und die psychologischen Abgründe dieser Märchenstoffe frei gelegt werden. Da überrascht es auch nicht, dass es Bruno Bettelheims Buch The Uses of Enchantment war, das Sondheim (A Funny Thing Happened on the Way to the Forum, Sweeney Todd, West Side Story) und Lapine als Inspiration zu ihrem Musical diente – eine Freud'sche Analyse der Symbolik bekannter Volksmärchen.

Wegen eines Fluchs der Hexe (Meryl Streep) bleibt der Kinderwunsch von Bäckerin (Emily Blunt) und Bäcker (James Corden) unerfüllt.
© The Walt Disney Company Switzerland
Wie schon auf der Broadway-Bühne spielt sich Into the Woods, grob gesagt, in zwei Hauptakten ab. Eine lebhafte Ouvertüre, in der sich die Kamera mit der Flinkheit einer Busby-Berkeley-Nummer durch den Raum bewegt, etabliert die Umstände, unter denen sich das Figuren-Ensemble anschickt, das sichere Dorf zu verlassen und in den finsteren Wald zu einzudringen: Jack (Daniel Huttlestone) wird von seiner Mutter (Tracey Ullman) ins Nachbardorf geschickt, wo er seine geliebte weisse Kuh verkaufen soll. Cinderella (Anna Kendrick) schleicht sich trotz des Verbots ihrer bösen Stiefmutter (die ideal besetzte Christine Baranski) in einem goldenen Kleid zum Ball des Prinzen (Chris Pine). Und Little Red Riding Hood (Lilla Crawford) bricht auf, um ihrer kranken Grossmutter Kuchen und Brot zu bringen. Währenddessen erfahren Bäcker und Bäckerin von ihrer Nachbarin, der Hexe (Meryl Streep), dass ihre Kinderlosigkeit auf einen Fluch zurückzuführen ist, für dessen Umkehr sie vier Objekte beschaffen sollen: Eine Kuh so weiss wie Milch, einen Schuh so pur wie Gold, einen Umhang so rot wie Blut und Haare so gelb wie Mais. Was folgt, ist eine wilde Hetzjagd durch den verzauberten Wald im Stile von Shakespeares Midsummer Night's Dream, in dem unter anderen auch noch die in einen Turm gesperrte Rapunzel (MacKenzie Mauzy) und ihr Prinz (Billy Magnussen) nach ihrem persönlichen Happy End suchen.

Auf der Suche nach den Zutaten, die den Fluch rückgängig machen können, trifft das Bäckerpaar auf den aufmüpfigen Jack (Daniel Huttlestone).
© The Walt Disney Company Switzerland
Haben die Protagonisten aber erst einmal ihr "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute" erreicht – nach aufgeschlitzten Wölfen, abgeschnittenen Zehen und Fersen und ausgestochenen Augen, wie es bei den Gebrüdern Grimm geschrieben steht –, lässt der Film nicht von ihnen ab: Wie dauerhaft die märchenhafte Seligkeit ist, muss sich in Akt zwei erst noch herausstellen.

Ganz so radikal wie Sondheims und Lapines Original geht dieser Into the Woods zwar nicht vor, doch auch Marshall weiss den alten Geschichten durchaus mit hinterlistiger Subversion zu begegnen. Zwischen den Beinen seines bösen Wolfs (Johnny Depp) ist im Gegensatz zum Bühnen-Pendant kein penisförmiger Fortsatz zu finden, doch die Implikation, dass in Rotkäppchen Pädophilie und sexuelles Erwachen eine Rolle spielen, wird dennoch mit schelmischem Schalk vermittelt – wozu nicht zuletzt die kecke Lilla Crawford und besonders der voller Energie aufspielende Depp, der die Lethargie seiner jüngeren Darbietungen hinter sich lässt und sich in der vielleicht besten Form seit Alice in Wonderland zeigt, beitragen. Die Bedeutung der Hexenfigur wiederum wird – trotz einer signifikanten Subplot-Beschneidung gegenüber dem Quellenmaterial – von Marshall, Lapine und der furiosen Meryl Streep auf spannende Art und Weise und mit einer Reihe pointierter und stilsicher inszenierter Lieder neu ausgehandelt; ihr zwielichtiges Handeln erhält Motivation, ihre Taten eine gewisse Resonanz. Für den satirisch-komödiantischen Höhepunkt sorgen indes die beiden Prinzen – ein Traumpaar aus der Warte von Dogberry und Verges –, deren wunderbar überzeichneter Liebes-Klagegesang "Agony" die fundamentale Belanglosigkeit ihresgleichen darlegt.

Und auch Cinderella (Anna Kendrick) spielt beim Abenteuer der Bäcker eine Rolle.
© The Walt Disney Company Switzerland
Doch obwohl sie unverkennbar der Lächerlichkeit preisgegeben werden, sind es nicht die Prinzen, die das härteste Los des Films trifft. Die der Produktion auferlegten Kürzungen, die sich insbesondere während des zweiten Akts bemerkbar machen – und die, angesichts der Fülle von Figuren, das Ganze etwas überladen wirken lassen –, nehmen gewissen Szenen die nötige Rahmung, um den erwünschten Effekt zu erzielen. So wird Rapunzel nicht nur ihres tragischen Endes, sondern überhaupt eines konkreten Endes beraubt; derweil das Schicksal der Bäckerin durch die Abfolge der Geschehnisse einen leisen, aber klar feststellbaren, frauenfeindlichen Unterton erhält.

Letztlich erfüllt Into the Woods seinen Auftrag als Adaption gerade gut genug. Erzählerischen Unzulänglichkeiten und der Tatsache, dass gewisse Darsteller beim Singen natürlicher agieren als beim Sprechen (Emily Blunt, Daniel Huttlestone), stehen die vorzüglichen Schauwerte Ausstattung und Kostüme gegenüber sowie der weitgehende Verzicht auf allzu ausuferndes CGI, welches Burtons Alice, Raimis Oz und Robert Strombergs Maleficent ihre berüchtigte Plastik-Ästhetik verlieh. Dass Marshalls Film funktioniert, das muss festgehalten werden, ist wohl nicht so sehr sein eigenes Verdiens als vielmehr jenes von Sondheim und Lapine. Kann man als Kinozuschauer das Original auf der Bühne nicht erleben, stellt Into the Woods eine taugliche Notlösung dar. 

★★★

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