Selma ist grundsolides Erzählkino, das mit der gebührenden Balance zwischen Ehrfurcht und kritischer Distanz aufzeigt, wie der Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. (David Oyelowo) 1965 als frisch ausgezeichneter Friedensnobelpreisträger in Selma, Alabama, zum friedlichen Protest gegen die Rassendiskriminierung aufruft. Denn obwohl Präsident Lyndon B. Johnson (Tom Wilkinson) im Jahr zuvor den Civil Rights Act verabschiedete, der allen Schwarzen das Wahlrecht gewährte und die Segregation verbot, werden Afroamerikaner gerade in den Staaten der ehemaligen Konföderation, insbesondere in Alabama unter Gouverneur George Wallace (Tim Roth), immer noch mit perfiden Mitteln am Ausüben ihres Bürgerrechts gehindert. Also organisieren King und seine Kollegen von der Southern Christian Leadership Conference (SCLC), James Bevel (Common) und Hosea Williams (Wendell Pierce), gewaltlose Demonstrationen und planen einen Marsch von Selma zur Staatslegislatur in Montgomery – trotz der mitunter brutalen Reaktion seitens der Polizei und der weissen Bevölkerung.
DuVernays Film ähnelt in seiner Interpretation jüngerer amerikanischer Geschichte dem insgesamt eher missratenen The Butler. Die Farben mögen weniger grell sein, das Geschehen weniger nah an der Karikatur, Emotionen und Konflikte weniger plakativ; der grossartige David Oyelowo, der sowohl Kings feuriges Charisma als auch seine oft kommentierte Demut furios verkörpert, ist ein anregenderer Protagonist als Forest Whitaker mit seiner Autopiloten-Darbietung; und nicht zuletzt profitiert Selma davon, sich nicht auf die ganze afroamerikanische Nachkriegsgeschichte, sondern lediglich auf ein Weg weisendes Ereignis zu konzentrieren.
1965: Martin
Luther King Jr. (David Oyelowo, stehend) führt einen Protestmarsch gegen
Rassendiskriminierung in Selma, Alabama, an. © Pathé Films AG |
Doch wie Daniels geben sich Du Vernay und Skripteur Paul
Webb im Grunde damit zufrieden, die Geschichte dar- und nachzustellen. Die
Handlung pflügt unaufhaltsam voran, die grossen Momente – Sheriff Jim Clark
(Stan Houston), der von Annie Lee Cooper (Oprah Winfrey) einen Schlag versetzt
bekommt, die Morde am schwarzen Demonstranten Jimmie Lee Cooper (Keith
Stanfield) und dem weissen Pfarrer und King-Bewunderer James Reeb (Jeremy
Strong) – werden ordnungsgemäss abgehakt; Ikonen beider Seiten des Konflikts,
von J. Edgar Hoover (Dylan Baker) über Malcolm X (Nigel Thatch) bis hin zu
Mahalia Jackson (Ledisi Young), haben ihren obligaten Kurzauftritt. Das schafft
Atmosphäre und einen dokumentaristischen Sinn für die Epoche; doch es fehlen
die Details, die das Ganze effektiv zum Leben erwecken, und die psychologische
Dringlichkeit, welche die Vergangenheit unmittelbar greifbar macht.
So verdankt Selma seine zweifellos vorhandene Resonanz in erster Linie DuVernays stilsicherer Inszenierung – abgesehen vom übermässigen Gebrauch dramatischer Zeitlupen –, in welcher der expressive Einsatz von Musik eine grosse Rolle spielt (Höhepunkte: Odettas "Masters of War" und der Abspannsong "Glory", einem raffinierter Hybriden aus den "schwarzen" Genres Gospel, Rap und Blues), Oyelowos bemerkenswerter Schauspielleistung sowie seinem inhärenten Aktualitätsbezug. Vor dem Hintergrund umstrittener Wahlgesetz-Reformen, durch welche besonders afroamerikanische Gemeinden benachteiligt werden, und der wohl einschneidendsten US-Rassenunruhen seit den Los Angeles Riots 1992 – ausgelöst durch die vermeidbaren, strafrechtlich kaum verfolgten Tötungen von Mike Brown in Ferguson, Missouri, und Eric Garner in Staten Island, New York – erhält die Geschichte um den Widerstand des schwarzen Selma gegen Polizeibrutalität, die Vorurteile des weissen Bürgertums und die Gleichgültigkeit – oder die Feindseligkeit – der weissen Obrigkeit eine aufwühlende Schärfe.
★★★★
So verdankt Selma seine zweifellos vorhandene Resonanz in erster Linie DuVernays stilsicherer Inszenierung – abgesehen vom übermässigen Gebrauch dramatischer Zeitlupen –, in welcher der expressive Einsatz von Musik eine grosse Rolle spielt (Höhepunkte: Odettas "Masters of War" und der Abspannsong "Glory", einem raffinierter Hybriden aus den "schwarzen" Genres Gospel, Rap und Blues), Oyelowos bemerkenswerter Schauspielleistung sowie seinem inhärenten Aktualitätsbezug. Vor dem Hintergrund umstrittener Wahlgesetz-Reformen, durch welche besonders afroamerikanische Gemeinden benachteiligt werden, und der wohl einschneidendsten US-Rassenunruhen seit den Los Angeles Riots 1992 – ausgelöst durch die vermeidbaren, strafrechtlich kaum verfolgten Tötungen von Mike Brown in Ferguson, Missouri, und Eric Garner in Staten Island, New York – erhält die Geschichte um den Widerstand des schwarzen Selma gegen Polizeibrutalität, die Vorurteile des weissen Bürgertums und die Gleichgültigkeit – oder die Feindseligkeit – der weissen Obrigkeit eine aufwühlende Schärfe.
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