Donnerstag, 26. März 2015

Leviathan

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Finanziell unterstützt vom russischen Kulturministerium, hält Regisseur Andrey Zvyagintsev in seinem neuesten Drama dennoch nicht mit Gesellschafts- und politischer Kritik am eigenen Land zurück. Leviathan ist ein eindrückliches, minutiös inszeniertes Psychogramm des modernen Russland.

Lange muss man in diesem Film nicht nach symbolträchtigen Bildern und Szenen Ausschau halten. Die an die Sagen von Hiob und Sisyphos angelehnte Geschichte vom Automechaniker Kolya (Aleksei Serebryakov), der mit seiner Frau Lilia (Elena Lyadova) und seinem pubertierenden Sohn Roma (Sergey Pokhodaev) in einer tristen, postindustriellen Kleinstadt an der eisigen Barentssee-Küste lebt und verzweifelt versucht, es mit dem korrupten Orts- und Oblast-Elite-Klüngel aufzunehmen, ist dicht gesät mit scharfsinnigen, sardonischen und viel sagenden Kommentaren zur Lage in der Russischen Föderation Vladimir Putins. "Kein europäischer Standard natürlich, dafür mit Herz!", meint Lilias Arbeitskollegin (Anna Ukolova) über die Qualität der hiesigen Plattenbau-Wohnungen – ein Standard, mit dem sich Kolya und seine Familie wohl oder übel arrangieren müssen, nachdem es Bürgermeister Vadim (Roman Madyanov – hervorragend, trotz einer etwas plakativen Figur) gelungen ist, ihnen ihr Land widerrechtlich abzujagen. Auf einem Sonntagsausflug müssen die offiziellen Porträts einstiger Staatsoberhäupter – Brezhnev, Lenin, Gorbachev – als Schiess-Zielscheiben herhalten; auf Kolyas Frage, ob er auch aktuelle Potentaten im Angebot habe, raunt sein Saufkumpan (Sergey Bachurskiy) etwas von "fehlender historischer Distanz".

Das eindringlichste und zugleich wohl am tiefsten greifende Bild in Leviathan ist Skelett eines in der Dorfbucht gestrandeten Wals – ein buchstäblicher Leviathan, wind- und wettergebleicht, kahl gefressen, ausgehöhlt. Es ist nicht schwer, den toten Meeresgiganten als Symbol für Russland selbst zu lesen, den unbezwingbar scheinenden historischen Riesen, welcher über die Jahrhunderte kaum je an Grösse, wohl aber an Substanz eingebüsst hat. Die geopolitische und kulturelle Macht des Zarenreichs ging über in die massive Block-Struktur der Sowjetunion, welche ihrerseits von kapitalistisch-oligarchisch geprägtem Klientelismus abgelöst wurde. Das Land existiert noch als Skelett, als undurchdringliche Bürokratie, deren Repräsentanten – mit dem Segen der ebenso korrupten orthodoxen Kirche, hier vertreten durch einen doppelzüngigen Bischof (Valeriy Grishko) – entweder nicht präsent oder dann nicht zuständig sind.

Kolya (Aleksei Serebryakov) und seine Frau Lilia (Elena Lyadova) werden von der lokalen Elite von ihrem Grundstück vertrieben.
© cineworx
Es ist Zvyagintsev und Co-Autor Oleg Negin hoch anzurechnen, diese gewichtige, höchst immersive Mischung aus Satire und ernsthaftem Plädoyer gegen den gesellschaftlichen Zerfall auf die intime Ebene von Kolyas Windmühlen-Kampf herunterzubrechen. Leviathan, von Kameramann Mikhail Krichman grandios eingefangen und angereichert mit stimmungsvoll eingesetzten Musikstücken von Philip Glass, zeichnet sich durch seine simpel-sachliche Erzählweise aus, deren Implikationen zwar klar ersichtlich sind, das menschliche Drama zwischen Kolya, Lilia, Vadim und Kolyas Anwalt und Freund Dmitri (Vladimir Vdovichenkov) aber niemals in den Hintergrund drängen. So gelingt Zvyagintsev eine beeindruckende Gratwanderung zwischen perzeptivem politischem Arthouse-Film und Erzählkino in der Siebzigerjahre-Tradition von New-Hollywood-Grössen wie Pakula, Penn, Nichols oder Pollack. Leviathan ist ein umfassendes Porträt eines expandierenden, aber innerlich verrottenden Russland auf dem Weg zur Implosion.

★★★★

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