Donnerstag, 30. April 2015

Ex Machina

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Sein Erstlingsroman The Beach bescherte dem Briten Alex Garland 1996 einen Überraschungserfolg; der von ihm geschriebene Film 28 Days Later gilt als eines der besten Genrewerke des neuen Jahrtausends. Nach Ex Machina, seinem ersten Gehversuch als Regisseur, drängt sich die Frage auf: Warum erst jetzt?

Dass sich gerade für gelernte Autoren ein Disziplinenwechsel als tückisch herausstellen kann, musste vor knapp einem Jahr Garlands Landsmann Hossein Amini feststellen: Gefeiert für seine Drehbücher zu Jude, The Wings of the Dove, The Four Feathers und Drive, versuchte er sich an einer Adaption von Patricia Highsmiths The Two Faces of January, die zwar mit erzählerischen Kniffen und anregenden Wendungen zu unterhalten wusste, letztlich aber ein allzu steif inszeniertes, blutleeres Konstrukt blieb. Doch derartiges widerfährt Garland in seinem Regiedebüt nicht – etwaige Schwächen von Ex Machina liegen eher bei der Inszenierung als beim Drehbuch.

Angesiedelt in einer nahen Zukunft, in der nicht Google, sondern das fiktive "BlueBook" der mächtigste Technologie-Konzern der Welt ist, erzählt das intensive Science-Fiction-Kammerspiel vom jungen BlueBook-Programmierer Caleb (Domhnall Gleeson), der nach dem Gewinn eines firmeninternen Preisausschreibens die Chance erhält, eine Woche lang mit CEO Nathan Garrick (ausgezeichnet: Oscar Isaac) in dessen abgeschiedenem Anwesen zusammenzuarbeiten. Die Aufgabe, die das kumpelhafte Genie für Caleb bereit hält, hat es in sich: Garrick hat einen menschenähnlichen Roboter (Alicia Vikander) geschaffen, den er Ava getauft hat und den sein Gast nun dem sogenannten "Turing-Test" unterziehen soll. In einer Reihe von Gesprächen soll Caleb ermitteln, ob Ava wirklich fühlt oder ob in ihrem synthetischen Hirn doch nur eine raffinierte Simulation abläuft. Garlands – enorm filmischer – Plot kommt ins Rollen, als der sensible Android sein Gegenüber davor warnt, Nathan zu vertrauen.

In seiner angestammten Funktion als Autor befindet sich Garland in solider, wenn auch nicht in exzellenter Form. Ex Machina besticht als äusserst seriöser Eintrag ins Sci-Fi-Genre, welchem seine thematischen Dimensionen mindestens ebenso wichtig sind wie sein Unterhaltungswert. Wie unlängst in Spike Jonzes Her wird auch hier die scheinbar fundamentale Trennlinie zwischen Mensch und Maschine kritisch überdacht – wenn ein Roboter natürliche Intuition reproduzieren könnte, was spräche dann noch dafür, ihn nicht als lebendes Wesen anzuerkennen? Ist die nächste Stufe der menschlichen Entwicklung artifiziell? Entreisst der Homo sapiens der Natur somit, geradezu prometheisch, das Primat der Evolution? Auch die Anklänge an Nietzsche und die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte – Caleb hält in Nathans privatem Eden sieben (!) Sitzungen mit Ava/Eva ab – tragen ihren Teil zur inhaltlichen Faszination von Ex Machina bei. Darüber hinaus verfügt der Film über eine straffe, stringente Handlung, welche die Erwartungshaltung des Publikums exakt zu erahnen und den Fortlauf der Geschichte entsprechend zu manipulieren scheint. Garland kennt die Topoi und lässt Zuschauer-Vermutung um Zuschauer-Vermutung gnadenlos auflaufen. Der Nachteil dieser klugen Plot-Konzeption jedoch ist, dass sie Spannung auf eine Auflösung schürt, die niemals gänzlich befriedigt werden kann.

Der junge Programmierer Caleb (Domhnall Gleeson, rechts) wird von seinem genialen Chef Nathan (Oscar Isaac) damit beauftragt, ihm bei seiner Forschung mit künstlicher Intelligenz zu helfen.
© Universal Pictures Switzerland
Der Weg zum etwas antiklimaktischen Ende ist allerdings ein überaus lohnenswerter. Garland brilliert in seiner neuen Rolle als Regisseur: Ex Machina begeistert mit ausdrucksstarken, gerade farblich herausragend komponierten Bildern, einem grossartig eingesetzten Sounddesign – Ben Salisbury und Geoff Barrow auf den Spuren von Trent Reznor und Atticus Ross (The Social Network, Gone Girl) – und einer Inszenierung, die mit minimalem Aufwand eine eindrückliche Atmosphäre von Klaustrophobie, Paranoia und existenziellem Horror heraufbeschwört. Garland macht auch auf dem Regiestuhl eine gute Figur.

★★★★★

Donnerstag, 23. April 2015

Les combattants

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Kaum ein anderes europäisches Land verfügt über einen so reichhaltigen und hochkarätigen Fundus an Regisseuren wie Frankreich. Mit dem 34-jährigen Thomas Cailley ist nun einem weiteren viel versprechenden Talent der Durchbruch gelungen. Sein Les combattants ist ein furioser Spielfilmerstling.

Wozu geht man heute eigentlich noch ins Militär? Die Kriege der Zukunft werden, so scheint es, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf offenem Schlachtfeld geführt; die Zeiten, in denen Wehrdienst zu einem respektablen Lebenslauf gehörte, neigen sich unaufhaltsam ihrem Ende zu; "Vaterlandsverteidigung" klingt im Zeitalter von Globalisierung, digitaler Vernetztheit und migrationsbedingter Multinationalität nach reaktionärem Festhalten an einer verschwundenen Vergangenheit. Es sind entsprechend auch nicht die grossen romantischen Vorstellungen von Heldentum und Bürgepflicht, die Arnaud (Kévin Azaïs) und Madeleine (Adèle Haenel) in Les combattants dazu animieren, sich zu einem sommerlichen Armee-Vorkurs im Südwesten Frankreichs zu melden. Während für den Zimmermann-Lehrling Arnaud die Armée de terre einen Ausbruch aus dem allzu geregelten Alltag und eine Staatsanstellung mit Aufstiegsmöglichkeiten darstellt, ist die forsche Madeleine fest davon überzeugt, der Welt stehe der gesellschaftliche Kollaps bevor, nach welchem fortgeschrittene Überlebenstechniken den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen werden. Das Militär ist nicht viel mehr als ein weiterer, letztlich defunkter Staatsbetrieb, der sein Personal mit krisenfesten Stellen anlockt – oder, in Madeleines Fall, als Vorbereitung auf eine staatenlose Zukunft dient. (Cailley zielt zwar in eine völlig andere Richtung, doch wer nach realen Parallelen zu Madeleines Motivation sucht, wird sich an die Hintergrundgeschichten europäischer IS-Rekruten erinnert fühlen.)

In dieser Schlussfolgerung findet Regisseur und Autor Cailley beträchtliches komisches Material (Stichwort: Nicolas Wanczycki als Oberleutnant Schleiffer); es ist keine grosse Überraschung, dass sich die lustigsten Momente des als Liebeskomödie vermarkteten Les combattants während des militärischen "Praktikums" von Arnaud und Madeleine abspielen. Dem Film ist aber weder daran gelegen, die geschichtsträchtige Armée française zu demontieren – die sanften Anlehnungen an Full Metal Jacket ergeben sich eher aus dem Schauplatz als auf Grund satirischer Hintergedanken –, noch daran, sie ins Lächerliche zu ziehen. Vielmehr stellt sie für Cailley ein weiteres Mosaikstück in der Desillusionierung seiner Protagonisten dar, jungen Franzosen um die 20, die versuchen, unter den gegebenen Umständen ihrem Leben einen Sinn zu geben, während die politischen Altherrschaften in Paris noch immer Grundsatzdiskussionen über Realitäten wie Einwanderer-Integration und die liberale Gesellschaft führen.

Zimmermann Arnaud (Kévin Azaïs) und die eigenwillige Pessimistin Madeleine (Adèle Haenel) nehmen aus unterschiedlichen Gründen an einem Militär-Vorkurs teil.
© filmcoopi
Les combattants ist in vielerlei Hinsicht ein grossartiger Film über die Stimmung in der (jungen) Mitte der französischen Gesellschaft, ohne dass Themen wie Klasse, Xenophobie oder Tagespolitik jemals explizit angeschnitten würden. In unaufdringlichen, aber maximal ausdrucksstarken Bildern erzählt Cailley eine zutiefst menschliche Geschichte über Selbstverwirklichung, Pflichtbewusstsein, Liebe und das Umgehen mit den Anforderungen, die das Leben an einen stellt. Eine Geschichte, in die es sich einzutauchen lohnt, auch dank zweier herausragender Hauptdarsteller, die es schaffen, ihren auf unterschiedliche Art und Weise unnahbaren Charakteren – Madeleine evoziert zuweilen den von Katastrophen besessenen Heinrich Gladney in Don DeLillos Roman White Noise – eine faszinierend intime Note zu verleihen. Von Thomas Cailley wird man in der Filmwelt bestimmt wieder hören.

★★★★★

Montag, 20. April 2015

A Girl Walks Home Alone at Night

© Praesens Film

★★★

"Ultimately, A Girl Walks Home Alone at Night can be classified as an intriguing exercise in style carrying all the markings of an ambitious newcomer. Form rules over substance; there is an abundance of shots that clearly exist merely for their own sake; the overarching theme in terms of style is eclectic hybridity of culture (the American West meets the Middle East), genre (western meets horror), and even music (folk meets electronica meets rock). Amirpour's debut is one that works in fits."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 16. April 2015

A Most Violent Year

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Ist es möglich, sich den Amerikanischen Traum zu erfüllen, ohne seine Integrität zu verlieren? Kann man es sich als Geschäftsmann leisten, auf der Jagd nach Erfolg korrekt zu handeln? Diese Fragen stellt Regisseur und Autor J. C. Chandor in A Most Violent Year, einer atmosphärischen Moralfabel.

Seit bald zehn Jahren zählt New York zur Welthauptstadt der Finanzkriminalität; der Ruf der Wall Street ist spätestens seit dem Wirtschaftskollaps von 2007 und 2008 nachhaltig ruiniert. Doch es gab eine Zeit, in der die amerikanische Metropole schlechthin in erster Linie durch andere Formen der Gesetzlosigkeit für Schlagzeilen sorgte. Vor der Jahrtausendwende, vor den wegweisenden Massnahmen der Bürgermeister Rudy Giuliani und Michael Bloomberg galt der Big Apple als Inbegriff für den Zerfall der US-Grossstädte; Raubüberfälle und Morde waren abseits des touristischen Zentrums Manhattan an der Tagesordnung. Nachdem J. C. Chandor in Margin Call, seinem Regiedebüt von 2011, die Anfänge der Wall-Street-Finanzkrise beleuchtete, widmet er sich in A Most Violent Year nun dem New York im Jahr 1981, einem der blutigsten Jahre in der Geschichte der Stadt.

Physische Gewalt ist hier tatsächlich präsenter als noch in Margin Call; die Geschichte kreist um überfallene Lastwagen und den von angeheuerten Schergen ausgetragenen Konkurrenzkampf zwischen privaten Heizöl-Lieferanten. Doch Chandors Fokus liegt nach wie vor auf weniger auf der Strasse als vielmehr auf den Teppichetagen: Als Protagonist figuriert Abel Morales (der wandlungsfähige Oscar Isaac, welcher bisweilen an den jungen Robert De Niro bei Scorsese erinnert), ein lateinamerikanischer Immigrant, welcher sich mit Hilfe seiner geschäftstüchtigen Frau Anna (Jessica Chastain mit einer etwas eintönigen Darbietung) in die Chefposition hochgearbeitet hat und nun mit seinem Heizöl-Unternehmen seinen Rivalen die Platzherrschaft in New York streitig macht. Anfang 1981 steht sein neuester Coup bevor: Nach langen Verhandlungen ist es ihm und seinem Anwalt (Albert Brooks) endlich gelungen, einer Gruppe jüdischer Geschäftsleute einen strategisch wichtigen Hafen am Hudson abzuluchsen. Doch die Transaktion gerät durch eine unglückliche Verkettung von Ereignissen in Gefahr: Zunächst droht ihm die Fahrer-Gewerkschaft wegen wiederholter Angriffe auf seine Lieferwagen mit der Vertragskündigung; und dann kündigt ihm Staatsanwalt Lawrence (David Oyelowo) obendrein noch an, dass Morales' Firma wegen angeblich unlauterer Geschäftspraktiken der Prozess gemacht werden soll.

Mit tatkräftiger Unterstützung seiner Ehefrau (Jessica Chastain) hat es Abel Morales (Oscar Isaac) zu einem mächtigen Player im hart umkämpften New Yorker Heizöl-Geschäft gebracht.
© Ascot Elite Entertainment Group
Was Chandor in A Most Violent Year auf gewitzte Art und Weise vollführt, ist eine Verschmelzung zweier im Grunde separater Amerika-Bilder, die gerade im US-Kino der Siebziger- und Achtzigerjahre Hochkonjunktur hatten. Auf der einen Seite steht die historisch nachvollziehbare, wenngleich ironisch gebrochene Theorie von Sergio Leones Once Upon a Time in America oder Martin Scorseses GoodFellas, wonach die modernen Vereinigten Staaten erst durch das Wirken grossspuriger Krimineller zu wahrer Grösse fanden. Dem gegenüber stehen Filmemacher wie Francis Ford Coppola oder Sidney Lumet, die in moralistischen Tragödien wie The Godfather (Coppola), Dog Day Afternoon oder Before the Devil Knows You're Dead (beide Lumet) die psychologischen Tiefen ihrer mitunter nur widerwillig kriminellen Figuren ausloteten. Der erzählerisch zwar recht konstruiert wirkende, aber dennoch packend aufgezogene, mit stiller Intensität inszenierte A Most Violent Year, dessen Atmosphäre von Bradford Youngs pointierter Kameraführung sowie Alex Eberts sphärischem Musikscore profitiert, zeigt mit unterschwelliger Schärfe auf, wie eng der American Dream mit grossflächiger Korruption zusammenhängt, wie der Mythos der kapitalistischen Selbstverbesserung auf Kosten der sozial Schwachen aufrecht erhalten wird. Nach dem Survival-Drama All Is Lost kehrt Chandor wieder zum gesellschaftskritischen Kino zurück – das Resultat kann sich sehen lassen.

★★★★

Donnerstag, 9. April 2015

Als wir träumten

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Weltpolitisch war die deutsche Wiedervereinigung von unermesslicher Bedeutsamkeit. Dass eingerissene Mauern und neu gezogene Grenzen aber nur bedingten Einfluss auf Identitäten und Konflikte haben, das zeigt Andreas Dresen im fiebertraumartigen Coming-of-Age-Film Als wir träumten.

Es liesse sich lange darüber referieren, wie in diesem Film die DDR und die geeinte Bundesrepublik visuell gekennzeichnet werden. Sind die Bilder vom Leipzig der frühen Neunzigerjahre, wo die jugendlichen Protagonisten Dani (Merlin Rose), Rico (Julius Nitschkoff), Mark (der Zürcher Joel Basman), Paul (Frederic Haselon) und Pitbull (Marcel Heuperman) unter Alkoholeinfluss allerlei Unfug treiben, ausnahmslos körnig, grau, düster und trist, fällt die Darstellung ihrer Kindheit im "real existierenden Sozialismus" geradezu idyllisch aus. Man wähnt sich in Leander Haußmanns heiter-apolitischer Militärfarce NVA, wenn Klein-Dani und Co als sozialistische "Pioniere" bei einer Übung für den Ernstfall der kapitalistischen Invasion als verschiedenartige Opfer herhalten müssen – die Welt ist bunt, die bröselnden Plattenbauten heimelig, das vermeintliche Erbe von Marx, Engels und Lenin wird auch wenige Monate vor dem Mauerfall noch hoch gehalten.

Man könnte dieser kontrastierenden Inszenierung blauäugige Ostalgie seitens von Andreas Dresen vorwerfen, doch dem Regisseur von Nachtgestalten, Halbe Treppe, Sommer vorm Balkon, Wolke 9 und Halt auf freier Strecke ist in Als wir träumten offenkundig an einer Art Zeitbild gelegen, welches sich von jedwedem Bezug zum politischen Weltgeschehen distanziert. Der 9. November 1989 wird weder gezeigt noch erwähnt; verweilt die Kamera einmal auf einem der vereinzelt im Hintergrund zu sehenden Fernsehbildschirme, dann läuft dort nicht die Tagesschau, sondern der Musikantenstadl oder allenfalls ein Boxkampf; am Kiosk wird der Kicker prominenter in Szene gesetzt als der Spiegel. Was Dresen hier kontrastiert, ist nicht DDR und BRD – es ist die optimistische Hoffnung der Kindheit und der sich als Rebellion gerierende Stillstand der Adoleszenz.

Element of Crime: Pitbull (Marcel Heuperman, l.), Rico (Julius Nitschkoff, 2.v.l.), Paul (Frederic Haselon, M.), Dani (Merlin Rose, 2.v.r.) und Mark (Joel Basman) legen sich im Leipzig der frühen Neunzigerjahre mit der Polizei an.
© filmcoopi
Dresen gelingt es vorzüglich, die perspektivlose Tristesse der Leipziger Vorstadt zirka 1993 in wilden, expressiven – wenn auch leider allzu oft in Stroboskop-Ästhetik verfallenden – Handkamera-Bildern und überwiegend anregenden Anekdoten einzufangen. Die Seele von Als wir träumten liegt in seinen scharf beobachteten, bald lustigen, bald tragischen, bald brutalen Details – von der Grog brauenden Oma über den erbitterten Kleinkrieg zwischen der Protagonisten-Clique und der lokalen Neonazi-Mafia bis zum terminpflichtigen Antifa-Kontakt. Zusammengehalten wird das Ganze von den zwar skizzenhaften – aber dennoch ausgeprägten – Figuren, deren Leben sich ausserhalb des Gesetzes von Ost und West abspielt. In einer Welt, in der "Auferstanden aus Ruinen" zur Saufhymne geworden ist und die Polizei von ehemaligen Vopos durchsetzt ist, gilt ihre Loyalität niemandem als sich selber.

Was den Film letzten Endes aber an wahrer Grösse hindert, ist Wolfgang Kohlhaases bestenfalls durchschnittliches Drehbuch, insbesondere die Dialoge, die mit ihren prosaischen Deklamationen Dresens Realismus immer wieder zu brechen drohen. Obschon seit nunmehr 60 Jahren ein arrivierter Drehbuchautor (Berlin – Ecke Schönhauser..., Der Fall Gleiwitz, Ich war neunzehn, Die Grünstein-Variante), schafft es Kohlhaase, 84, nicht, sich gänzlich überzeugend in die Sprache von 16-Jährigen hineinzufühlen. Entsprechend ist es im Grunde spannender, über Als wir träumten nachzudenken als ihn effektiv zu sehen.

★★★

Donnerstag, 2. April 2015

Une nouvelle amie

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Mit Une nouvelle amie, der Verfilmung einer Ruth-Rendell-Kurzgeschichte um Freundschaft, Transvestitismus und gesellschaftliche Normen, erteilt der gefeierte Regisseur von 8 femmes, Swimming Pool und Potiche dem heteronormativen Spiessbürgertum einmal mehr eine süffisant-provokante Absage.

Dem Franzosen François Ozon seine unübersehbare Affinität zu den erzählerischen Konventionen des klassischen Hollywood-Melodramas zum Vorwurf machen zu wollen, käme dem Versuch gleich, Woody Allen dafür zu kritisieren, dass in seinen Filmen zu oft neurotische New Yorker Intellektuelle im Mittelpunkt stehen. Ozon liebt die gross geschriebene Emotionalität, die dramatische Intrige, das Anziehen der psychologischen Schraube, den unwahrscheinlichen Zufall, der das Leben seiner Figuren für immer verändert. In Werken wie 8 femmes, Dans la maison und Jeune & Jolie ist der Einfluss von Classic-Hollywood-Genre-Giganten wie Wyler, Hitchcock und Sirk mindestens ebenso spürbar wie derjenige europäischer Provokateure Buñuel, Antonioni, Fassbinder und Almodóvar, mit denen der 47-jährige Ozon immer wieder gerne verglichen wird.

Auch Une nouvelle amie ist geprägt von emotionaler Überhöhung, expressiver Musikuntermalung und einem Plot, der wiederholt den Realismus der zweckdienlichen Wendung unterordnet; derweil dem allzu sauberen Ende sowohl die konkrete logische Herleitung als auch die dramatische Notwendigkeit fehlt. Doch auch wenn der Film der narrativen Finesse eines Dans la maison oder der radikalen Subversion eines Jeune & Jolie letztlich nicht das Wasser reichen kann, überzeugt Ozons Adaption von Ruth Rendells Erzählung The New Girlfriend aus dem Jahr 1985 dennoch als hintersinnig-geschmackvolles Porträt der Existenz abseits der gesellschaftlichen Mitte. Die Figuren entstammen der Haute Bourgeoisie, einem semifiktiven Frankreich der Landsitze und der amerikanisch anmutenden Suburbia-Paläste. In diesem Umfeld sind Laura (Isild Le Besco) und Claire (Anaïs Demoustier) in den Achtziger- und Neunzigerjahren aufgewachsen; beste Freundinnen sind sie bis heute geblieben. Nachdem Laura aber einer nicht näher definierten Krankheit erliegt, wird Claire von tiefer Schwermut erfasst. Unterstützt von ihrem Mann (Raphaël Personnaz), sucht sie deswegen den Kontakt zu Lauras Witwer David (Romain Duris), den sie während eines Besuchs dabei ertappt, wie er in Frauenkleidern seine wenige Monate alte Tochter in den Schlaf wiegt. David gesteht ihr, ein Transvestit zu sein – ein Geheimnis, das von ihm und Laura jahrelang gehütet wurde.

Claire (Anaïs Demoustier) freundet sich mit David (Romain Duris), dem Witwer ihrer besten Freundin, an. Doch er hat ein Geheimnis: Er ist ein Transvestit.
© filmcoopi
Die Stärke dieses Films liegt nicht in der Geschichte, die Ozon seiner Ausgangssituation entlockt. Vielmehr glänzt Une nouvelle amie mit den Möglichkeiten, die er andeutet – so etwa Claires latente Bisexualität –, mit seinem feinen Gespür für die Figurenentwicklung und mit seinem enthusiastischen Aufruf dazu, sich von starren Geschlechter-Rollenbildern und der veralteten Idee, Sexualität sei eine bipolare Angelegenheit, zu verabschieden. Nicht zufällig gehören die Szene, in der David die Wiederentdeckung seiner inneren Weiblichkeit schildert, sowie sein und Claires Besuch in einem Travestie-Cabaret zu den ergreifendsten Momenten des Films. Wie noch kaum einem Regisseur vor ihm – mögliche Ausnahme: Fassbinder – ist es Ozon gelungen, die spektrale Natur der sexuellen Identität des Menschen mit grandioser Schlichtheit auf den Punkt zu bringen. Als schauspielerischer Höhepunkt bleibt indes die zurückhaltende Darbietung von Romain Duris in Erinnerung, der dafür zurecht mit einer César-Nomination – seiner bereits fünften – bedacht wurde. Seine Darstellung von David ist getränkt von einer subtil zur Schau gestellten Traurigkeit, welche in ihren besten Momenten an Jean-Louis Barraults wegweisende Darbietung als Pantomime Baptiste Deburau in Marcel Carnés epochalem Les enfants du paradis erinnert. Wie Deburau leidet auch David unter den Erwartungen einer Welt, die nicht sein wahres Ich, sondern nur seine selbstverleugnende Verkleidung – die des gewöhnlichen, "aufrechten" Bürgers – akzeptiert.

★★★★