Donnerstag, 25. Juni 2015

Victoria

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Ohne einen einzigen Schnitt erzählen Regisseur Sebastian Schipper und Kameramann Sturla Brandth Grøvlen in Victoria von einer schicksalhaften zweieinhalbstündigen Wanderung durch die frühen Berliner Morgenstunden. Das ist grosses Kino mit emotionalem Anspruch.

Der Plansequenz-Film – von Alfred Hitchcock 1948 in Rope ausprobiert – ist salonfähig geworden. Wurde Russian Ark, Alexander Sokurovs schnittloser Spaziergang durch die St. Petersburger Eremitage, 2002 noch als nicht wiederholbares, da viel zu aufwändiges, Arthouse-Experiment eingestuft, gewann im Februar 2015 Alejandro González Iñárritus Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance) den Hauptpreis bei den Oscars – ein Film, dessen Schnitte durch digitale Nachbearbeitung so übertüncht wurden, damit die Illusion entsteht, er bestehe aus einer einzigen langen Einstellung. Und nun hat sich auch der deutsche Schauspieler (The English Patient, Lola rennt) und Gelegenheits-Regisseur (Absolute Giganten, Ein Freund von mir, Mitte Ende August) Sebastian Schipper dieser Herausforderung gestellt; prompt wurde sein neuer Film mit sechs Deutschen Filmpreisen geehrt. Schon rein produktionstechnisch ist Victoria eine beeindruckende, ja herkulische Leistung: Auf der Basis eines zwölfseitigen Drehbuchs filmten Schipper, Grøvlen und der seine Dialoge oft frei improvisierende Cast drei Fassungen des 140-minütigen Films, drei statistenreiche Spaziergänge durch Berlin-Kreuzberg und -Mitte; die definitive Version entstand am 27. April 2014 zwischen halb fünf und sieben Uhr morgens.

Im Zentrum von Schippers Echtzeit-Drama steht die Titel gebende junge Spanierin Victoria (Laia Costa). Erst seit drei Monaten wohnt sie in der Hauptstadt, Deutsch spricht sie keines, auch Freunde hat sie noch keine gefunden. Vor einem Club trifft sie auf die vagabundierenden Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yiğit) und Fuss (Max Mauff), mit denen sie erst ziellos herumstreift – und dabei vor allem am netten Sonne Gefallen findet –, bevor sie ihnen dabei helfen muss, eine Schuld von Boxer beim kriminellen Andi (André Hennicke) zu begleichen.

Nach einem Club-Besuch lernt Victoria (Laia Costa) eine Gruppe junger Berliner kennen, darunter den netten Sonne (Frederick Lau, Mitte) und den aufgekratzten Boxer (Franz Rogowski).
© filmcoopi
Es ist erstaunlich, wie viele Schichten Schipper in seiner einen Einstellung unterzubringen vermag. Victoria schaltet gekonnt um vom quasi-dokumentarischen Porträt des Hier und Jetzt – gemeinsam mit Jan-Ole Gersters Oh Boy (2012) bildet der Film eine 2010er Entsprechung zum Weimarer Klassiker Menschen am Sonntag von 1930 – zur romantischen Intimität; die Szenen, in denen Sonne von Victorias Vergangenheit erfährt, erinnern stark an Richard Linklaters Before Sunrise. Auch den kritischen, weil letztlich wohl zu unrealistischen, Übergang zur zweiten Hälfte, in der die Protagonisten zu einem Banküberfall gezwungen werden, übersteht der Film praktisch schadlos – der schwache Kurzauftritt André Hennickes wird aufgewogen durch die herausragend naturalistischen Darbietungen von Costa, Lau, Rogowski und Yiğit (Mauff ist kaum präsent), die stimmigen Reminiszenzen an Sidney Lumets Dog Day Afternoon sowie die intensive Inszenierung.

Vor allem aber weist der mit unmittelbarer, roher Kraft vorgetragene Victoria, mit seiner narrativen Nähe zur griechischen Tragödie, eine gewisse Ähnlichkeit mit Mathieu Kassovitz' Banlieue-Drama La haine auf. Er erzählt von im Grunde guten Menschen, die, verloren in der Perspektivlosigkeit der Metropole, der grausamen Macht der Umstände zum Opfer fallen, was schon im Vorspann – kleine Namen auf riesiger schwarzer Fläche – suggeriert wird. Schipper reüssiert, wo Andreas Dresens Als wir träumten scheiterte; ihm ist mit seinem vierten Film ein feinfühliges, spannendes, emotional tief greifendes, moralisch zu keinem Zeitpunkt wertendes Zeitbild deutschen Grossstadt-Nachtlebens gelungen.

★★★★★

Dienstag, 23. Juni 2015

Love & Mercy

Musik-Biopics sind amerikanische Erlösungsgeschichten. Sie erzählen davon, wie ein junges Talent allen Widrigkeiten zum Trotz Berühmtheit erlangt, sich vor lauter Selbstüberschätzung auf dem Gipfel des Erfolgs an den Rande des Ruins treibt, nur um im letzten Moment – meistens mit Hilfe eines treuen Gefährten – das Ruder doch noch herumzureissen und stärker, kreativer, bahnbrechender denn je aus der Krise herauszufinden.

Ray Charles liess in Taylor Hackfords Ray (2004) seine Heroinsucht hinter sich und versöhnte sich wieder mit seiner Familie. Im erzählerisch fast deckungsgleichen Walk the Line (2005) überwand Johnny Cash mit Hilfe seiner künftigen Ehefrau June Carter seine Pillenabhängigkeit und fand in der Folge wieder zu persönlichem und professionellem Glück. Und selbst zehn Jahre nach der Biopic-Welle, die Anfang der 2000er Jahre Hollywood erfasst hatte, kam die Formel noch zum Einsatz: 2014 zeigte Tate Taylors Get on Up, wie es James Brown trotz Grössenwahn und rechtlicher Probleme noch zu Lebzeiten geschafft hat, seinen Legendenstatus zu kultivieren.

Die Biografie von Brian Wilson, Mitbegründer der Beach Boys, jedoch lässt sich kaum in dieses Schema pressen – und Bill Pohlad tut gut daran, in Love & Mercy, seiner erst zweiten Regiearbeit, dies auch nicht zu versuchen. Sicherlich könnte man einen Film über Wilsons Werdegang drehen, über seine Entwicklung vom Kind der kalifornischen Vorzeigefamilie, hinter deren Fassade häusliche Gewalt und Alkoholmissbrauch zur Norm gehörten, zum Wegbereiter der modernen Art-Pop-Musik; doch damit wäre der Essenz des mittlerweile 73-Jährigen nicht Genüge getan.

Wilsons Leben ist gezeichnet vom Kampf gegen die eigenen Dämonen, gegen die eigene Familie, von der Auflehnung gegen die einengende Konvention, vom Schwimmen gegen den Strom. In den Sechzigerjahren avancieren er, seine Brüder Carl und Dennis sowie Bruce Johnston, Al Jardine und Mike Love zu den Pop-Lieblingen einer ganzen Nation, ihre fröhlichen Westküsten-Harmonien erobern die Radiostationen im Sturm. Doch der Umgang mit dem Ruhm fällt Brian, dem seit Kindertagen auf dem rechten Ohr tauben musikalischen Genie, schwer: Anstatt sich der Mode zu beugen, versucht er sich an zunehmend exzentrischen Arrangements, mit denen er seine Bandkollegen vor den Kopf stösst. Er verfällt den Drogen, dem Alkohol und dem Fast-Food; er leidet an Panikattacken und seit 1965 hört er körperlose Stimmen. In den Siebzigerjahren verschwindet er in der selbst auferlegten Versenkung; in den Achtzigerjahren gerät er an den dubiosen Psychiater Eugene "Dr. Feelgood" Landy, der ihm zu viele Medikamente verschreibt und ihn von der Aussenwelt abschirmt.

"Brian–Past": Mitte der Sechzigerjahre revolutioniert Beach-Boys-Mitbegründer Brian Wilson (Paul Dano) die Popmusik.
© Ascot Elite Entertainment Group
Pohlad, aufbauend auf einem minimalistisch-expressiven Skript von Michael Alan Lerner und Oren Moverman, bemüht sich, entgegen dem Biopic-Muster, um eine fokussierte statt eine enzyklopädische Herangehensweise ans Phänomen Brian Wilson. Besetzt hat er die Rolle mit zwei höchst unterschiedlichen Schauspielern: Paul Dano – der Nebendarsteller mit einem Faible für mental angeschlagene Figuren (Little Miss Sunshine, There Will Be Blood, 12 Years a Slave, Prisoners) – spielt "Brian–Past", den jungen Mann, der sich auf der Höhe des Beach-Boys-Kultes von den Tourneen zurückzieht, um mit einer Armee von Session-Musikern das revolutionäre Album Pet Sounds (1966) aufzunehmen. "Brian–Future" wird verkörpert von John Cusack, dem unscheinbaren Drifter im blockbusterfreien Teil der amerikanischen Filmindustrie, wo Filme wie Being John Malkovich, High Fidelity, America's Sweethearts, 1408, Hot Tub Time Machine oder Maps to the Stars entstehen. Als Wilson, der unter dem Joch Eugene Landys (Paul Giamatti) steht, liefert Cusack mit seiner unsicheren, stets leicht entrückten Unbeholfenheit, vor allem im Umgang mit der sich seiner annehmenden Autohändlerin Melinda Ledbetter (eine äusserst differenziert aufspielende Elizabeth Banks), eine der besten Darbietungen seiner illustren Karriere ab.

Love & Mercy ist augenscheinlich nicht an einem Wiederaufleben der grössten Beach-Boys-Hits gelegen. Dreh- und Angelpunkt sind und bleiben die Dimensionen von Wilsons Persona – die ausufernde Ambition, die chronischen Selbstzweifel, das Ankämpfen gegen den lauernden Wahnsinn. Gerade in den Szenen, welche die psychischen Probleme des jungen Brian in den Vordergrund rücken, gelingt es dem Film, unterstützt vom oft harschen Tondesign sowie Atticus Ross' stimmiger Originalmusik, hervorragend, die unheimlichen Tiefen der Krankheit seines Protagonisten auszuloten. Besonders die unbequeme, gewollt in die Länge gezogene Konversation zwischen Wilson, der im tiefen Ende seines privaten Schwimmbeckens treibt, sein Auf und Ab im Wasser imitiert von Robert Yeomans punktgenauer Kameraführung, und seine esoterisch-sinnlosen Songtexte erklärt, und dem verwirrten Rest der Beach Boys, dürfte – vor allem dank Danos geradezu verstörend lebensechter Leistung – noch lange in Erinnerung bleiben.

"Brian–Future": Gezeichnet von schweren psychischen Problemen, lernt Brian (John Cusack) in den Achtzigerjahren die Autohändlerin Melinda Ledbetter (Elizabeth Banks) kennen.
© Ascot Elite Entertainment Group
Allerdings erweist sich Pohlad in seinen kreativen Entscheidungen nicht als unfehlbar, und auch das Duo Moverman und Lerner lässt sich hin und wieder zu unglücklichen Verkürzungen hinreissen. So überspannt die finale Gegenüberstellung der beiden Brians, zu denen sich sogar noch eine Kindheits-Inkarnation dazu gesellt und deren Inszenierung wie eine unangebrachte Verneigung vor 2001: A Space Odyssey wirkt, den Bogen ein wenig; während das Drehbuch Eugene Landy wohl zu bereitwillig auf die eindimensionale Rolle des Bösewichts reduziert – und das nicht nur unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass Wilson nach eigener Angabe "am Boden zerstört" war, als Landy 2006 auf Hawaii starb. Dass Melinda den Quacksalber im dritten Akt als "Monster" bezeichnet und damit, in der Logik des Films, kaum übertreibt, steht in einem gewissen Kontrast zur ansonsten herrschenden Ausgewogenheit in den Charakterzeichnungen.

Letztlich fühlt sich aber Love & Mercy als ehrlicheres Biopic an als etwa Ray oder Get on Up. Pohlads Zweitwerk setzt auf eine seriöse Auseinandersetzung mit den problematischen Aspekten in der Vita seines Protagonisten, anstatt diese Elemente als unumgängliche Stationen auf dem Weg zu transzendentaler Grösse abzuhaken. Entsprechend wirkt die Erlösung, die Brian schlussendlich in Form stabiler Familien- und Freundschaftsverhältnisse zuteil wird, nicht wie ein von der Genre-Konvention diktiertes Obligatorium, sondern ein erarbeiteter Zustand. Und wenn der Abspann über die Leinwand rollt, in dem der echte Brian Wilson seinen Solo-Song "Love and Mercy" live zum Besten gibt, weiss man: Es ist ein Privileg, ihn noch auftreten sehen zu dürfen.

★★★★

Montag, 22. Juni 2015

Mad Max: Fury Road

© 2014 Warner Bros. Ent.

★★★★★

"While a case can be made that Australian cinema came of age with Mad Max, its third sequel might just prove to be another landmark. George Miller, whose directing filmography is interspersed with decidedly harmonious fare (Lorenzo’s Oil, Babe: Pig in the City, Happy Feet), brings its predecessors’ depiction of faltering masculinity to its logical conclusion, blowing off the chauvinistic dust from the action genre as a whole and wrenching it into the 21st century."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 18. Juni 2015

Jurassic World

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Angereichert mit neuester CGI-Technik und zahlreichen Hommagen an Steven Spielbergs 1993 erschienenes Original, setzt Jurassic World, 14 Jahre nach Teil drei, die Jurassic Park-Franchise fort. Dieser glänzt zwar nicht durch Innovation, überzeugt aber als hochgradig unterhaltsamer Blockbuster.

Während der letzten paar Monate machte im Filmjournalismus – nicht zum ersten Mal – die Diskussion um die Notwendigkeit von Sequels die Runde. Zu Beginn eines Film-Sommers, auf dessen Programm Fortsetzungen zu Achtziger- und Neunzigerjahre-Reihen wie Mad Max, Terminator, Mission: Impossible oder eben Jurassic Park stehen, kamen gewisse Kommentatoren aus dem Schimpfen über die unumgängliche Profitgier der Studios, welche angeblich jegliche künstlerische Kreativität im Keim erstickt, gar nicht mehr hinaus. (Der Tenor änderte sich nur minim, als sich Mad Max: Fury Road als einer der kühnsten Filme des Jahres erwies.) Die Bedenken mögen berechtigt sein; der Einfluss von Hollywoods Sequel-Maschinerie auf die Vielfalt im amerikanischen Filmschaffen muss längerfristig im Auge behalten werden. Doch der Weiterführung oder der Reaktivierung bekannter Stoffe prinzipiell mit lautstarkem Protest zu begegnen, wird dem Potenzial solcher Projekte nicht gerecht. Der vom Indie-Regisseur Colin Trevorrow (Safety Not Guaranteed) inszenierte Jurassic World, der vierte Teil der auf Michael Crichtons Roman Jurassic Park basierenden Universal-Reihe, liefert ein weiteres Argument gegen den grassierenden Sequel-Hass.

War Trevorrows Film "nötig"? Wie lässt sich das beantworten? Woran lässt sich Notwendigkeit messen? Liessen Jurassic Park (1993), The Lost World (1997) und Jurassic Park III (2001) Erzählstränge unaufgelöst, Figurenentwicklungen unvollständig? Das wohl eher weniger, zumal das verbindende Element der originalen Trilogie weniger ihre unregelmässig wiederkehrenden Protagonisten als die Dinosaurier waren, welche von der Firma des Milliardärs John Hammond (Richard Attenborough) geklont und auf der Pazifikinsel Isla Nublar ausgesetzt wurden, um die Menschheit mit einem Urzeit-Vergnügungspark zu beglücken. Doch Jurassic World, der sich ausschliesslich auf den ersten Teil der Franchise bezieht, greift einen Aspekt auf, der bis heute unbearbeitet geblieben ist: Wie sähe der Park aus, den sich Hammond erträumt hatte? 22 Jahre sind seit den (unter den Teppich gekehrten) Ereignissen in Jurassic Park vergangen; keiner der rund 20'000 Besucher, die tagtäglich die Attraktionen auf Isla Nublar frequentieren, ahnt, wie wenig die Investoren, allen voran Simon Masrani (Irrfan Khan), vom Amok laufenden Tyrannosaurus rex von damals gelernt haben. Unter seiner Finanzierung wurde hinter den Kulissen ein künstlicher Dino-Hybrid namens Indominus rex gezüchtet, der die langsame Abnahme der Zuschauerzahlen bremsen soll. Es kommt, wie es kommen muss: Der hochintelligente Fleischfresser entwischt. Die Katastrophe verhindern sollen der Raptor-Trainer Owen (Chris Pratt – wie schon in Guardians of the Galaxy äusserst beseelt in der Heldenrolle), die Park-Offizielle Claire (Bryce Dallas Howard) sowie deren Neffen Zach (Nick Robinson) und Gray (Ty Simpkins).

Déjà vu? In Jurassic World terrorisiert ein blutrünstiger Dinosaurier den Titel gebenden Vergnügungspark. Es liegt an Claire (Bryce Dallas Howard, links), Owen (Chris Pratt, 2.v.l.), Zach (Nick Robinson, 2.v.r.) und Gray (Ty Simpkins), die Ordnung wiederherzustellen.
© Universal Pictures Switzerland
Die satirischen Ansätze von Jurassic World sind kaum zu übersehen: Unter dem Druck, immer neue Attraktionen bereit zu halten, stellt eine milliardenschwere Firma im Labor eine unnatürliche Variation ihrer üblichen Produkte her – das Sequel kritisiert die Sequel-Logik; der finale Kampf zwischen I-Rex, T-Rex und Raptor wird zur symbolischen Machtprobe zwischen Original und Fortsetzung. Doch der Film überzeugt auch ohne diesen doppelten Boden. Von gewissen Figuren-Problemen – die Charakterisierung Claires etwa lässt einiges zu wünschen übrig, ebenso die obligate Romanze zwischen ihr und Owen – und der allzu aggressiven Produkteplatzierung abgesehen, hält Trevorrow die Balance zwischen Fan-Service und erzählerischer Stringenz tadellos. In wunderbar kurzweiligen zwei Stunden wird der Zuschauer mit üppigen Schauwerten – die Dinosaurier begeistern einmal mehr – und ungemein atmosphärischen Szenen verwöhnt, die, wie schon in Jurassic Park, näher am Horror- als am Action-Genre anzusiedeln sind. Will man die Notwendigkeit einer Fortsetzung an ihrem Gelingen messen, dann lässt sich konstatieren: Jurassic World war nötig.

★★★★

Donnerstag, 11. Juni 2015

Giovanni Segantini – Magie des Lichts

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Fünf Jahre hat der Zürcher Christian Labhart an seinem Dokumentarfilm über den Südtiroler Kunstmaler Giovanni Segantini (1858–1899) gerabeitet. Dabei herausgekommen ist Magie des Lichts, eine informative, aber letztlich fantasielose Bilder-Collage, die ihrem faszinierenden Thema nicht gerecht wird.

Eines lässt keinesfalls bestreiten: Segantinis Gemälde auf der Kino-Grossleinwand zu erleben, ist eine eindrucksvolle Erfahrung. Mit einem unbestreitbaren Sinn fürs Detail hebt Labhart (Zum Abschied Mozart, Zum Auftakt Rossini, Zwischen Himmel und Erde, Appassionata, What Moves You) die vielen Vignetten in den oft romantisch gebrochenen, aber dennoch naturalistisch-rohen Alpen-Ansichten des Künstlers hervor, der 1886 als staatenloser Wehrdienstverweigerer mit seiner Frau Bice und den vier gemeinsamen Kindern nach Savognin zog und sich umgehend in die Bündner Natur verliebte. Jeder sorgfältig gezogene Strich am Kopf eines Schafs offenbart sich dem Zuschauer, wenn Labharts Kamera langsam über "Ave Maria a trasbordo" (1886) hinweg zieht, begleitet von der ausdrucksstarken Stimme Bruno Ganz', welcher in Magie des Lichts aus Originalbriefen Segantinis vorliest. In seinen besten Momenten schafft es der Film gar, mit seinen eingespielten Bach-Rezitals dem Pathos eines Werks eine neue Dimension zu verleihen.

Insgesamt jedoch bleibt Giovanni Segantini – Magie des Lichts ein inferiorer Eintrag im Schweizer Subgenre des Name: Schlagwort-Dokumentarfilms. Zwar wussten in der jüngeren Vergangenheit auch Werke wie etwa Daniel Youngs Paul Bowles: The Cage Door Is Always Open oder Sophie Hubers Harry Dean Stanton: Partly Fiction nicht unbedingt zu begeistern, doch wenigstens wussten diese ihre – zugegebenermassen auf Film festgehaltenen – Protagonisten ansprechend in Szene zu setzen. Young versuchte sich stellenweise an exzentrischen Animationen, um das bewegte Leben des Autors von The Sheltering Sky fassbar zu machen; Hubers dokumentarisches Konzept, obgleich alles andere als originell, bestach zumindest durch seine persönliche Note. Labharts Film lässt solche Identität stiftende Elemente fast gänzlich vermissen. Stattdessen werden Segantinis Briefe rezitiert, Mona Petri liest Ausschnitte aus Asta Scheibs Romanbiografie des Malers vor; Fotos von Familie Segantini, filmische Eindrücke aus dem modernen Mailand sowie die Gemälde des Meisters ergänzen die Tonspur.

"Ja, ich habe gelebt, ohne zu vegetieren": Giovanni Segantini (ganz rechts) im Kreise seiner Familie.
© look now
In einer Dokumentation weitgehend auf den Gebrauch bewegter Bilder zu verzichten, kann ein legitimes Stilmittel sein – man denke nur an Wim Wenders' bewegendes Porträt The Salt of the Earth über den brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado –, doch Labhart fehlt schlicht und ergreifend das künstlerische Profil, um in diesem Format zu reüssieren. Magie des Lichts mag informativ sein, hat im Ganzen aber in etwa so viel Seele wie der Wikipedia-Artikel über Segantini. Aufnahmen von verschneiten Wäldern, kreisenden Vogelschwärmen und der Entstehung der Musikuntermalung kreieren die Illusion einer filmemacherischen Handschrift, täuschen letztendlich aber kaum darüber hinweg, dass Labhart sich hier überwiegend mit fremden Federn schmückt: Die Bilder stammen von Segantini, die Texte von Segantini und Scheib, die Fotos aus dem Archiv. Magie des Lichts ist eine dröge audiovisuelle Adaption einer Ausstellungsbroschüre. Einen Mehrwert gegenüber einem tatsächlichen Museumsbesuch – wie vor vier Jahren in der Fondation Beyeler in Riehen – hat zumindest dieser Betrachter nicht erkennen können.

★★

Donnerstag, 4. Juni 2015

Das ewige Leben

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Auch in seinem vierten Leinwandabenteuer widersetzt sich der gescheiterte Privatdetektiv Simon Brenner, gespielt vom österreichischen Kabarettisten Josef Hader, den Konventionen des Sonntagabendkrimis. Das ewige Leben ist eine unbequeme Groteske über den Mythos der unanfechtbaren Wahrheit.

Inzwischen ist es beinahe vermessen, "den Brenner" überhaupt als Detektiv zu bezeichnen. Schon in Wolfgang Murnbergers ersten drei Verfilmungen von Wolf Haas' Kriminalromanen stolperte der beharrlich am Existenzminimum lebende Wahl-Wiener öfters eher zur Lösung seiner vertrackten Fälle, als dass er sich in professioneller Manier ans Ziel kombiniert hätte. Doch stets spielte er eine zentrale Rolle – in der Aufklärung einer Mordserie, welche in Komm, süßer Tod (2000) die Wiener Krankenwagen heimsuchte; im Versuch, in Silentium (2004) die finsteren Machenschaften hinter den Salzburger Festspielen aufzuklären; im Entwirren eines Tohuwabohus aus Menschenhandel, Prostitution, Entführung und vermeintlichen Todesfällen in Der Knochenmann (2009). Ein verhörender, messerscharf räsonierender Philip Marlowe war Brenner – von Josef Hader, der gemeinsam mit Murnberger und Haas für die Drehbücher dieser Filme zeichnet, mit missmutigem Schalk und nicht selten blanker Misanthropie verkörpert – noch nie; doch in Das ewige Leben mutiert seine weltmüde Lakonie vollends zu bleierner Passivität.

Dieser neue Brenner ermittelt nicht; er lässt sich vom Lauf der Ereignisse treiben. Arbeits- und mittellos kehrt er, voller Widerwillen, in sein heimisches Graz zurück, wo ihm sein Vater eine Ruine von einem Haus hinterlassen hat. In der Stadt seiner Jugendjahre angekommen, stattet er, geplagt von heftigen Migräneschüben und traumatischen Erinnerungen an seine Vergangenheit, seinem alten Freund Köck (Roland Düringer) einen Besuch ab; wenig später schaut mit dem Polizeivorsteher Aschenbrenner (Tobias Moretti) ein weiteres Gesicht von früher vorbei. Und plötzlich liegt Brenner mit einer selbst beigebrachten Kopfschuss-Wunde im Spital.

"Jetzt ist schon wieder was passiert": Sein neuester Fall führt Privatdetektiv Simon Brenner (Josef Hader, rechts) ins triste Graz.
© look now
Was folgt, trägt zwar ästhetisch wie erzählerisch die Spuren eines Krimis, weigert sich aber standhaft, einer klar erkennbaren Formel zu folgen. Es gibt Tote zu beklagen, deren Schicksal mit den metaphorischen Leichen in Brenners Keller zusammenhängen; Verschwörung liegt in der Luft – doch die Hauptfigur leidet an Amnesie, schlurft ohne jeden Hinweis von Ort zu Ort, verkommt inmitten gross angelegter Ermittlungen zur Marginalie. Brenner rollt Vergangenheit und Fall nicht auf, sondern wird buchstäblich von ihnen eingeholt. Selbst dem viel gelobten schwarzen Humor seiner Vorgänger erteilt Das ewige Leben zu einem gewissen Grad eine Absage: Es überwiegt die Tristesse von Graz, einer Stadt, die in den Achtzigerjahren stehengeblieben zu sein scheint; das Ganze ist noch trübsinniger, noch grauer als man es sich vom Trio Murnberger, Haas und Hader gewohnt ist; die sporadischen Lacher haben die Tendenz, einem im Halse stecken zu bleiben.

Insofern hat Murnbergers Film in mancherlei Hinsicht etwas von Paul Thomas Andersons Thomas-Pynchon-Adaption Inherent Vice. Der Detektiv – seit jeher die Figur, die Licht ins Dunkel bringt und die Welt vom Fluch des Unwissens befreit – scheitert nicht nur; er versinkt in der Fülle von fragmentierten Informationen, die er eigentlich zu ordnen hat; er wird vom Chaos, das er erklären soll, dermassen überragt, dass Apathie und Gleichmut im Endeffekt seine einzige Chance sind, bei Verstand zu bleiben. Das ewige Leben ist ein raffinierter, nichtsdestoweniger höchst unterhaltsamer Antikrimi, der nicht auf eine harmonische Auflösung aller im Zuge der Ermittlung aufgeworfenen Konflikte zusteuert, sondern letztendlich auf die ernüchternde Erkentnis hinausläuft, dass Wahrheit keine universelle Konstante ist. Schliesslich steht jede Figur mit ihrer eigenen, sich selber zurecht gelegten Interpretation der Geschehnisse da. So auch der Zuschauer: Der Brenner hat mal wieder einen Fall gelöst – irgendwie.

★★★★