Ray Charles liess in Taylor Hackfords Ray (2004) seine Heroinsucht hinter sich und versöhnte sich wieder mit seiner Familie. Im erzählerisch fast deckungsgleichen Walk the Line (2005) überwand Johnny Cash mit Hilfe seiner künftigen Ehefrau June Carter seine Pillenabhängigkeit und fand in der Folge wieder zu persönlichem und professionellem Glück. Und selbst zehn Jahre nach der Biopic-Welle, die Anfang der 2000er Jahre Hollywood erfasst hatte, kam die Formel noch zum Einsatz: 2014 zeigte Tate Taylors Get on Up, wie es James Brown trotz Grössenwahn und rechtlicher Probleme noch zu Lebzeiten geschafft hat, seinen Legendenstatus zu kultivieren.
Die Biografie von Brian Wilson, Mitbegründer der Beach Boys, jedoch lässt sich kaum in dieses Schema pressen – und Bill Pohlad tut gut daran, in Love & Mercy, seiner erst zweiten Regiearbeit, dies auch nicht zu versuchen. Sicherlich könnte man einen Film über Wilsons Werdegang drehen, über seine Entwicklung vom Kind der kalifornischen Vorzeigefamilie, hinter deren Fassade häusliche Gewalt und Alkoholmissbrauch zur Norm gehörten, zum Wegbereiter der modernen Art-Pop-Musik; doch damit wäre der Essenz des mittlerweile 73-Jährigen nicht Genüge getan.
Wilsons Leben ist gezeichnet vom Kampf gegen die eigenen Dämonen, gegen die eigene Familie, von der Auflehnung gegen die einengende Konvention, vom Schwimmen gegen den Strom. In den Sechzigerjahren avancieren er, seine Brüder Carl und Dennis sowie Bruce Johnston, Al Jardine und Mike Love zu den Pop-Lieblingen einer ganzen Nation, ihre fröhlichen Westküsten-Harmonien erobern die Radiostationen im Sturm. Doch der Umgang mit dem Ruhm fällt Brian, dem seit Kindertagen auf dem rechten Ohr tauben musikalischen Genie, schwer: Anstatt sich der Mode zu beugen, versucht er sich an zunehmend exzentrischen Arrangements, mit denen er seine Bandkollegen vor den Kopf stösst. Er verfällt den Drogen, dem Alkohol und dem Fast-Food; er leidet an Panikattacken und seit 1965 hört er körperlose Stimmen. In den Siebzigerjahren verschwindet er in der selbst auferlegten Versenkung; in den Achtzigerjahren gerät er an den dubiosen Psychiater Eugene "Dr. Feelgood" Landy, der ihm zu viele Medikamente verschreibt und ihn von der Aussenwelt abschirmt.
"Brian–Past": Mitte der Sechzigerjahre revolutioniert Beach-Boys-Mitbegründer Brian Wilson (Paul Dano) die Popmusik. © Ascot Elite Entertainment Group |
Love & Mercy ist augenscheinlich nicht an einem Wiederaufleben der grössten Beach-Boys-Hits gelegen. Dreh- und Angelpunkt sind und bleiben die Dimensionen von Wilsons Persona – die ausufernde Ambition, die chronischen Selbstzweifel, das Ankämpfen gegen den lauernden Wahnsinn. Gerade in den Szenen, welche die psychischen Probleme des jungen Brian in den Vordergrund rücken, gelingt es dem Film, unterstützt vom oft harschen Tondesign sowie Atticus Ross' stimmiger Originalmusik, hervorragend, die unheimlichen Tiefen der Krankheit seines Protagonisten auszuloten. Besonders die unbequeme, gewollt in die Länge gezogene Konversation zwischen Wilson, der im tiefen Ende seines privaten Schwimmbeckens treibt, sein Auf und Ab im Wasser imitiert von Robert Yeomans punktgenauer Kameraführung, und seine esoterisch-sinnlosen Songtexte erklärt, und dem verwirrten Rest der Beach Boys, dürfte – vor allem dank Danos geradezu verstörend lebensechter Leistung – noch lange in Erinnerung bleiben.
Letztlich fühlt sich aber Love & Mercy als ehrlicheres Biopic an als etwa Ray oder Get on Up. Pohlads Zweitwerk setzt auf eine seriöse Auseinandersetzung mit den problematischen Aspekten in der Vita seines Protagonisten, anstatt diese Elemente als unumgängliche Stationen auf dem Weg zu transzendentaler Grösse abzuhaken. Entsprechend wirkt die Erlösung, die Brian schlussendlich in Form stabiler Familien- und Freundschaftsverhältnisse zuteil wird, nicht wie ein von der Genre-Konvention diktiertes Obligatorium, sondern ein erarbeiteter Zustand. Und wenn der Abspann über die Leinwand rollt, in dem der echte Brian Wilson seinen Solo-Song "Love and Mercy" live zum Besten gibt, weiss man: Es ist ein Privileg, ihn noch auftreten sehen zu dürfen.
★★★★
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