Dienstag, 23. Juni 2015

Love & Mercy

Musik-Biopics sind amerikanische Erlösungsgeschichten. Sie erzählen davon, wie ein junges Talent allen Widrigkeiten zum Trotz Berühmtheit erlangt, sich vor lauter Selbstüberschätzung auf dem Gipfel des Erfolgs an den Rande des Ruins treibt, nur um im letzten Moment – meistens mit Hilfe eines treuen Gefährten – das Ruder doch noch herumzureissen und stärker, kreativer, bahnbrechender denn je aus der Krise herauszufinden.

Ray Charles liess in Taylor Hackfords Ray (2004) seine Heroinsucht hinter sich und versöhnte sich wieder mit seiner Familie. Im erzählerisch fast deckungsgleichen Walk the Line (2005) überwand Johnny Cash mit Hilfe seiner künftigen Ehefrau June Carter seine Pillenabhängigkeit und fand in der Folge wieder zu persönlichem und professionellem Glück. Und selbst zehn Jahre nach der Biopic-Welle, die Anfang der 2000er Jahre Hollywood erfasst hatte, kam die Formel noch zum Einsatz: 2014 zeigte Tate Taylors Get on Up, wie es James Brown trotz Grössenwahn und rechtlicher Probleme noch zu Lebzeiten geschafft hat, seinen Legendenstatus zu kultivieren.

Die Biografie von Brian Wilson, Mitbegründer der Beach Boys, jedoch lässt sich kaum in dieses Schema pressen – und Bill Pohlad tut gut daran, in Love & Mercy, seiner erst zweiten Regiearbeit, dies auch nicht zu versuchen. Sicherlich könnte man einen Film über Wilsons Werdegang drehen, über seine Entwicklung vom Kind der kalifornischen Vorzeigefamilie, hinter deren Fassade häusliche Gewalt und Alkoholmissbrauch zur Norm gehörten, zum Wegbereiter der modernen Art-Pop-Musik; doch damit wäre der Essenz des mittlerweile 73-Jährigen nicht Genüge getan.

Wilsons Leben ist gezeichnet vom Kampf gegen die eigenen Dämonen, gegen die eigene Familie, von der Auflehnung gegen die einengende Konvention, vom Schwimmen gegen den Strom. In den Sechzigerjahren avancieren er, seine Brüder Carl und Dennis sowie Bruce Johnston, Al Jardine und Mike Love zu den Pop-Lieblingen einer ganzen Nation, ihre fröhlichen Westküsten-Harmonien erobern die Radiostationen im Sturm. Doch der Umgang mit dem Ruhm fällt Brian, dem seit Kindertagen auf dem rechten Ohr tauben musikalischen Genie, schwer: Anstatt sich der Mode zu beugen, versucht er sich an zunehmend exzentrischen Arrangements, mit denen er seine Bandkollegen vor den Kopf stösst. Er verfällt den Drogen, dem Alkohol und dem Fast-Food; er leidet an Panikattacken und seit 1965 hört er körperlose Stimmen. In den Siebzigerjahren verschwindet er in der selbst auferlegten Versenkung; in den Achtzigerjahren gerät er an den dubiosen Psychiater Eugene "Dr. Feelgood" Landy, der ihm zu viele Medikamente verschreibt und ihn von der Aussenwelt abschirmt.

"Brian–Past": Mitte der Sechzigerjahre revolutioniert Beach-Boys-Mitbegründer Brian Wilson (Paul Dano) die Popmusik.
© Ascot Elite Entertainment Group
Pohlad, aufbauend auf einem minimalistisch-expressiven Skript von Michael Alan Lerner und Oren Moverman, bemüht sich, entgegen dem Biopic-Muster, um eine fokussierte statt eine enzyklopädische Herangehensweise ans Phänomen Brian Wilson. Besetzt hat er die Rolle mit zwei höchst unterschiedlichen Schauspielern: Paul Dano – der Nebendarsteller mit einem Faible für mental angeschlagene Figuren (Little Miss Sunshine, There Will Be Blood, 12 Years a Slave, Prisoners) – spielt "Brian–Past", den jungen Mann, der sich auf der Höhe des Beach-Boys-Kultes von den Tourneen zurückzieht, um mit einer Armee von Session-Musikern das revolutionäre Album Pet Sounds (1966) aufzunehmen. "Brian–Future" wird verkörpert von John Cusack, dem unscheinbaren Drifter im blockbusterfreien Teil der amerikanischen Filmindustrie, wo Filme wie Being John Malkovich, High Fidelity, America's Sweethearts, 1408, Hot Tub Time Machine oder Maps to the Stars entstehen. Als Wilson, der unter dem Joch Eugene Landys (Paul Giamatti) steht, liefert Cusack mit seiner unsicheren, stets leicht entrückten Unbeholfenheit, vor allem im Umgang mit der sich seiner annehmenden Autohändlerin Melinda Ledbetter (eine äusserst differenziert aufspielende Elizabeth Banks), eine der besten Darbietungen seiner illustren Karriere ab.

Love & Mercy ist augenscheinlich nicht an einem Wiederaufleben der grössten Beach-Boys-Hits gelegen. Dreh- und Angelpunkt sind und bleiben die Dimensionen von Wilsons Persona – die ausufernde Ambition, die chronischen Selbstzweifel, das Ankämpfen gegen den lauernden Wahnsinn. Gerade in den Szenen, welche die psychischen Probleme des jungen Brian in den Vordergrund rücken, gelingt es dem Film, unterstützt vom oft harschen Tondesign sowie Atticus Ross' stimmiger Originalmusik, hervorragend, die unheimlichen Tiefen der Krankheit seines Protagonisten auszuloten. Besonders die unbequeme, gewollt in die Länge gezogene Konversation zwischen Wilson, der im tiefen Ende seines privaten Schwimmbeckens treibt, sein Auf und Ab im Wasser imitiert von Robert Yeomans punktgenauer Kameraführung, und seine esoterisch-sinnlosen Songtexte erklärt, und dem verwirrten Rest der Beach Boys, dürfte – vor allem dank Danos geradezu verstörend lebensechter Leistung – noch lange in Erinnerung bleiben.

"Brian–Future": Gezeichnet von schweren psychischen Problemen, lernt Brian (John Cusack) in den Achtzigerjahren die Autohändlerin Melinda Ledbetter (Elizabeth Banks) kennen.
© Ascot Elite Entertainment Group
Allerdings erweist sich Pohlad in seinen kreativen Entscheidungen nicht als unfehlbar, und auch das Duo Moverman und Lerner lässt sich hin und wieder zu unglücklichen Verkürzungen hinreissen. So überspannt die finale Gegenüberstellung der beiden Brians, zu denen sich sogar noch eine Kindheits-Inkarnation dazu gesellt und deren Inszenierung wie eine unangebrachte Verneigung vor 2001: A Space Odyssey wirkt, den Bogen ein wenig; während das Drehbuch Eugene Landy wohl zu bereitwillig auf die eindimensionale Rolle des Bösewichts reduziert – und das nicht nur unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass Wilson nach eigener Angabe "am Boden zerstört" war, als Landy 2006 auf Hawaii starb. Dass Melinda den Quacksalber im dritten Akt als "Monster" bezeichnet und damit, in der Logik des Films, kaum übertreibt, steht in einem gewissen Kontrast zur ansonsten herrschenden Ausgewogenheit in den Charakterzeichnungen.

Letztlich fühlt sich aber Love & Mercy als ehrlicheres Biopic an als etwa Ray oder Get on Up. Pohlads Zweitwerk setzt auf eine seriöse Auseinandersetzung mit den problematischen Aspekten in der Vita seines Protagonisten, anstatt diese Elemente als unumgängliche Stationen auf dem Weg zu transzendentaler Grösse abzuhaken. Entsprechend wirkt die Erlösung, die Brian schlussendlich in Form stabiler Familien- und Freundschaftsverhältnisse zuteil wird, nicht wie ein von der Genre-Konvention diktiertes Obligatorium, sondern ein erarbeiteter Zustand. Und wenn der Abspann über die Leinwand rollt, in dem der echte Brian Wilson seinen Solo-Song "Love and Mercy" live zum Besten gibt, weiss man: Es ist ein Privileg, ihn noch auftreten sehen zu dürfen.

★★★★

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