Samstag, 15. August 2015

La isla mínima

Ein Gespenst geht um in Alberto Rodríguez' Spanien: das Gespenst des franquistischen Faschismus. Sein neuer Film spielt in der drückenden Septemberhitze des Jahres 1980, fünf Jahre nach dem Tod des galicischen Diktators Francisco Franco, der das Land seit den Dreissigerjahren mit eiserner Faust regiert hatte; doch mitten in der unsicheren, von politischer Instabilität und sozialen Gräben geprägten Übergangsphase zwischen Militärjunta und westeuropäischer Demokratie.

Vor diesem Hintergrund spielt sich im Kriminalthriller La isla mínima eine packende Ermittlung ab: In einem Dorf in den weitläufigen Guadalquivir-Sümpfen, einem wichtigen Reis-Anbaugebiet im Südwesten Andalusiens, verschwinden zwei Mädchen spurlos, woraufhin zwei Polizeiinspektoren aus Madrid in die Provinz beordert werden, um den Fall aufzuklären. Der eine ist Pedro Suárez (Raúl Arévalo) – jung, im Begriff, Vater zu werden, und seinen Vorgesetzten eine Spur zu idealistisch, denn weder er noch sein Partner Juan Robles (Javier Gutiérrez) zweifeln daran, dass es Pedros Leserbrief gegen einen weiterhin mächtigen war, der ihm die Mission ins andalusische Niemandsland eingebrockt hat.

Juan wiederum befindet sich angesichts der politischen Umwälzungen in Spanien in einer noch heikleren Lage: Als Veteran der Brigada Político-Social (BPS), auch bekannt unter dem sprechenden Beinamen "Francos Gestapo", steht er zwar unter dem Schutz eines 1977 verabschiedeten Amnestiegesetzes (und geniesst vermutlich das Vertrauen des nach wie vor einflussreichen Militärs), ist den progressiven Kräften im Land aber dennoch ein Dorn im Auge.

Regisseur und Co-Autor Rodríguez inszeniert beide Protagonisten als unvollkommene Figuren. Was Pedro an ideeller Redlichkeit und Professionalität auszeichnet, fehlt ihm oft an Einfühlungsvermögen und Durchsetzungskraft; nicht selten ist es Juan, dessen Kenntnis der provinziellen Sitten, gepaart mit unlauteren, handfesten Geheimdienst-Methoden, die Ermittlung voranbringt. Die Aufklärung des sich bald als Jagd auf einen Serienmörder herausstellenden Falls, das hebt Rodríguez in seiner vielschichtig-komplexen Handlung hervor, beruht auf dem Schulterschluss der beiden entgegengesetzten Ideologien.

Die Polizisten Juan (Javier Gutiérrez, Mitte) und Pedro (Raúl Arévalo) versuchen im Spätsommer 1980, einem Serienmörder auf die Spur zu kommen.
© Praesens Film
Auch für das Milieu, in dem der frühere Franquist und der junge Progressive – ein Duo, das mitunter an Morgan Freeman und Brad Pitt in David Finchers Seven erinnert – ihre Nachforschungen betreiben, hat Rodríguez ein scharfes Auge. Hier ist der Kampf zwischen den unterbezahlten Farmhilfskräften und den mächtigen Grossgrundbesitzern in vollem Gange; unter den Fischern floriert der Drogenhandel, von offizieller Seite gegen Gewinnbeteiligung abgesegnet; im gemeinen Volk haben Jahrzehnte franquistischer Herrschaft und Jahrhunderte katholischen Glaubens ihre Spuren in Form von autoritärer Hierarchie und endemischer Frauenfeindlichkeit hinterlassen.

La isla mínima bohrt tief ins Fundament des modernen Spanien, weist ohne moralische Wertung auf die tief in der Gesellschaft verwurzelten Widersprüche und Problematiken hin, die Kompromisse und Konzessionen, auf deren Basis eine faschistische Diktatur innert weniger Jahre in ein EU- und NATO-taugliches Land verwandelt wurde. Rodríguez findet darin jedoch – löblicherweise – keine verdammenswerte Scheinheiligkeit, sondern eine realitätsnahe Pragmatik, die, wenn auch moralisch nicht lupenrein, der krisengeplagten spanischen Gegenwart vielleicht so etwas wie ein Vorbild sein kann.

Doch was diesen Film zuallererst, jeglicher sozialer und politischer Deutung ungeachtet, auszeichnet, ist sein Wert als Genre-Werk. La isla mínima bewegt sich mit seiner düsteren Atmosphäre, seinen grausam-vertrackten Verbrechen auf den Spuren des postmodernen Quasi-Noir – auch hier bietet sich Seven zum Vergleich an – und gehört zu den spannendsten Krimis, die es in jüngerer Vergangenheit im Kino zu bewundern gab. In bester Genre-Manier konfrontieren Rodríguez und Co-Autor Rafael Cobos das Publikum mit zahlreichen plausiblen Verdächtigen und Motiven; das Verhältnis zwischen Figurenzeichnung, intensiven Dialogszenen, ominösen Spannungsmomenten und atemlosen Verfolgungen ist hervorragend bemessen.

In den ländlichen Sumpfgebieten Andalusiens hat so mancher Leichen im Keller – echte und metaphorische.
© Praesens Film
Als Ergänzung zur mitreissenden Erzählung verfügt La isla mínima zudem über eine optimale Bild- und Ton-Ästhetik. (Umso befremdlicher ist der stellenweise etwas unsaubere Schnitt, der den einen oder anderen Kontinuitätsfehler verschuldet.) So unterstreicht etwa Julio de la Rosas Score das Thema des unheimlichen ländlichen Anti-Idylls mit gespenstisch verfremdeten Klängen aus der traditionellen spanischen Musik. Als noch auffälliger – deswegen aber keineswegs effektheischend – erweist sich indessen die Arbeit von Kameramann Álex Catalán, der geschickt die schattenreiche Bildsprache des klassischen Thrillers mit den Sepiafarben des Westerns vermengt.

Überhaupt weiss Cataláns Umgang mit dem Schauplatz des Films zu begeistern: Immer wieder lässt er zum Ausklang einer Sequenz die Kamera senkrecht auf die Szenerie hinunterblicken – Felder, Gärten und Strassen werden zu betörend arrangierten Landkarten. Angekündigt – und im Grunde perfektioniert – wird dieser Kunstgriff bereits während des Vorspanns, als Cataláns Kamera das Guadalquivir-Sumpfgebiet auf diese Art und Weise überfliegt. Hier verwandeln sich verworrene Rinnsale und ausgetrocknete Bachbette scheinbar in Hirnwindungen, das Land in ein Symbol für die psychischen Abgründe seiner Bewohner. Es ist eine perfekte Versinnbildlichung des Kunststücks, welches Rodríguez in La isla mínima vollführt: Fundiert und ausgewogen wird unter der Oberfläche über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Spaniens reflektiert, ohne diesem gewichtigen Subtext den Unterhaltungswert des Ganzen zu opfern.

★★★★★

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