Mittwoch, 19. August 2015

Me and Earl and the Dying Girl

Filmreferenzen und Hommagen an die Kinohistorie fliessen gleich in mehrfacher Hinsicht in den Adern dieser Coming-of-Age-Tragikomödie. Da wären etwa zwei Drittel des Titelfiguren-Trios: Die High-School-Freunde Greg (Thomas Mann) – "Me" – und Earl (der grossartige RJ Cyler) haben sich unter der tatkräftigen Mithilfe von Gregs Vater (Nick Offerman) in veritable Cinephile verwandelt; zu ihren Hobbys gehört der Dreh von amateurhaften Verfremdungen von Klassikern. 42 dieser "Meisterwerke" haben sie bereits im Regal stehen – von A Sockwork Orange und The Seven Seals über Senior Citizen Kane und Ate ½ bis hin zu enigmatischen Wortspiel-Projekten wie Nose Ferret 2 und A Box of Tulips, Wow. (Das Geheimnis dieser Titel liegt, ähnlich wie bei David Bowies Kult-Album Aladdin Sane, in der lauten Aussprache.)

Doch auch ausserhalb des ungewöhnlichen Universums von Me and Earl and the Dying Girl sind filmische Assoziationen im Überfluss vorhanden. Der Film, eine Adaption von Jesse Andrews' gleichnamigem Bestseller aus dem Jahr 2012 – inszeniert vom ehemaligen Scorsese- und Iñárritu-Assistenten Alfonso Gomez-Rejon, geschrieben von Andrews selbst –, reiht sich nahtlos ein in den amerikanischen Kanon halbunabhängiger Produktionen, die seit bald zehn Jahren das Publikum des Sundance-Festivals begeistern und den Independent-Ablegern der grossen Studios regelmässig ansehnliche Summen einbringen.

Die bittersüss-melancholische Geschichte um Gregs Freundschaft mit der an Leukämie erkrankten Schulkameradin Rachel (herausragend: Olivia Cooke) erinnert in ihrer Thematik an die Krebs-Dramödien 50/50 und The Fault in Our Stars. Für die liebevollen Karikaturen von High-School-Cliquen und -Sitten scheinen Filme wie Stephen Chboskys ausgezeichneter The Perks of Being a Wallflower oder Jordan Vogt-Roberts' unterschätzter The Kings of Summer Pate gestanden zu haben; derweil die stilistisch eigenwillige Umsetzung des Stoffs die Züge von (500) Days of Summer und bisweilen sogar von Scott Pilgrim vs. the World trägt. In den vereinzelten Stop-Motion-Sequenzen, die Gomez-Rejon geschickt einbaut, sowie in den den Streifen von Greg und Earl wiederum klingt Garth Jennings' Son of Rambow – zwar eine britische Produktion, doch ebenfalls ein Sundance-Beitrag – an.

Die High-School-Aussenseiter Greg (Thomas Mann, rechts) und Earl (RJ Cyler) widmen ihre Freizeit dem Dreh von Amateur-Filmen.
© 2015 Twentieth Century Fox Film Corporation
Angesichts der Tatsache, wie sehr Me and Earl and the Dying Girl explizit und implizit auf bestehenden Filmen aufbaut, ist es erstaunlich, wie es Gomez-Rejon dennoch gelingt, dieses Amalgam derart autonom, derart eigenständig wirken zu lassen. Zu keinem Zeitpunkt stellt sich das Gefühl ein, man wohne einer blossen Abwandlung von The Perks of Being a Wallflower oder The Fault in Our Stars bei; anders als die wundersamen Filme von Greg und Earl fusst die Andrews-Verfilmung nicht ausschliesslich auf seinen Inspirationen.

Mit einem makellos aufspielenden Cast – zu den Nebendarsteller-Höhepunkten gehören Jon Bernthal als tätowierter Geschichtslehrer sowie ein Voiceover-Cameo von Hugh Jackman – wird hier ein berührendes Märchen über jugendliche Identitätssuche und Zukunftsangst erzählt. Und obwohl der Tonfall, der im dritten Akt teilweise angeschlagen wird, möglicherweise ein wenig zu ernst ausfällt, verwehren sich Gomez-Rejon und Andrews letztendlich erfolgreich dem sentimental-moralisierenden Potenzial des Krebs-Narrativs, indem sie dem Film, allen tragischen Elementen zum Trotz, durchgehend als menschliche Komödie verstehen. Trockener, oft leicht absurder Witz ist die Grundierung, auf der die vielschichtigen Emotionen aufbauen.

Gregs geordnetes Leben ändert sich schlagartig, als seine Schulkameradin Rachel (Olivia Cooke) an Leukämie erkrankt und er sich – zunächst widerwillig – mit ihr anfreundet.
© 2015 Twentieth Century Fox Film Corporation
Was Me and Earl and the Dying Girl von vielen seiner Sundance-Artgenossen jedoch entscheidend abhebt, ist die eklatante handwerkliche Verve, mit der man hier konfrontiert wird. Der Reiz des Films erschöpft sich nicht in seiner umsichtigen, emotional wahrhaftigen Handlung, sondern liegt ebenso in der Art der ästhetischen Vermittlung. Gomez-Rejon hält seine Welt in warmen Pastellfarben; viele seiner Bilder sind von einer feinen Symmetrie – beides Indizien für eine gewisse Affinität zu Wes Anderson. Am besten zum Ausdruck kommen seine gestalterischen Qualitäten aber in seiner Inszenierung von Dialogen. In einem Bereich, der Regisseuren scheinbar nur wenig kreativen Spielraum lässt, erweist er sich als schierer Virtuose. Streitet Greg mit Vater und Mutter (Connie Britton), verfolgt Chung-hoon Chungs Handkamera die Kontrahenten ohne Schnitt durch die ganze Wohnung; macht ein widerwilliger Greg einer traurigen Rachel seine Aufwartung, spielt sich das Gespräch in einem unbehaglich statischen Schuss-Gegenschuss-Dialog ab; debattieren die beiden über Sinn und Unsinn von Rachels Chemotherapie, bewegt sich die Kamera minutenlang nicht, wodurch mit subtilsten Mitteln die erdrückende Tragik des Moments eindrücklich unterstrichen wird.

Filme wie The Kings of Summer, 50/50, The Perks of Being a Wallflower oder eben Me and Earl and the Dying Girl machen es einem mit ihren sympathischen Figuren und ihrer lockeren Umgangsform zugegebenermassen einfach, sich für sie zu begeistern. Doch gerade wenn diese Bekömmlichkeit von einer solch beachtlichen Regieleistung, wie sie Alfonso Gomez-Rejon hier abliefert, sowie einem straffen Skript untermauert wird, zeigt sich das unterschwellige Genie des studiodominierten amerikanischen "Independent"-Kinos.

★★★★

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