Donnerstag, 17. September 2015

Youth

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

2014 gewann Paolo Sorrentinos atemberaubender La grande bellezza den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Dieselben Höhen erreicht das Folgewerk Youth zwar nicht ganz; aber es ist dennoch ein bewegendes Drama auf den Spuren von Luchino Visconti, Federico Fellini und Thomas Mann.

Hoch über Davos, im einstigen Sanatorium und heutigen Nobelhotel Schatzalp, tummeln sich in Youth allerlei sonderbare Gestalten. Hier setzt ein fettleibiger Ex-Fussballspieler (Roly Serrano) – im Abspann unverschämt als "Diego Maradona" aufgeführt – mit monumentalem Karl-Marx-Rückentattoo mühsam einen Fuss vor den anderen; dort bereitet sich ein lakonischer US-Schauspieler (Paul Dano) auf seine nächste Rolle vor. Abends bei Tisch werden Wetten abgeschlossen, ob das angejahrte Hautevolee-Ehepaar nun endlich ein Wort miteinander wechselt oder nicht; abends im Hotelgarten trägt Folksänger Mark Kozelek schwärmerisch-klagende Balladen vor; am Kur-Schwimmbecken räkeln sich reiche Senioren und auch die frisch gekürte Miss Universum (Madalina Diana Ghenea). Und mittendrin in diesem bunten Treiben, wie Hans Castorp und Joachim Ziemßen in Thomas Manns Zauberberg – inspiriert vom und angesiedelt im Sanatorium Schatzalp –, sitzen der pensionierte britische Star-Komponist Fred Ballinger (Michael Caine mit einer ebenso grandiosen wie subtilen Darbietung) und der US-Filmemacher Mick Boyle (Harvey Keitel): seit 60 Jahren befreundet, Leidensgenossen in Sachen Altersbeschwerden, vergnügte Betrachter der sie umgebenden Dekadenz.

In La grande bellezza hat sich Paolo Sorrentino vom Stilkatalog Federico Fellinis leiten lassen; die oft mit überbordendem Pomp inszenierte Geschichte des oberflächlichen Römer Lebemanns Jep Gambardella (Toni Servillo) war eine bizarre, brillante Abhandlung über das Nichts. Dieser ästhetischen und inhaltlichen Philosophie folgt über weite Strecken auch Youth – gerade wenn Sorrentino den Blick auf das expressiv ins Bild gesetzte Unterhaltungsprogramm auf der Schatzalp wirft –, doch wird diese hier vermengt mit der fatalistischen Endzeit-Melancholie, wie sie Luchino Visconti etwa in Il gattopardo oder der Mann-Verfilmung Morte a Venezia kultivierte. Im zeitlosen Vakuum des "Zauberbergs" blicken Fred und Mick – auf der Suche nach der verlorenen Zeit – auf ein unvollkommenes Leben voller falscher Entscheidungen und verpasster Chancen zurück – sofern sie sich überhaupt daran erinnern können.

Die alten Freunde Fred (Michael Caine, links) und Mick (Harvey Keitel) verbringen einen gemeinsamen Sommer in einem noblen Davoser Hotel.
© Praesens Film
Zwar vermögen diese Elemente nicht immer völlig miteinander zu harmonieren: Besonders die bei Fellini entlehnten absurden Überzeichnungen gewisser Figuren beissen sich zuweilen mit der Seriosität, mit der Sorrentino die Situation der beiden Hauptfiguren letztendlich zu behandeln versucht. Doch der Film spielt mit diesen Stilbrüchen; seine diversen Handlungsstränge scheinen auf die Moral hinauszulaufen, dass Disharmonie ein unumgänglicher Teil des Lebens ist, dass die Akzeptanz dieser Imperfektion das Geheimnis eines glücklichen Lebens darstellt. Erzählt wird dies in einem gemächlichen Tempo; das Publikum wird eingeladen, sich in der fröhlichen Schein-Gleichförmigkeit des Hotelalltags zu verlieren. Dank erneut hevorragender Leistungen von Sorrentino und Kameramann Luca Bigazzi wandelt sich der Zuschauer in Youth vom ausgegrenzten Betrachter zum involvierten Kurgast, der beinahe enttäuscht ist, als nach zwei Stunden und einer fantastischen Schlusssequenz der Abspann über die Leinwand rollt.

★★★★

Donnerstag, 10. September 2015

Boychoir

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Eigentlich erfüllt Boychoir punkto Thematik, Handlung und Besetzung sämtliche Voraussetzungen, ein erhebendes, wenn auch harmloses Crowdpleaser-Drama zu sein. Doch was Regisseur François Girard und Drehbuchautor Ben Ripley hier abliefern, ist schlicht und ergreifend schlechtes Filmemachen.

Wer sich Anfang Jahr darüber aufgehalten hat, dass in Damien Chazelles virtuosem Musik-Kammerspiel Whiplash der Alltag an Jazzschulen unrealistisch und überspitzt dargestellt wurde, dem sei von Boychoir nachdrücklich abgeraten. Denn die Verhältnisse, die hier im renommierten Sängerknaben-Internat herrschen, an das der verhaltensauffällige, aber hochgradig gesangsbegabte Junge Stet (Garrett Wareing) geschickt wird, spotten im Vergleich zu Chazelles dreifachem Oscarpreisträger jeder Beschreibung. Hier regiert der an sich als gutmütig konzipierte Dirigent Carvelle (ein eher gelangweilt wirkender Dustin Hoffman), der seine elf-, zwölfjährigen Schützlinge als Vorbereitung auf den Druck, der auf der Bühne auf ihnen lastet, mit Scheinwerfern und pädagogisch fragwürdigen Kommentaren traktiert. Erreicht der Tourbus sein Ziel mit einer Minute Verspätung, ist dies Carvelles Assistent, dem unablässig höhnenden Briten Drake (Eddie Izzard), ein enttäuschtes Kopfschütteln wert. Und die Musikaffinität, die Carvelles Institut voraussetzt, wird am haarsträubenden Beispiel des jungen Lehrers Wooly (Kevin McHale) exemplifiziert, der sich einem Besucher mit der Bemerkung "Your shoes squeak in E-flat" ("Ihre Schuhe quietschen in Es") vorstellt.

Nein, nach einer auch nur im Entferntesten realistischen Darstellung einer Chorschule sucht man im Boychoir – mit Ausnahme des stimmig eingefangenen Schulgebäudes selbst – vergeblich. Dies wäre nicht weiter ein Problem, könnte der Film stattdessen mit einer anregenden Geschichte, interessanten Figuren oder einer einnehmenden Inszenierung aufwarten. Doch François Girards Regie lässt praktisch jede Finesse vermissen; derweil das vorhersehbare Drehbuch von Ben Ripley – der es, wie Source Code gezeigt hat, eigentlich besser könnte – die grundsätzlichen Regeln des filmischen Geschichtenerzählens konstant zu ignorieren scheint.

Der schwer erziehbare Stet (Garrett Wareing, Mitte) erhält in einer renommierten Chorschule neue Perspektiven.
© Impuls Pictures AG
Während sich die Defizite von Girards Inszenierung primär in Form von steif agierenden Schauspielern und hölzern abgewickelten Szenen bemerkbar machen, grenzt es direkt an ein Wunder, dass der Film trotz Ripleys katastrophalem Skript dennoch über einen gewissen Unterhaltungswert verfügt. Boychoir fehlt jegliche erzählerische Stringenz: Stets alkoholkranke Mutter bestreitet eine einzige Szene, bevor sie einem Autounfall zum Opfer fällt; Miss Steel (Debra Winger), die Rektorin von Stets erster Schule, ist überzeugt vom Singtalent des maulfaulen, verschlossenen Jungen, obschon man ihn an diesem Punkt noch nicht hat singen hören; zwischen der Sequenz, in der ihm ein Freund Notenlesen beibringt, und Woolys uneingeschränkter Begeisterung über seine verbesserten Fähigkeiten liegt ein einziger Schnitt. Ripleys Dialoge wiederum wirken deplatziert und erzwungen; viele davon erklären dem Publikum Umstände, die sich problemlos bildlich darstellen liessen. Übertroffen werden diese eklatanten Schwächen lediglich von der geradezu lächerlichen Figurenzeichnung, welche fast alle Charaktere, hauptsächlich aber Stets Chor-Kameraden, in eindimensionale Karikaturen verwandelt. Als trauriger Höhepunkt bleibt diesbezüglich das jugendliche "Bösewicht"-Duo Raffi (River Alexander) – Snob, Mitläufer, motivlos gemein – und Devon (Joe West) – ein verwöhntes, übertrieben diabolisches Wunderkind mit Nickelbrille auf den Spuren von Draco Malfoy – in Erinnerung: die letzten Nägel im Sarg eines Films, der wirkt wie das Werk von bemühten Dilettanten.

★★

Dienstag, 8. September 2015

Knight of Cups

Es ist wieder einmal so weit: Terrence Malick, der zurückgezogen lebende Grossmeister des amerikanischen Kunstfilms, veröffentlicht sein neues Opus – sein drittes in vier Jahren, das zweite seitdem der mehrfach oscarnominierte Palme-d'or-Gewinner The Tree of Life (2011) Malicks Karriere neuen Schub verlieh.

Die Themen, die den Wahltexaner umtreiben, sind hinlänglich bekannt: die wohlhabende US-Mittel- und -Oberschicht, ihr spiritueller und emotionaler Bankrott, die Sinnleere und Künstlichkeit des Abendlandes. Ebenso die Art der Vermittlung: tranceartige Sequenzen, in denen die Kamera federleicht durch den Raum zu gleiten scheint und dabei Gesprächsfetzen registriert, deren wahrer Sinn erst durch geraunte Kommentare aus dem Off ersichtlich wird, und durchsetzt mit literarischen Zitaten, philosophischen Gedanken und dem Anrufen einer höheren Macht; hinzugefügt werden in regelmässigen Abständen träumerische Naturaufnahmen.

Viele finden diesen Stil genial, die Themen, die der Film anstösst und behandelt, das Tiefgründigste, was sich im internationalen Gegenwartskino finden lässt. Und man muss es Malick lassen: Er ist ein begnadeter Stilist, ein Konzept-Filmemacher von visionärem Format. Reguläres Drehmaterial in solch transzendentale Traumwanderungen zu verwandeln, in denen sich Bild, diegetische Geräusche, Voiceover und Musik derart komplementieren, ist weder einfach noch einfallslos. Er zeigt keinerlei Hemmungen, die Hollywood-Stars, die sich inzwischen um Rollen in seinen Projekten regelrecht zu reissen scheinen, kompromisslos aus dem vollendeten Produkt herauszuschneiden, wenn ihre Präsenz nichts zum Werk beiträgt. (Die Darbietungen von Barry Pepper, Michael Sheen, Rachel Weisz und Jessica Chastain im 2012 erschienenen To the Wonder fielen allesamt unter den Tisch.) Die Aufnahmen – in Knight of Cups, wie schon in The New World (2005), The Tree of Life und To the Wonder, von Emmanuel Lubezki (Gravity, Birdman) eingefangen – sind Mal für Mal von atemberaubender Schönheit.

Entsprechend ist auch Knight of Cups unbestreitbar ein besonderes Erlebnis. Weniger noch als The Tree of Life, The Thin Red Line (1998), Days of Heaven (1978) oder Badlands (1973) ist er an eine lineare Handlung gebunden. Wie der Schlussakt von The Tree of Life zeigt er einen schwermütigen Mann (Christian Bale), der durch eine ihm fremd gewordene Welt aus Glas und Neonlicht streift, abgekapselt vom ihm umgebenden Leben. Sein Name ist Rick, er ist ein erfolgreicher Comedy-Autor in Hollywood, und die Beziehungen in seinem Leben gehen ausnahmslos in die Brüche: Seine Frau (Cate Blanchett) trennt sich von ihm, seine Liebschaften (Freida Pinto, Imogen Poots, Teresa Palmer) beginnen ihn rasch zu langweilen, seine neue Liebe (Natalie Portman) will sich nicht scheiden lassen, Vater (Brian Dennehy) und Bruder (Wes Bentley) haben den Selbstmord seines zweiten Bruders noch immer nicht verarbeitet.

Der erfolgreiche Hollywood-Autor Rick (Christian Bale) steckt in einer tiefen Sinnkrise.
© Ascot Elite Entertainment Group
Malicks regiemässige und visuelle Konzeptions-Leistung in Knight of Cups ist unbestritten brillant. Er lässt Lubezki mit einer kleinen GoPro-Kamera experimentieren, lässt ihn tragikomische Unterwasser-Aufnahmen von Hunden einfangen; mal lässt er ihn einen Blick auf die untergehende Sonne erhaschen, was den Vordergrund in wunderschönes goldenes Licht taucht. Die langen Einstellungen, in denen die Kamera Ricks gedankenversunkenen Spaziergängen über Strände, durch Korridore, Strassenschluchten und Filmset-Strassen folgt, sind von einer berückenden Ästhetik.

Die "Geschichte", die sich abspielt, wird weniger erzählt als dass sie ins Fassungsvermögen des Zuschauers sickert. Es sind nicht die einzelnen Einstellungen und Szenen, die einem einen Sinn fürs Ganze vermitteln; es ist ihre Gesamtheit. Im Vergleich zu The Tree of Life wirkt das beinahe stimmig; Knight of Cups ist ein stilistisch geschlossenerer Film, der Hang zur radikalen Abstraktion mehr grundlegender Modus als hinzu gedichtetes Stilmittel.

Doch Malick bleibt Malick – und frustrierend bleibt frustrierend. Denn so schön sein neuer Film auch anzusehen ist, so sehr man die künstlerische Dringlichkeit hinter dieser Weltschmerz-Trance auch spürt – ein handfester Sinn ist daraus kaum herauszulesen. Ben Kingsley rezitiert eingangs aus John Bunyans Pilgrim's Progress; ein Priester (Armin Mueller-Stahl) belehrt Rick, dass das Leid, das Gott einem auferlegt, ein Geschenk der Liebe sei; jede bedeutungsschwangere Sekunde von Knight of Cups beruht auf dem ethisch-emotionalen Ruin seines Protagonisten, welcher wohl stellvertretend für die Menschheit der westlichen Wohlstandsgesellschaften stehen soll.

Um das spirituelle Loch in seinem Leben zu füllen, sucht Rick Trost in flüchtigen Liebschaften, wie etwa mit der verheirateten Elizabeth (Natalie Portman).
© Ascot Elite Entertainment Group
Nur: Es ist nicht möglich, etwas für diese Figur zu empfinden – geschweige denn, sich in ihr wieder zu erkennen –, wenn man sie nur durch vage Voiceover und gemurmelte Kürzest-Dialoge kennt. Des Mannes angedeutete Krise wirkt angesichts seines offenkundigen Reichtums und seines melancholisch-gelangweilten Gesichtsausdrucks wie Selbstmitleid auf hohem Niveau – woran auch die vereinzelten Momente, in denen Malick die Kamera auf Obdachlose richtet, letztlich nichts ändern.

Knight of Cups mag Filmästhetik in Reinform sein, doch fehlen ihm zu wahrer Grösse die Bezugspunkte, das Gefühl, dass die verträumten Ruminationen der Figuren einen höheren Sinn ergeben. Oft wirken diese – obwohl man es natürlich besser weiss – willkürlich aneinander gereiht, ihre Verschwommenheit soll wohl den Schein von elementarer Tiefgründigkeit aufrecht erhalten. Und daran scheitert schlussendlich auch dieser Film: Was Malick hier kultiviert, ist nichts anderes als eine hübsch verpackte Leere, ein Nichts, das nach philosophischer Grösse strebt. Alles ist Schein, nichts ist Sein.

★★

Montag, 7. September 2015

Die Demokratie ist los!

"Wir Schweizer sind ein glückliches Volk. Wir dürfen über alles abstimmen, was uns wichtig ist", sagt Dokumentarist Thomas Isler zu Beginn von Die Demokratie ist los! per Voiceover. Hat das Volk ein Anliegen, kann dieses nach einer erfolgreichen Unterschriftensammlung zur Abstimmung gebracht werden; will es einen Parlamentsbeschluss anfechten, so ist auch das ohne weiteres möglich. Doch wohin führt dieses System, wenn es ins Extrem getrieben wird?

Dieser für Schweizer Verhältnisse durchaus provokanten Frage – sowohl die eidgenössische Direktdemokratie als auch der abstimmende Souverän gelten im öffentlichen Diskurs als heilige Kühe, so der interviewte Völkerrechts-Professor Oliver Diggelmann – geht Islers Film vor dem Hintergrund von Minarettverbot, Ausschaffungs- und Masseneinwanderungsinitiativen nach. Auf den stereotyp-helvetischen Deckmantel der Neutralität verzichtet er bewusst: Schon in der Einleitung gibt Isler zu, sich an Wahlsonntagen "meistens auf der Seite der Verlierer" zu befinden; die erste Szene der Dokumentation kontrastiert die triumphale Einreichung der völkerrechtlich problematischen SVP-Durchsetzungsinitiative mit dem Grünen Jo Lang, der in Bern, scheinbar erfolglos, Unterschriften gegen neue Kampfflugzeuge sammelt.

Um dem Vorwurf der Indoktrination zuvorzukommen, bemüht sich der Film, wie etwa Ken Loachs The Spirit of '45, seinen linken Standpunkt so überzeugend wie möglich darzustellen – was ihm auch mühelos gelingt. Nur in vereinzelten Momenten muss Isler zum journalistisch zweifelhaften leitenden Schnitt greifen; ansonsten präsentiert sich Die Demokratie ist los! – dank anschaulicher, mit Ausnahme der Minarettinitiative eingehend besprochener Fallbeispiele und eines breiten Angebots an autoritativen Interview-Gästen – als überaus fundierte Diskussion einer über 100-jährigen Schweizer Tradition, die in den vergangenen Jahren auf Grund von Entscheidungen, die nach internationalem Recht nicht vorbehaltlos umsetzbar sind, wiederholt für negative Schlagzeilen gesorgt hat.

Während die Schweizer Rechte – hier SVP-Exponenten beim Einreichen der Durchsetzungsinitiative – mit Hilfe von Volksinitiativen zunehmend erfolgreich gegen das internationale Völkerrecht vorgehen...
© cineworx
Das Problem orten Isler und seine Probanden nicht bei der direkten Demokratie an sich, sondern bei ihrer Auslegung durch gewisse – sprich: rechte – Politiker, Populisten und Demagogen. (Man ist nicht überrascht, Islers Kamera bei mehreren Reden Christoph Blochers anzutreffen.) Mit Hilfe von Oliver Diggelmann, des ehemaligen Bundesgerichtspräsidenten Giusep Nay und des emeritierten Rechtsprofessors Philippe Mastronardi argumentiert Die Demokratie ist los! auf filmisch unspektakuläre, aber wirkungsvolle Art und Weise, dass auch nach eidgenössisch-liberalen Idealen der Volkswille nicht über den Menschenrechten und dem Minderheitenschutz stehen soll und stehen darf. "Sonst haben wir eine Diktatur der Mehrheit", so Mastronardi. "Wer Demokratie mit absoluter Selbstbestimmung des Volkes gleichsetzt, der hat das Prinzip nicht verstanden."

Aus den angesammelten Expertenmeinungen leitet der Film, ohne unbegründete Mutmassungen, das definitiv plausible Narrativ ab, dass aus der Schweizer Volksinitiative im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte unter dem Einfluss der "neuen Rechten" – darf man eigentlich schon von "Blocherismus" sprechen? – eine Politikerinitiative geworden ist. Diente sie einst dem Volk als ureigene Garantie der Gewaltenteilung, ist sie mittlerweile zum politischen Instrument von Parteien und Politikern geworden, die so ihre Programme ins Gewand des Volkswillens kleiden können.

...haben die Linken bei der Mobilisierung des Volkes einen eher schweren Stand.
© cineworx
Isler konfrontiert nicht nur Schweizer Politiker von der Rechten bis zur Linken mit diesen Überlegungen – pikanterweise macht Blocher im Interview von allen SVP-Exponenten die beste Figur –, sondern richtet seinen Blick auch ins nahe Ausland, wo sich diverse rechtsextreme Gruppierungen, von FPÖ bis Front National, nach einem direktdemokratischen System nach Schweizer Vorbild sehnen. Er spricht mit rechten und linken Direktdemokratie-Verfechtern, mit kritischen Politikern – "Wenn ich mir die eine oder andere Stammtischmeinung anhöre, dann weiss ich nicht, ob eine Volksentscheidung das Richtige wäre", sagt der Bürgermeister einer deutschen Kleinstadt –, und mit Menschen auf der Strasse. Man merkt: Abstimmungen und Volksbefragungen, Musterbeispiele für den heiklen Balanceakt Demokratie, sind nicht nur ein delikates Thema, sondern auch ein internationales, in dem die kleine Schweiz im Endeffekt bloss eine marginale Rolle spielt.

Hier wird nicht gegen das Schweizer System Polemik betrieben. Im Gegenteil: Mit seinem "linken", hoffnungsvoll-idealistischen Schluss kann der Film auch als Verneigung vor der dem Ganzen zu Grunde liegenden Idee gelesen werden. Worauf Die Demokratie ist los! schlussendlich hinaus will – und was ihn letztlich auch besser macht als der vergleichbare, aber weniger tief greifende Mais im Bundeshuus –, ist, dass Kritik an etablierten nationalen Strukturen nicht einem Landesverrat gleich kommt, dass eben diese Strukturen kontinuierlich vernunftgesteuerter, kritischer Auseinandersetzungen unterzogen werden müssen, um ihre Legitimität sicherzustellen. Chauvinismus, Tradition und patriotische Rhetorik allein sind keine Basis für eine erfolgreiche, demokratische Zukunft.

★★★★

Sonntag, 6. September 2015

Ricki and the Flash

Nicht zum ersten Mal erzählt Drehbuchautorin Diablo Cody (Juno) von einer, die auszog, um ihre Träume zu erfüllen, nur um Jahre später desillusioniert in die Provinz zurückzukehren, die sie einst so optimistisch hinter sich gelassen hat. In Young Adult, inszeniert von Jason Reitman, war es Charlize Theron in Gestalt der YA-Autorin Mavis Gary, die es von Minneapolis ins Hinterland von Minnesota zurückzog, in der wahnhaften Hoffnung, ihren High-School-Freund wieder für sich zu gewinnen.

In Ricki and the Flash begibt sich die kurz vor dem Konkurs stehende Coverband-Rockerin Ricki Rendazzo – bürgerlich: Linda Brummel –, gespielt von Meryl Streep, auf die Reise von Kalifornien nach Indianapolis, wo sie mit ihrem Ex-Mann Pete (Kevin Kline) versucht, der gemeinsamen Tochter Julie (Streeps Tochter Mamie Gummer) über die Trennung von ihrem untreuen Ehemann hinwegzuhelfen. Doch in Indianapolis sind ihr, mit Ausnahme von Pete und ihrem Sohn Josh (Sebastian Stan), nur die wenigsten freundlich gesinnt: Julie und ihr Bruder Adam (Nick Westrate) haben ihr immer noch nicht verziehen, dass sie sie auf der Suche nach Erfolg zurückgelassen hat; von Petes Freundeskreis wird sie kritisch beäugt; und mit Petes Frau Maureen (die herausragende Audra McDonald) streitet sie sich darüber, wer das Recht hat, sich als emotionale Mutter von Julie, Josh und Adam rühmen zu dürfen.

Wie schon in Young Adult zeichnet sich Codys Skript insbesondere durch seine sorgfältig differenzierte Figurenzeichnung aus, die es dem Zuschauer ermöglicht, sich in Konfliktsituationen in beide Lager hineinzuversetzen. Weder Ricki noch Pete noch Julie noch Rickis Gitarrist und Liebhaber Greg (Rick Springfield) verhalten sich im Laufe des Films durchgehend korrekt – oder wirken grenzenlos sympathisch. Rickis Konservatismus, der in homophoben Äusserungen gegenüber dem homosexuellen Adam kulminiert, macht sie zu einer herausfordernden Protagonistin; Pete ist bisweilen frustrierend passiv; die Beharrlichkeit, mit der Greg um Ricki wirbt, hat etwas Rücksichtsloses an sich; derweil Julies Ablehnung gegenüber ihrer Mutter mitunter überspitzt wirkt.

Mutter und Tochter: Ricki (Meryl Streep, rechts) kehrt vorübergehend zu ihrer entfremdeten Familie zurück, um ihre Tochter Julie (Mamie Gummer, Streeps Tochter) nach deren Scheidung zu trösten.
© Sony Pictures Releasing International
Doch der Film folgt, wie Juno vor ihm, Codys hoffnungsvoller Vision von der dank Toleranz und harter Arbeit funktionierenden Patchwork-Familie. Obwohl Jonathan Demmes stilsichere Inszenierung Rickis reaktionären Ansichten hie und da ein wenig zu sehr zu unterstützen scheint (dem wirkt der ethnisch vielfältige Cast immerhin ansatzweise entgegen), besticht Ricki and the Flash durch seine Motive der Versöhnung und der besonnenen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, den eigenen Fehlern, den eigenen Wünschen.

Man kann Cody vorhalten, dass ihre – lobenswert frauendominierte – Handlung allzu oft den Tonfall wechselt, dass sie einem eine zu bekannte Geschichte mit neuem Anstrich neu verkauft, dass sie es sich mit ihrer Lösung der familiären Probleme der Bummels zu einfach macht. Doch Ricki and the Flash ist einer jener Filme, dessen lebhafte, emotional aufrichtig dargestellte Charaktere die durchaus vorhandenen Probleme der sie umgebenden Erzählung mühelos wettmachen. Ob die versöhnlichen Enden, welche Ricki, Julie, Pete, Josh, Adam, Maureen und Greg letztendlich erreichen, realistisch sind, ist Nebensache. Der Punkt ist, dass sie sie verdienen.

★★★★

Donnerstag, 3. September 2015

Straight Outta Compton

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Laut, wild und unberechenbar – so traten die Gangsta-Rap-Pioniere von N.W.A. ("Niggaz wit Attitude") in den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren auf, und so präsentiert sich auch F. Gary Grays ausladendes Spielfilm-Porträt der Gruppe. Straight Outta Compton ist ein Musik-Biopic nach Mass.

Wie die beiden Alben, die N.W.A. während ihres fünfjährigen Bestehens (1986–1991) veröffentlichte, so sollte wohl auch diesen Film ein Warnhinweis zieren. Wurde auf den Musikträgern vor "explicit content", also vor Schimpfwörtern und nicht jugendfreien Themen gewarnt, stünde Straight Outta Compton, benannt nach dem legendären N.W.A.-Debütalbum aus dem Jahr 1988, etwas in der Art von "unsicherer Wahrheitsgehalt" gut zu Gesicht. Denn wie es bei den meisten Musik-Biografien Hollywoods der Fall ist – von Ray über Walk the Line bis hin zu Get on Up –, sind auch die "Fakten", die einem in F. Gary Grays Film vermittelt werden, mit Vorsicht zu geniessen. Entstanden ist dieser nämlich unter der Produktionshilfe der N.W.A.-Gründungsmitglieder Andre "Dr. Dre" Young (im Film gespielt von Corey Hawkins) und O'Shea "Ice Cube" Jackson (Sohnemann O'Shea Jackson Jr.) sowie Tomica Woods-Wright (Carra Patterson), der Witwe des 1995 an AIDS verstorbenen Eric "Eazy-E" Wright (Jason Mitchell), welcher der Band 1987 mit der Single "Boyz-n-the-Hood" erstmals landesweite Aufmerksamkeit verschaffte. Entsprechend überrascht es nicht, dass trotz einer Laufzeit von 147 Minuten Aspekte wie etwa das ganze Ausmass von Eazy-Es überbordendem Lebensstil oder Dr. Dres wiederholte Gewaltausbrüche gegenüber Frauen entweder marginalisiert oder gar unter den Teppich gekehrt werden.

Blendet man jedoch die Schönfärberei aus, der sich Regisseur Gray (The Negotiator, The Italian Job, Law Abiding Citizen) und die Autoren Andrea Berloff (World Trade Center) und Jonathan Herman zu einem gewissen Grad schuldig machen, und akzeptiert den Film als vereinfachte Nacherzählung, dann wird man mit einem mitreissenden, grossartig inszenierten Kinoerlebnis belohnt. Straight Outta Compton ist nicht nur ein herausragender Vertreter seines Genres, sondern ist, gerade vor dem Hintergrund der wieder aufflammenden Rassenkonflikte in den USA, ein legitimer Erbe von Spike Lees Do the Right Thing (1989) und John Singletons Boyz n the Hood (1991) und hat somit zweifellos das Zeug dazu, zu einem Meilenstein des modernen afroamerikanischen Kinos zu werden.


"Fuck tha Police": Die Rapper von N.W.A. sorgen um 1990 amerikaweit für Furore.
© Universal Pictures Switzerland
Grays umfassendes, linear erzähltes, aber dennoch ungezwungen-assoziativ wirkendes Porträt der Ära N.W.A. – vom Zusammenschluss des Hauptfiguren-Trios mit MC Ren (Aldis Hodge) und DJ Yella (Neil Brown Jr.) bis zum Tod von Eazy-E und dem Anfang der erfolgreichen Solo-Karrieren von Ice Cube und Dr. Dre – ist sowohl eine menschlich anregende Moralfabel um Freundschaft, Stolz und Hybris als auch eine scharfe Bestandsaufnahme der Doppelmoral, die in Amerika in Sachen Minderheiten bis heute herrscht. Selbst auf dem Höhepunkt ihres kommerziellen Erfolgs war die Gruppe aus Compton, einem Problem-Vorort von Los Angeles, noch jener Polizeiwillkür ausgesetzt, gegen die sie sich in "Reality Rap"-Songs wie "Gangsta Gangsta" oder "Fuck tha Police" zur Wehr setzten. Ihr Erfolg – geprägt von der ambivalenten Zusammenarbeit mit Manager Jerry Heller (Paul Giamatti) –, ihre Verwirklichung des sprichwörtlichen amerikanischen Traumes, die Armut hinter sich zu lassen, wurde vom Establishment mit Misstrauen, Zensur und Protestmärschen "besorgter Bürger"quittiert. So findet Straight Outta Compton die goldene Mitte zwischen musikalischem Blockbuster und – mit seiner perzeptiven Behandlung von institutionellem und sozialem Rassismus sowie der weissen Furcht vor schwarzer Kunst und Kultur – gesellschaftspolitisch hochgradig relevantem Kino.

★★★★