Donnerstag, 17. September 2015

Youth

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

2014 gewann Paolo Sorrentinos atemberaubender La grande bellezza den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Dieselben Höhen erreicht das Folgewerk Youth zwar nicht ganz; aber es ist dennoch ein bewegendes Drama auf den Spuren von Luchino Visconti, Federico Fellini und Thomas Mann.

Hoch über Davos, im einstigen Sanatorium und heutigen Nobelhotel Schatzalp, tummeln sich in Youth allerlei sonderbare Gestalten. Hier setzt ein fettleibiger Ex-Fussballspieler (Roly Serrano) – im Abspann unverschämt als "Diego Maradona" aufgeführt – mit monumentalem Karl-Marx-Rückentattoo mühsam einen Fuss vor den anderen; dort bereitet sich ein lakonischer US-Schauspieler (Paul Dano) auf seine nächste Rolle vor. Abends bei Tisch werden Wetten abgeschlossen, ob das angejahrte Hautevolee-Ehepaar nun endlich ein Wort miteinander wechselt oder nicht; abends im Hotelgarten trägt Folksänger Mark Kozelek schwärmerisch-klagende Balladen vor; am Kur-Schwimmbecken räkeln sich reiche Senioren und auch die frisch gekürte Miss Universum (Madalina Diana Ghenea). Und mittendrin in diesem bunten Treiben, wie Hans Castorp und Joachim Ziemßen in Thomas Manns Zauberberg – inspiriert vom und angesiedelt im Sanatorium Schatzalp –, sitzen der pensionierte britische Star-Komponist Fred Ballinger (Michael Caine mit einer ebenso grandiosen wie subtilen Darbietung) und der US-Filmemacher Mick Boyle (Harvey Keitel): seit 60 Jahren befreundet, Leidensgenossen in Sachen Altersbeschwerden, vergnügte Betrachter der sie umgebenden Dekadenz.

In La grande bellezza hat sich Paolo Sorrentino vom Stilkatalog Federico Fellinis leiten lassen; die oft mit überbordendem Pomp inszenierte Geschichte des oberflächlichen Römer Lebemanns Jep Gambardella (Toni Servillo) war eine bizarre, brillante Abhandlung über das Nichts. Dieser ästhetischen und inhaltlichen Philosophie folgt über weite Strecken auch Youth – gerade wenn Sorrentino den Blick auf das expressiv ins Bild gesetzte Unterhaltungsprogramm auf der Schatzalp wirft –, doch wird diese hier vermengt mit der fatalistischen Endzeit-Melancholie, wie sie Luchino Visconti etwa in Il gattopardo oder der Mann-Verfilmung Morte a Venezia kultivierte. Im zeitlosen Vakuum des "Zauberbergs" blicken Fred und Mick – auf der Suche nach der verlorenen Zeit – auf ein unvollkommenes Leben voller falscher Entscheidungen und verpasster Chancen zurück – sofern sie sich überhaupt daran erinnern können.

Die alten Freunde Fred (Michael Caine, links) und Mick (Harvey Keitel) verbringen einen gemeinsamen Sommer in einem noblen Davoser Hotel.
© Praesens Film
Zwar vermögen diese Elemente nicht immer völlig miteinander zu harmonieren: Besonders die bei Fellini entlehnten absurden Überzeichnungen gewisser Figuren beissen sich zuweilen mit der Seriosität, mit der Sorrentino die Situation der beiden Hauptfiguren letztendlich zu behandeln versucht. Doch der Film spielt mit diesen Stilbrüchen; seine diversen Handlungsstränge scheinen auf die Moral hinauszulaufen, dass Disharmonie ein unumgänglicher Teil des Lebens ist, dass die Akzeptanz dieser Imperfektion das Geheimnis eines glücklichen Lebens darstellt. Erzählt wird dies in einem gemächlichen Tempo; das Publikum wird eingeladen, sich in der fröhlichen Schein-Gleichförmigkeit des Hotelalltags zu verlieren. Dank erneut hevorragender Leistungen von Sorrentino und Kameramann Luca Bigazzi wandelt sich der Zuschauer in Youth vom ausgegrenzten Betrachter zum involvierten Kurgast, der beinahe enttäuscht ist, als nach zwei Stunden und einer fantastischen Schlusssequenz der Abspann über die Leinwand rollt.

★★★★

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