Montag, 30. November 2015

Sicario

Nachdem sein Incendies 2011 für den Fremdsprachen-Oscar nominiert wurde, empfahl sich der Frankokanadier Denis Villeneuve 2013 mit dem Kriminalthriller Prisoners einem noch breiteren Publikum. Zwei Jahre später legt er nun Sicario vor, eine nicht minder eindringliche Auseinandersetzung mit dem Drogenkrieg, der schon seit langem im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet wütet.

Die eklatante Schwäche, die den exzellent aufgezogenen Prisoners letztlich an wahrer filmischer Grösse hinderte, macht sich auch in Villeneuves neuestem Projekt bemerkbar. Während Ersterer im dritten Akt den Fehler beging, sämtliche narrativen und moralischen Grautöne mittels eines frustrierend blitzsauberen Dénouements aus der Welt zu schaffen, lässt Sicario auf den letzten Metern eine Tendenz in Richtung erzählerischer Bequemlichkeit in Form einer etwas plumpen Verschwörungstheorie erkennen. Doch weil sich Drehbuchautor Taylor Sheridan mit seiner derartig formulierten Kritik am internationalen "War on Drugs" immer noch im Rahmen des überspannenden atmosphärischen Konzepts von Sicario bewegt, wiegt diese Entwicklung im Endeffekt deutlich weniger schwer als die unstimmige Kapitulation von Prisoners vor der Konvention.

Villeneuve und Sheridan erzählen von der FBI-Agentin Kate Macer (Emily Blunt), die nach dem Erstürmen eines Drogenkartell-Hauses in Arizona von der CIA angeheuert wird, um einer Spezialeinheit beizustehen, die in der texanischen Grenzstadt El Paso stationiert ist. Bald jedoch wird klar, dass Einsatzleiter Matt Graver (Josh Brolin) und Kartell-Experte Alejandro Gillick (Benicio del Toro) nicht auf US-amerikanischem Boden operieren: Ziel ihrer ersten Mission ist es, ein hochrangiges Bandenmitglied sicher vom mexikanischen Ciudad Juárez über die Grenze nach El Paso zu bringen, um ihn dort zu verhören und Informationen über einen mysteriösen Kartellboss zu erhalten.

Abgesehen von den letzten 20 Minuten, ist Sicario aber weit weniger handlungsorientiert als es die Synopsis vermuten liesse. Mehr noch als in Prisoners stehen hier die Atmosphäre und der einzelne Moment im Mittelpunkt. Die erste Hälfte allein wird von zwei grossartig in Szene gesetzten Geheimdienst-Einsätzen dominiert – Kates Einheit in Arizona sowie die CIA-Aktion in Juárez –, die konstant, und im besten Sinne, an die stilistisch ähnlichen Szenen in Kathryn Bigelows Terrorismus-Dramen The Hurt Locker und Zero Dark Thirty erinnern. Sheridans Plot trägt zwar genug, um diese zu Recht ausgedehnt dargestellten Passagen zielgerichtet wirken zu lassen, bleibt aber überwiegend suggestiv, sodass sich Villeneuves packende Inszenierung frei entfalten kann – eine Freiheit, die ihm Aaron Guzikowskis Skript in Prisoners nie gänzlich zugestand.

FBI-Agentin Kate Macer (Emily Blunt) wird von der CIA für den Kampf gegen Mexikos Drogenkartelle eingezogen.
© Impuls Pictures AG
Somit ist Sicario wohl am ehesten vergleichbar mit David Ayers Polizeidrama End of Watch, einem der wenigen US-Filme nach Steven Soderberghs Traffic (2000), einem vierfachen Oscargewinner (darunter Benicio del Toro als bester Nebendarsteller), in denen der mexikanische Drogenhandel thematisiert wird. Das filmische Erlebnis an sich, die Nähe an den Figuren, die Unmittelbarkeit der Konflikte, die intensive Bildhaftigkeit haben einen höheren Stellenwert als das Einhalten und Abarbeiten einer konventionellen Dramaturgie. Nicht nur fängt Kameramann Roger Deakins die Wüstenschauplätze mit einem bewundernswert scharfen Auge für Farben und Schatten ein – Erinnerungen an seine Arbeit in No Country for Old Men werden wach –; Jóhann Jóhannssons Musik entspricht mit ihren dumpfen, bedrohlichen Tönen perfekt der von den Kartellen kultivierten Totensymbolik.

Schliesslich bleibt das einzig wirklich enttäuschende Element in Villeneuves Film sein Umgang mit der Hauptfigur. Denn obwohl dem Entschluss, mit Emily Blunt eine stereotype Männerrolle mit einer Frau zu besetzen, viel Lob gebührt, wird Kate Macer Opfer einer unangenehm bevormundenden Geschichte. Mehrmals muss sie von ihren männlichen Kollegen gerettet werden; viele Szenen kommen erst dadurch zustande, dass sie einen Anfängerfehler begeht. In einem ansonsten überzeugenden Film ist dies der einzige Wermutstropfen – wenn auch einer, der sich dank Blunts starker Darbietung verschmerzen lässt.

★★★★

Freitag, 27. November 2015

The Hunger Games: Mockingjay – Part 2

Dass The Hunger Games zu den besten Filmreihen der letzten Jahre gehört, stand eigentlich schon vor dem vierten und letzten Teil der Franchise fest. Die Verfilmung von Suzanne Collins' an junge Erwachsene ("young adult fiction") gerichteter Roman-Trilogie um eine dekadente Einprozent-Diktatur in einem zukünftigen Amerika hat die meisten Genre-Klischees souverän umschifft, sich erfolgreich gegen eine entstellende Verharmlosung von Collins' Stoff zur Wehr gesetzt und ist, ganz nebenbei, in jedem Eintrag auf Themen eingegangen, die in den zeitgenössischen USA gerade heiss diskutiert wurden.

Gary Ross' The Hunger Games (2012) hat der Serie ihren seriös-kompromisslosen Ton gegeben; die Geschichte um Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence), die als Vertreterin ihres unterdrückten Distrikts in den vom herrschenden Capitol ausgerichteten "Hunger Games" andere Teenager auf den Tod bekämpfen muss, hatte einiges über besinnungslose Unterhaltungskultur und mediales Abstumpfen – beides prominente Motive der ganzen Reihe – sowie über die Manipulation der Natur durch den Menschen zu sagen. Catching Fire (2013), in dem Francis Lawrence die Zügel der Franchise permanent übernahm, stellte mit seinem Fokus auf Oberschicht-Privilegien und oligarchische Macht den epischen Höhepunkt der viergeteilten Trilogie dar.

Teil drei von Collins' Triptychon wiederum war von Anfang an der designierte Stolperstein. Nicht nur ist Mockingjay das denkbar unfilmischste Drittel – Katniss, die inzwischen zur Symbolfigur des organisierten Aufstandes gegen das Capitol geworden ist, verbringt gut die Hälfte des Buches eingepfercht im unterirdischen Hauptquartier der Rebellen –; sein Tonfall ist nicht geprägt von rebellischem Überschwang, sondern von Verbitterung, Desillusionierung und dem blanken Horror des offenen Krieges.

Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence) hat genug von ihrer Rolle als Rebellen-Propagandafigur und zieht in den offenen Krieg gegen das diktatorische Capitol.
© Impuls Pictures AG
Mockingjay – Part 1 (2014) hat dieses Problem grossartig gelöst: Regisseur Lawrence hat Katniss' klaustrophobische Situation als eindringliches PTSD-Kammerspiel realisiert, in dem durchaus anspruchsvolle, politisch alles andere als irrelevante Themen wie Kriegspropaganda und Kadavergehorsam gewissenhaft verhandelt werden. Auf der richtigen Seite des Konflikts zu stehen, so der Film, sei nicht gleich bedeutend mit moralischer Überlegenheit – eine Botschaft, die nicht zuletzt dank der herausragenden Leistungen von Julianne Moore (als Rebellen-Präsidentin Alma Coin), Donald Sutherland (als Capitol-Regent Coriolanus Snow) sowie vom während der Dreharbeiten zum zweiten Teil verstorbenen Philip Seymour Hoffman (als übergelaufener "Hunger Games"-Organisator Plutarch Heavensbee), wuchtig vermittelt wurde.

War Part 1 aber trotzdem noch von mitreissend revolutionärem Eifer getränkt – besonders Katniss' Mörder-Ballade "The Hanging Tree" ist diesbezüglich in Erinnerung geblieben –, nähert sich Part 2 der ernüchternden, für YA-Literatur untypisch klarsichtigen Kernaussage des Buches: Krieg ist die Hölle; wer direkt daran beteiligt ist, kann nur als Verlierer enden. Zwar haben zu Beginn des Films Katniss und ihre einstigen "Hunger Games"-Mitstreiter Peeta (Josh Hutcherson) – der nach einer Capitol-Gehirnwäsche ihr gegenüber inzwischen mörderischen Hass hegt – und Finnick (Sam Claflin) bereits Traumatisches durchgestanden. Doch als die drei, ohne das Plazet von Coin, Heavensbee oder Mentor Haymitch Abernathy (Woody Harrelson), mit Katniss' engem Freund Gale (Liam Hemsworth) und einem Militär- und Propaganda-Trupp ins Kriegsgebiet des Capitols einrücken, wird klar, dass das Schlimmste noch nicht überstanden ist. Oder, wie Finnick es so treffend sagt: "Welcome to the 76th Hunger Games."

Katniss ist nicht die einzige "Hunger Games"-Veteranin, die das Capitol zu Fall bringen will: Mit dabei ist auch Finnick Odair (Sam Claflin)...
© Impuls Pictures AG
Abgesehen von einem bemühten, allzu schmalzigen Epilog, der schon im Buch nicht so richtig funktionieren wollte und wie eine aufgepropfte Lektorenentscheidung wirkte, überwiegen im Mockingjay-Finale, ganz im Sinne des Quellenmaterials, Düsternis am Rande der Hoffnungslosigkeit. Katniss und ihre Entourage erringen wenig mehr als Pyrrhussiege; Figuren sterben brutale, sinnlose – teilweise fast nebensächliche – Tode; ein aufgelöster Handlungsstrang annulliert Katniss' einzigen Grund, wieso sie in The Hunger Games überhaupt erst in der Folterarena des Capitols gelandet ist.

Lawrence filmt dies in tristen Grautönen im Schatten brutalistischer Wohnblöcke und in undurchdringlichem Schwarz in den unheimlichen Tiefen der Kanalisation – ein brillant aufgezogenes Horror-Szenario, das Erinnerungen an The Descent weckt. Überhaupt verfügt Mockingjay – Part 2, gemeinsam mit dem ausladenden Set-Design von Catching Fire, wohl über die eindrücklichsten Schauwerte der ganzen Reihe: Ausstattung, Kostüme und Pyrotechnik sind ebenso vielseitig wie effektiv und tragen, unterstützt von Jo Willems' Kameraarbeit und James Newton Howards Musik, ihren Teil zur beklemmenden Atmosphäre bei, die Lawrence hier heraufbeschwört.

...und der frisch aus den Fängen des Capitols befreite Peeta Mellark (Josh Hutcherson).
© Impuls Pictures AG
Dennoch bildet der Film eine weniger stringente Einheit als seine Vorgänger. Einer der Hauptgründe dafür dürfte die undankbare Schlussteil-Aufgabe sein, alle losen Enden der Erzählung zusammenzuführen und abzuhaken. Entsprechend wirken diverse Szenen wie Konzessionen an die Anforderungen des Genres und die buchstabengläubigsten Fans. (Mehr Courage seitens des Studios hätte vielleicht sogar zu einer Streichung des Epilogs führen können, wäre doch die vorangegangene Szene ein ideales Serienende gewesen.) Gerade dort, wo Lawrence und die Drehbuchautoren Peter Craig und Danny Strong dazu gezwungen sind, die gezwungene romantische Dreiecksbeziehung zwischen Katniss, Peeta und Gale auszuloten, entstehen dramaturgische Brüche.

So glänzt Mockinkjay – Part 2 vor allem mit seinen zahlreichen hervorragnden Einzelszenen. Dazu gehören neben der Menschenjagd in den Abwasser-Rohren des Capitols, einer Öl-Flutwelle in einem Wohnblock-Innenhof und den leisen Szenen zwischen Katniss und Peeta insbesondere jene Momente, in denen sich Katniss und Präsident Snow gegenüberstehen. Dank eines Briefes, den Donald Sutherland vor den Dreharbeiten zu The Hunger Games für Gary Ross geschrieben hat, in dem er argumentierte, dass Snow seiner Meinung nach in Katniss seine einzige würdige Nachfolgerin sieht, ist Letzterer im Laufe der vier Filme ohnehin zum faszinierendesten Charakter neben Katniss geworden. Diese doppelbödige Interpretation der Bücher verleiht diesen Szenen eine ganz eigene Dynamik, die von zwei schwergewichtigen Schauspielgrössen – Oscargewinnerin Jennifer Lawrence und Sutherland, der seiner distinguierten Karriere mit seinen Auftritten in der Hunger Games-Franchise eine grandiose späte Schlüsselrolle hinzugefügt hat – entsprechend gewürdigt wird. In ihrem letzten, wortlosen Blickwechsel – und Sutherlands markerschütterndem Lachen – allein liegt eine Tiefe und Ambivalenz, nach der man anderswo im YA-Kino vergeblich sucht.

Das Ziel von Katniss' Mission ist es, Capitol-Präsident Coriolanus Snow (Donald Sutherland) zur Strecke zu bringen.
© Impuls Pictures AG
Die Hunger Games-Filme haben sich allesamt durch ihre Weigerung ausgezeichnet, Action, Emotionen und den Kampf um Leben und Tod zum reinen Selbstzweck, zum unkritisch eingesetzten Unterhaltungselement verkommen zu lassen. Somit ist Mockingjay – Part 2 – obwohl er einige sprechende Buchmomente überspringt, wie etwa Katniss' instinktives Erschiessen einer unbewaffneten Zivilistin –, nichts anderes als eine konsequente Vollendung dieser Philosophie. Man verlässt den Kinosaal nicht mit einem Gefühl des Triumphs oder dem unbedingten Verlangen, den Film sofort noch einmal zu sehen. Dies ist einerseits seinen vereinzelten Unstetigkeiten geschuldet, keine Frage. Andererseits jedoch ist das auch ein Zeichen, dass die Franchise, der es im Kern primär um die mediale Darstellung von Gewalt und die menschliche Freude daran geht, letztlich ihr Ziel erreicht hat.

★★★★

Dienstag, 24. November 2015

The Look of Silence

© Praesens Film

★★★★★

"But even though the overall tone is as measured, contemplative, and level-headed as the protagonist himself – who, along with most of the crew remains anonymous for fear of repercussions –, what Oppenheimer delivers here is an ultimately horrifying portrait of humanity’s capacity for unimaginable cruelty."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Sonntag, 22. November 2015

Heimatland

Die Schweiz ist ein Sonderfall. Jedes Kind lernt das in der Schule. Kriege sind uns fremd, denn wir sind neutral. Unsere Regierung handelt nach Kompromissentscheiden. Kein anderes Land funktioniert so gut wie unseres. Wir haben die beste, integerste Polizei der Welt. Unsere Konzerne sind weltweit konkurrenzfähig, aber trotzdem durch und durch national. Will uns ein Feind aus dem Ausland an den Kragen, wird er sich an unserer Alpenfestung die Zähne ausbeissen. Ja, selbst unser Wetter ist anders: Nirgendwo anders dauern Hoch- und Tiefdruckfronten so lange wie hier.

Auch kulturell ist die Schweiz nicht wie das Ausland. Will hier ein junger Regisseur staatliche Förderung für seinen Film beantragen, muss er sein Projekt einem Komitee vorlegen, dessen höchst unterschiedliche Mitglieder es vom künstlerischen und sozialen Wert des Films zu überzeugen gilt. Damit diese Botschaft auch ankommt, sollte ein Film niemanden vor den Kopf stossen, niemanden verwirren. So hat sich nachgerade pathologische Harmonie- und Erklärungssucht fast schon als unabdingbares Stilmittel in der nationalen Filmproduktion festgesetzt. "Sie nimmt chli Brot ond seit, 'I nimm chli Brot'. Da isch en Schwizer Film", besang Manuel Stahlberger das Phänomen im vergangenen Jahr. Aber lautere Kritik ist verpönt, denn die Schweiz ist speziell, die Schweiz ist mit ihren Traditionen immer gut gefahren, die Neutralität ist unantastbar.

Diese oder ähnliche Gedanken müssen sich Lisa Blatter, Gregor Frei, Jan Gassmann, Benny Jaberg, Carmen Jaquier, Michael Krummenacher, Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp und Mike Scheiwiller gemacht haben, bevor sie sich dazu entschlossen haben, dieser selbstzufriedenen Pax helvetica mit dem Omnibus-Projekt Heimatland einen Schuss vor den Bug zu verpassen. "Heimatland!", scheint dieser Film ausrufen zu wollen. "Wann werden wir uns endlich unserer eigenen Mittelmässigkeit bewusst?"

Tag der Abrechnung: Eine riesige Sturmwolke bedroht die Schweiz.
© look now
Unter der von nationaler Symbolik getränkten Tagline "La suisse n'existe plus" entwerfen die zehn Jung-Regisseure eine Prämisse, die ebenso simpel wie suggestiv ist: Die Schweiz geht unter. Nicht die Welt, sondern nur die Schweiz, jenes stolze autonome Loch in jeder EU-Karte – und mit ihr der ganze Mythos, den sie über die Jahrzehnte so sorgfältig kultiviert hat.

Über der Innerschweiz bildet sich eines Tages eine mysteriöse Wolke. Stunde um Stunde breitet sie sich aus, verdunkelt nach und nach den Himmel über allen 26 Kantonen, bevor sie just an der Grenze Halt macht. Europa atmet auf, derweil in der Schweiz in Erwartung eines verheerenden Sturms der Notstand ausgerufen wird. Das hat die Eidgenossenschaft nun von ihren besonderen Wetterlagen. Die Telefone der Turicum-Versicherung klingeln Sturm, ihr Verwaltungsrat befürchtet ruinöse Schadenszahlungen; Fussballspiele werden abgebrochen; die Polizei rückt aus, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Wer vorhat, sich im Luftschutzkeller zu verkriechen, legt sich im Supermarkt mit anderen Hamsterkäufern an; wer das Land verlassen will, stösst auf rigorose Grenzkontrollen oder bleibt am Gotthard im Stau stecken.

Im Kanton Schwyz bewaffnen sich die Bürger, um auslädnische Aggressoren abzuwehren.
© look now
Nicht alle Geschichten, die Blatter, Frei, Jaberg, Jaquier, Meier, Nölle, Rupp und Scheiwiller – Gassmann und Krummenacher sind als "künstlerische Mitarbeiter" gelistet – in ihrem apokalyptischen Helvetia-Panoptikum erzählen, sind grosses Kino. Das konservative Herz der Schweiz, dessen Bewohner sich mit Gewehren bewaffnen, um nach dem Sturm die rauchenden Überreste des "schönsten Landes auf Gottes Erde" vor ausländischen Aasgeiern zu beschützen, rutscht wiederholt ins Plakative ab; der schwarze Humor ist grob und nicht besonders originell.

Doch selbst wenn Heimatland nicht ins Schwarze trifft, vereint er doch eine erfrischend unschweizerische Film-Sensibilität mit einer unbestreitbaren Schweizer Identität. Das facettenreiche satirische Drama verweigert sich jeglichem Konsens; das Ziel sind die Provokation und der Bruch mit der harmonischen Bequemlichkeit. Hier wird nicht der Erfolg an den Kinokassen und die Programmierung im Sonntagebend-Programm des SRF angstrebt – obschon dem Film beides zu gönnen wäre –, sondern unverhohlen eine Meinung vertreten: Die Schweiz schafft sich ab – und das nicht wegen Einwanderern und Multikulturalismus, sondern auf Grund ihrer Engstirnigkeit, Isolation und ihres verschleierten Chauvinismus.

Wer kann, der flieht – doch wie wird die EU mit Schweizer Flüchtlingen umgehen?
© look now
Somit sind es letztlich weniger die Schicksale der einzelnen Figuren, die hier unter die Haut gehen, als vielmehr die Summe ihrer Erlebnisse und die damit verbundenen Demontagen nationaler Selbstverständlichkeiten. Die ikonischen Institutionen Migros und Coop, oft als unverrückbare Stützen der schweizerischen Gesellschaft verklärt, werden hier vertreten durch einen Filialleiter (Roberto Garieri), der sich mit kaltblütiger Gewalt gegen den Ansturm panischer Kunden zur Wehr setzt. Als die Wolke das Zürcher Seebecken erreicht, wird in den Turicum-Büros statt über Menschenleben über monetäre Schäden debattiert und damit zugleich der gefeierte Schweizer Pragmatismus ad absurdum geführt. Eine Polizistin (Julia Glaus) ist traumatisiert von einem Einsatz, der gar nicht dem Bild der makellosen eidgenössischen Justiz entspricht. Und selbst die so unumstösslich scheinende Tradition, dass man in der Schweiz von jedem Brunnen trinken kann, erleidet in Heimatland Schiffbruch – denn irgendwann versagt auch die Wasserversorgung.

All dies ist nicht gegen das Land an sich gerichtet; keiner der Regisseure propagiert offen einen EU-Beitritt oder einen bewaffneten linken Aufstand. Was hier einer überfälligen kritischen Auseinandersetzung unterzogen wird, ist der Schweizer Staatsdünkel, das eitle Eigenlob für die eigene Besonderheit, die sich allzu oft als bescheidene Unparteilichkeit ausgibt. Sich in einer globalisierten Welt der Einzigartigkeit zu rühmen, ist bestenfalls absurd, schlimmstenfalls ein Zeichen von blindem Patriotismus, der weder gefeiert noch gefördert gehört. Heimatland konfrontiert die Schweiz mit ihrer eigenen Gewöhnlichkeit und ist damit zwar nicht der beste Spielfilm, der in diesem Land in den letzten paar Jahren zu sehen war, aber vielleicht der nötigste.

★★★★

Donnerstag, 19. November 2015

Irrational Man

Man muss es Woody Allen lassen: Keiner macht Filme wie er. Welcher andere aktive amerikanische Regisseur würde eines seiner Werke schon mit einem Voiceover über die moralischen Prinzipien Immanuel Kants beginnen lassen? Wer würde einen praktizierenden Philosophie-Dozenten ins Zentrum seiner Geschichte rücken und ihn in regelmässigen Abständen seine Überlegungen zum kategorischen Imperativ und Kierkegaards Vorstellung eines erfüllten Lebens darlegen lassen?

Es mag stimmen, dass sich Allen im Laufe seiner 50-jährigen Karriere auf einige wenige bestimmte Erzählmuster "eingedreht" hat, die er beliebig zu variieren gelernt hat. Repetitiv hat ihn das aber nicht gemacht. Denn es sind nicht seine Plots, die Allen den Ruf eines der begabtesten Autoren Hollywoods eingebracht hat – es sind seine lebendigen, eigenen, zumeist neurotischen Figuren, die sein einfach wieder zu erkennendes Universum bevölkern und seinen Filmen Individualität verleiht.

Auch Irrational Man ist sowohl ein typisches Allen-Spätwerk als auch eine Mystery-Tragikomödie irgendwo zwischen Hitchcocks Strangers on a Train und Wilders Sunset Boulevard, die, dank ihrer Charaktere und ihres überraschend unverbrauchten Settings, durchaus frisch und neu wirkt. Ein College-Städtchen in New England erwartet die Ankunft eines neuen Philosophie-Professors: Abe Lucas (ein sehr guter Joaquin Phoenix mit demselben beachtlichen Bauchumfang wie in Inherent Vice) ist international bekannt; seine Bücher sind in akademischen Kreisen hoch geachtet, seine Affären mit Studentinnen und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen legendär.

Doch wie so oft bei Allen ist auch dieser Protagonist mit seinem Leben nicht zufrieden: Abe ist Alkoholiker, depressiv, sein neues Buch – "about the millionth book about Heidegger and fascism" – kommt nicht in die Gänge; im Unterricht spricht er gerne über Existenzialismus und die absurde Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins. Inspiration ist aber nicht weit: Erst lernt er die klatschfreudige Professorin Rita (Parker Posey) kennen, die auf eine Affäre mit ihm aus ist; wenig später verliebt sich die aufgeweckte Studentin Jill (Emma Stone) in ihn, deren Avancen er sich zunächst aber noch widersetzt. Seine Lust am Leben erhält Abe erst zurück, als er mit Jill heimlich eine verzweifelte Frau belauscht, die sich den Tod eines uneinsichtigen Richters wünscht, worauf er sich dazu entschliesst, den Mann umzubringen und damit das perfekte Verbrechen zu begehen.

Eine Affäre mit der Studentin Jill (Emma Stone) sowie ein geplanter Mord verhilft dem depressiven Philosophie-Professor Abe Licas (Joaquin Phoenix) zu neuer Lebensfreude.
© Frenetic Films
Irrational Man – der Titel ist wohl eine Anspielung auf das gleichnamige Buch aus dem Jahr 1958, in dem William Barrett der englischsprachigen Welt den französischen Existenzialismus erklärte – ist eine Moralfabel der Art von Match Point und Cassandra's Dream; behandelt werden scheinbar rationale Beweggründe für Mord und die Nichtexistenz universeller Ethik. Allens Aufarbeitung dieser Themen ist raffiniert aufgezogen und in federleichtem Plauderton vorgetragen – und selbstverständlich unterlegt mit Jazz-Musik. So wirkt das Ganze mitunter ein wenig wie eine Persiflage seines akademischen Milieus; Abes ständige Verweise auf Kant, Kierkegaard, Sartre, de Beauvoir, Heidegger und Arendt erhalten eine ironische Dimension: Mit der richtigen Sekundärliteratur lässt sich alles rationalisieren.

Der Film ist auf seine Weise eine perfekte kleine Stilübung: Alle Zahnrädchen der Erzählung greifen makellos ineinander; die philosophischen Exkurse halten die Balance zwischen ernsthafter Auseinandersetzung und Parodie. Doch Irrational Man fehlt der seelenvolle Charme eines Midnight in Paris, um das Potenzial seiner Kunstfertigkeit gänzlich zu erfüllen. Abes romantische Eroberungen machen allzu oft den Eindruck einer männlichen Fantasie – Jill und Rita haben, gerade im Vergleich mit Abe, nicht genügend Tiefe, um einen vom Gegenteil zu überzeugen –, und der Produktion, wie bereits dem letztjährigen Magic in the Moonlight, haftet immer noch so etwas wie eine Urlaubsstimmung an, als wäre New England für Allen nicht nur Drehort, sondern auch Feriendestination gewesen. Dennoch verfügt Irrational Man über genug Reize, um ihn nicht als Misserfolg werten zu müssen. Dafür sorgen nicht zuletzt eine anregenden Darbietung von Joaquin Phoenix sowie Allens spielerischer Umgang mit Philosophie, Universität und Krimiplot. Das zeichnet den begnadeten Regisseur aus: Auch seine "schwächere" Filme wissen zu gefallen.

★★★

Dienstag, 17. November 2015

Steve Jobs

Dass Apple-Gründer und Personal-Computer-Pionier Steve Jobs zu den einflussreichsten und wahrhaft ikonischen Persönlichkeiten der letzten 50 Jahre gehört, lässt sich allein am Interesse ablesen, welches seit seinem Tod im Oktober 2011 die amerikanische Filmproduktion an ihm zeigt. Sechsmal wurde der Exzentriker, der Showman, der Narzisst, der Visionär in den letzten vier Jahren ins Zentrum eines Films gerückt – viermal dokumentarisch (Steve Jobs: One Last Thing, Steve Jobs: Billion Dollar Hippy, Steve Jobs: The Lost Interview, Steve Jobs: The Man in the Machine), zweimal in Spielfilm-Form.

Joshua Michael Sterns Jobs (2013) war der erste Versuch, das bewegte Leben des ambitionierten "Pirate of Silicon Valley" einem Mainstream-Publikum näher zu bringen. Mit Ashton Kutcher in der Titelrolle pflügte das Biopic durch Jobs' Vita; 129 Minuten lang stellten sich farblose Investoren vor; in den ewig gleichen Sitzungszimmern wurde ohne ersichtliche Änderung des Tonfalls von Gewinnen und Verlusten gesprochen, bevor Stern den von Weggefährten gerne als tyrannisch beschriebenen Bilderbuch-Kapitalisten schliesslich kritiklos auf das Podest des Genies hievte.

Somit stellte sich den Produzenten von Steve Jobs, dem neuesten Eintrag in den Jobs-Kanon, nicht nur die Aufgabe, den blamablen Jobs gänzlich vergessen zu machen, sondern auch die Schwierigkeit, dies auf eine Weise zu tun, die sich entschieden vom enzyklopädischen dokumentarischen Format abgrenzt. Zu diesem Zweck Aaron Sorkin als Drehbuchautor zu verpflichten, war eine nahe liegende Entscheidung, gilt doch der von ihm verfasste The Social Network, David Finchers brillantes Porträt des Facebook-CEOs Mark Zuckerberg, nach wie vor als unangefochtener Höhepunkt des amerikanischen IT-Kinos.

Danny Boyle, der nach unzähligen Casting-Änderungen sowie einem Studiowechsel Fincher auf dem Regiestuhl von Steve Jobs beerbte, hat diese Herausforderung mit Hilfe von Dialog-Experte Sorkin (A Few Good Men, The West Wing, Charlie Wilson's War, The Newsroom, Moneyball) hervorragend gemeistert. Sein Film, basierend auf Walter Isaacsons gleichnamiger Jobs-Biografie, wirft jede traditionelle Biopic-Struktur über Bord. Chronologische Entwicklungen und unfilmisch-langfädige Erklärungen von Intrigen und Zusammenhängen werden von Sorkin ebenso konsequent wie gnadenlos wegrationalisiert, sodass Steve Jobs letzten Endes nur noch aus drei verdichteten Momentaufnahmen besteht.

Bühne frei: Steve Jobs besteht aus drei Episoden, welche alle direkt vor der Lancierung eines von Steve Jobs (Michael Fassbender) entwickelten Computers spielen.
© Universal Pictures Switzerland
Sie alle spielen im Backstage-Bereich eines Auditoriums, direkt vor der Präsentation eines Jobs-Produkts: 1984 lanciert Jobs (Michael Fassbender) Apple-Personal-Computer Macintosh – ein Millionen-Flop, infolgedessen Jobs von seiner eigenen Firma entlassen wird. Vier Jahre später präsentiert er als Gründer von NeXT Inc. in einem Opernhaus einen überteuerten Schul-Computer. Trotzdem kehrt er Mitte der Neunzigerjahre zurück an die Spitze des kriselnden Apple-Konzerns, dem er 1998 mit dem iMac einen bahnbrechenden Erfolg verschafft und damit den Grundstein für die Apple-Manie des frühen 21. Jahrhunderts legt.

In diesen drei Episoden kartografieren Boyle und Sorkin das Phänomen Steve Jobs. Das mag aufgrund der extremen Komprimierung eines kreativen Lebens auf drei sehr eingeschränkte Schlaglichter mitunter etwas steif und künstlich wirken, tut der eindringlichen Faszination dieses packenden Films aber kaum Abbruch. Aufgehängt an technischen Problemen und zwischenmenschlichen Krisen – etwa zwischen Jobs und seiner einstigen Partnerin Chrisann Brennan (Katherine Waterston) und deren Tochter Lisa (Makenzie Moss, Ripley Sobo und Perla Haney-Jardine), zu deren Vaterschaft sich Jobs nicht bekennt – und durchsetzt von kurzen Rückblenden, nähert sich der Film der fundamentalen Problematik seiner Hauptfigur. Jobs ist sowohl der Inbegriff inspirierenden Unternehmergeistes als auch der kalkulierende reiche Kontrollfreak, der innige Freund und der gefühlskalte Einzelgänger.

1984, 1988 und 1998 führt Jobs im Backstage-Bereich der Präsentation hitzige Diskussionen, etwa mit Marketing-Chefin Joanna Hoffman (Kate Winslet) und Programmierer Andy Hertzfeld (Michael Stuhlbarg).
© Universal Pictures Switzerland
Vermittelt wird dies allein durch Sorkins rasante, messerscharfe Dialoge, die in Boyles klinisch-präziser und von Daniel Pembertons minimalistischem Ambient-Score grossartig ergänzter Inszenierung ihre ideale – gäbe es The Social Network nicht, könnte man sagen: perfekte – Entsprechung finden. Wenn Jobs seinem Freund Steve Wozniak (Seth Rogen) – dem "technischen Herzen" der frühen Apple-Jahre, erklärt, dass er als Nicht-Ingenieur der Dirigent sei, der das Orchester der Computertechniker leite, ist es schwer, nicht an Boyle zu denken, der Sorkins sorgfältig gesetzten Worten die filmische Poesie entlockt.

Zwar kann sich auch Steve Jobs, wie bereits Jobs, der finalen Salbung der Titelfigur nicht erwehren – Jobs' Anerkennung der eigenen Fehlbarkeit kommt einer tiefen Verneigung gleich, die dem Film als Ganzem nicht unbedingt gerecht wird; doch das genügt nicht, um der stimmigen Arbeit Boyles und Sorkins ihre Eindringlichkeit abzusprechen. Für den emotionalen Kern sorgen indes die ausgezeichneten Schauspielleistungen, von denen neben Fassbenders Darbietung besonders jene von Michael Stuhlbarg (als Programmierer Andy Hertzfeld), Seth Rogen, Jeff Daniels (als Apple-CEO John Sculley) und Kate Winslet (als Marketing-Chefin und Jobs-Vertraute Joanna Hoffman) in Erinnerung bleiben. So wird der Film über den zögerlich gefeierten Egomanen von Apple zu einem Musterbeispiel für mitreissendes, flüssiges und ungemein sagenhaft kurzweiliges Kollektiv-Kino aus der Hollywood-Fabrik.

★★★★

Sonntag, 15. November 2015

Spectre

Er ist zurück. Ian Flemings Superagent James Bond bestreitet in Sam Mendes' Spectre sein 24. Leinwandabenteuer, zum vierten Mal gespielt von Daniel Craig. Beim britischen Geheimdienst herrscht Untergangsstimmung, Weltherrschaftspläne von finsteren Mächten müssen durchkreuzt werden, ein Action-Szenario reiht sich an das andere, im Viertelstundentakt wird der Schauplatz gewechselt, der antiquierte Machismo der Hauptfigur wird so ambivalent wie möglich dargestellt, um knapp am Vorwurf des Sexismus vorbeizuschrammen. Kurz: Wir haben es mit einem Bond des 21. Jahrhunderts zu tun.

Viel gibt es inzwischen eigentlich nicht mehr zu sagen über den ersten blonden Bond der Franchisen-Geschichte. (Wer erinnert sich noch an die viel zu hitzigen Casting-Debatten?) Als vor gut neun Jahren Casino Royale in die Kinos kam, überzeugte GoldenEye-Regisseur Martin Campbell die skeptischen Fans mit einer düster-seriösen Entstehungsgeschichte von der Vision eines spröderen, in sich gekehrteren Bonds, dessen Martini-Konsum weniger einem eleganten Markenzeichen als latentem Alkoholismus glich. Mittels des Todes einer grossen Liebe stattete Campbell Agent 007 mit einem Trauma aus, auf welchem Marc Forster und Sam Mendes in Quantum of Solace (2008) respektive Skyfall (2012) in der Folge dankend aufbauten. Craig war kein selbstsicherer Sean Connery, kein selbstironischer Roger Moore, kein charmanter Pierce Brosnan; kugelsichere Westen stehen ihm besser als Designer-Anzüge.

Mutigere Filmemacher und Produzenten hätten die Entwicklung zu ihrem logischen Ende weitergedacht und sich zumindest implizit an einer totalen Dekonstruktion der Bond-Figur versucht. Der inhärente Sexismus – 007 landet, wenn er will, mit jeder seiner letztlich passiven weiblichen Bekanntschaften im Bett – wäre als solcher entlarvt und die Tatsache, dass Bond ein Relikt aus dem Kalten Krieg ist, ironisch kommentiert worden. Doch in der berühmtesten Filmreihe aller Zeiten wird mit der Tradition höchstens gespielt, jedoch nie gebrochen: Bond bleibt ein unbestrittener Held, die Frauen liegen ihm – früher oder später – zu Füssen.

Auch in seinem 24. Kinoabenteuer reist Geheimagent James Bond 007 (Daniel Craig) auf der Jagd nach einem Superschurken über die halbe Welt.
© Sony Pictures International
Das ist die grundlegende Problematik der Craig-Ära: Campbell, Forster und Mendes sind um Bodenständigkeit und Realismus bemüht, halten aber gleichzeitig eisern an den überholten Versatzstücken fest, für die ein Film ohne Bond-Label Hohn und Spott ernten würde. Die Zwangsheirat funktionierte in Casino Royale am besten – der Reiz des Neuen –, derweil sowohl der generische Quantum of Solace als auch der blutleere Skyfall den Graben nicht zu überbrücken vermochten.

Spectre, obwohl nicht auf dem Niveau von Craigs erstem Einsatz, markiert immerhin einen Schritt in die richtige Richtung. Denn nicht nur lässt es Mendes hier humorvoller, ja selbstironischer zugehen als noch in Skyfall; der Film ist seinen letzten beiden Vorgängern auch insofern überlegen, als er sich nicht primär um das Auflösen hängiger Handlungsstränge dreht. Im Gegenteil: Die überwiegend voneinander isolierten bisherigen Plots der aktuellen Bond-Inkarnation werden im Laufe der neuesten Mission miteinander verbunden, wodurch so etwas wie Ordnung ins Craig-Universum einkehrt.

Die Rolle des Bösewichts übernimmt dieses Mal der Chef der Terrororganisation SPECTRE (Christoph Waltz), vor dem auch Bonds Mitstreiterin Dr. Madeline Swann (Léa Seydoux) nicht sicher ist.
© Sony Pictures International
Das verbindende Element ist die Schurken-Organisation SPECTRE ("Special Executive for Counter-Intelligence, Terrorism, Revenge and Extortion"), auf die Bond dank eines Tipps der in Skyfall verstorbenen Geheimdienstchefin M (Judi Dench) aufmerksam wird: In Mexico City vereitelt 007 einen Terroranschlag, indem er einen halben Stadtteil in Schutt und Asche legt, und kommt in den Besitz eines mysteriösen Ringes, der ihn daraufhin um die halbe Welt hetzen lässt.

Leider erreicht Spectre aber zu keinem Zeitpunkt mehr die Höhen der Eingangssequenz in Mexikos Hauptstadt am Día de Muertos. In einer einzigen langen Einstellung, die unverkennbar dem Anfang von Orson Welles' Touch of Evil ihre Reverenz erweist, fährt Hoyte van Hoytemas Kamera durch die Strassen, gesäumt von Menschen in unheimlichen Skelett-Kostümen, findet Bond, folgt ihm durch ein Hotel und über die Dächer bis zu seinem Bestimmungsort – wo dann schliesslich die Schnitte beginnen. Keine andere Szene in Spectre wirkt einheitlicher, graziler oder stimmiger; mal abgesehen von van Hoytemas Kameraarbeit verschiesst der Film sein Pulver bereits in den ersten zehn Minuten.

Während Bond die Sicherheitsprobleme der Welt mit Waffen zu lösen versucht, kämpft sein Vorgesetzter M (Ralph Fiennes, links) in London gegen die Ausweitung der globalen Überwachung.
© Sony Pictures International
Was folgt, ist – wie so oft in dieser Franchise – leidlich unterhaltsam, aber insgesamt auch gut eine halbe Stunde zu lang. Während Bond auf der Jagd nach dem mysteriösen SPECTRE-Boss (Christoph Waltz) von Mexico City nach London, von London nach Rom, von Rom nach Österreich, von Österreich nach Tanger und von Tanger nach Tunesien jettet – und auf dem Weg die selbstbewusste Ärztin Madeleine Swann (Léa Seydoux) kennen lernt –, kämpft der neue M (Ralph Fiennes) in London gegen die vom Ober-Bürokraten C (Andrew Scott) geplante Abschaffung des 00-Agenten-Programms.

Ob die Figuren nun James Bond, M, Q (Ben Whishaw) und Moneypenny (Naomie Harris) heissen oder nicht – Spectre ist nicht viel mehr als ein bekömmlicher Actionthriller über das Mode-Thema der globalen Überwachung, angereichert mit unnötigen Verstrickungen und einer äusserst fragwürdigen Romanze. Zwar gesteht Mendes seinem Helden etwas lakonischen Humor zu, und Dr. Swann darf ihre intellektuelle Überlegenheit gegenüber Bond zur Schau stellen, bevor sich die beiden in die Arme fallen – Traditionen sind offensichtlich noch immer nur zum Spielen, nicht zum Brechen da –, doch viel Neues bietet letztendlich auch dieses Abenteuer nicht. Bond bleibt Bond – im Guten wie im Schlechten.

★★★

Mittwoch, 11. November 2015

Dheepan

Es war wohl kein Zufall, dass sich im Mai 2015, inmitten der anhaltenden internationalen Flüchtlingskrise, die Cannes-Festivaljury um Joel und Ethan Coen dazu entschloss, die Goldene Palme einem Beitrag zu verleihen, der sich um die Erlebnisse einer Familie von Kriegsmigranten dreht. Doch Jacques Audiards Dheepan bewegt sich weit abseits von moralisierendem Betroffenheitskino oder warnendem Konservatismus. Für ihn ist das Phänomen kein Politikum, für das eine Lösung gefunden werden muss, sondern eine Realität, mit der es sich zu arrangieren gilt.

Audiard (De battre mon cœur s'est arrêté, Un prophète, De rouille et d'os) macht es einem nicht einfach, seinen Film durch die verzerrte Optik vorgefasster Meinungen zu sehen, da er von Anfang an auf altbekannte Figurenstereotypen verzichtet. Als Protagonist dient ihm Sivadhasan (grossartig: Antonythasan Jesuthasan), ein Soldat der militant-separatistischen tamilischen Gruppierung Tamil Tigers, der am Ende des srilankischen Bürgerkriegs nach Europa emigriert, um der Verfolgung durch die Regierung zu entgehen. Er erhält den Namen eines Toten, Dheepan, und bekommt eine Frau (Kalieaswari Srinivasan) und ein neunjähriges Mädchen (Claudine Vinasithamby) zur Seite gestellt, die sich als Dheepans dem Krieg zum Opfer gefallene Ehefrau Yalini und Tochter Illayaal ausgeben sollen.

Das Identifikationsbild der sich den Schrecken des Krieges widersetzenden Familie ist damit grundsätzlich ausser Kraft gesetzt; im Zentrum stehen ein mutmasslicher Kriegsverbrecher und zwei ihm unbekannte Menschen, die ihre Angehörigen bei seinem Kampf verloren haben. Simpel ist am Krieg nichts, und auch mit der Flucht davor ist sein Schatten nicht aus der Welt geschafft. Für Dheepan, Yalini und Illayaal trifft das nicht nur in Form von Trauma und der fundamental problematischen neuen Familiensituation zu, sondern auch auf noch viel sichtbarere Art und Weise.

Unter dem falschen Namen Dheepan flieht der Tamil-Tigers-Soldat Sivadhasan (Antonythasan Jesuthasan) von Sri Lanka nach Frankreich. Um als Familienvater durchzugehen, wird ihm ein neunjähriges Mädchen (Claudine Vinasithamby) zur Seite gestellt.
© filmcoopi
Nachdem die Drei in Frankreich aufgenommen worden sind, werden sie in einen verfallenden Häuserblock am Ortsrand einer Pariser Banlieue verfrachtet. Dort erhält Dheepan Arbeit als Hausmeister; Yalini betreut einen älteren Herrn (Faouzi Bensaïdi); und Illayaal besucht in der nahen Grundschule eine Integrationsklasse. Doch auch der "friedliche" Westen erweist sich als alles andere als konfliktfrei: Sowohl Dheepan als auch Yalini finden schnell heraus, dass ihr neues Zuhause im Brennpunkt eines Problemviertel-Bandenkriegs steht.

Mehr noch als in Un prophète interessiert sich Audiard wenig für dramatische Verstrickungen und eine Handlung im klassischen Sinne. Getragen von Eponine Momenceaus prägnanter, stellenweise aber dennoch verträumt ausschweifender Kameraführung, bewegt sich Dheepan anmutig vorwärts; der Wechsel der Jahreszeiten und die graduelle Anpassung der Figuren an die französischen Gepflogenheiten werden nicht explizit gezeigt, sondern fein angedeutet.

Auch eine Frau (Kalieaswari Srinivasan), die sich als Dheepans Frau Yalini ausgeben muss, begleitet den traumatisierten Kämpfer nach Europa.
© filmcoopi
In eindringlichen, im Stile Asghar Farhadis und Ken Loachs geschriebenen und inszenierten Episoden gräbt der Film tief in die Wunden, die Krieg, Flucht und Neuanfang bei den Protagonisten hinterlassen haben. Sowohl innen als auch aussen tobt der Krieg, in den Köpfen und im Handeln, in den eigenen vier Wänden und draussen auf dem Hof. Nicht selten spielen sich zwischen Dheepan, Yalini und Illayaal uneingespielt wirkende, von ungelenken Pausen durchsetzte Dialoge ab; in der Wohnung herrscht Schweigen; derweil vor den Fenstern des Hausmeister-Appartements Besucher von Baseball-Schläger tragenden Türstehern kontrolliert werden und ab und zu sogar Schüsse abgefeuert werden. In einer der besten Szenen skandiert ein betrunkener Dheepan im Keller seines Wohnblocks mit verzerrtem Gesicht und Tränen in den Augen eine Schlachthymne der Tamil Tigers.

Die Eskalation des unverdrängbaren Traumas, die sich den ganzen Film über abzeichnet, tritt schlussendlich in überraschend schockierender Weise ein, mündet daraufhin aber in einen irritierend antiklimaktischen Epilog, der sich ebenso als idealistische Kapitulation Audiards wie auch als ironisierter Traum deuten lässt. Nicht zuletzt deswegen ist Dheepan ein (noch) weniger leicht verdauliches Werk als Un prophète und De rouille et d'os – und ist aus gerade aus diesem Grund wohl auch der beste Film, den Audiard in den letzten zehn Jahren gedreht hat.

★★★★

Sonntag, 8. November 2015

The Martian

© 2015 Twentieth Century Fox Film Corporation

★★★★

"Ultimately, however, The Martian succeeds by embracing what Cuarón and Nolan seemed so at pains to avoid: unlike their films, Scott’s movie does not see cinematic technology as something that is to be overcome by the plot but as a valuable supporter of the experience as a whole. Scott and DP Dariusz Wolski offer sweeping CGI vistas of Mars, perfectly exploiting the planet’s picturesquely barren plains, plateaus, mountains, and canyons, drawing on a rich archive of Mars rover footage to make the Red Planet come alive."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).