Auch kulturell ist die Schweiz nicht wie das Ausland. Will hier ein junger Regisseur staatliche Förderung für seinen Film beantragen, muss er sein Projekt einem Komitee vorlegen, dessen höchst unterschiedliche Mitglieder es vom künstlerischen und sozialen Wert des Films zu überzeugen gilt. Damit diese Botschaft auch ankommt, sollte ein Film niemanden vor den Kopf stossen, niemanden verwirren. So hat sich nachgerade pathologische Harmonie- und Erklärungssucht fast schon als unabdingbares Stilmittel in der nationalen Filmproduktion festgesetzt. "Sie nimmt chli Brot ond seit, 'I nimm chli Brot'. Da isch en Schwizer Film", besang Manuel Stahlberger das Phänomen im vergangenen Jahr. Aber lautere Kritik ist verpönt, denn die Schweiz ist speziell, die Schweiz ist mit ihren Traditionen immer gut gefahren, die Neutralität ist unantastbar.
Diese oder ähnliche Gedanken müssen sich Lisa Blatter, Gregor Frei, Jan Gassmann, Benny Jaberg, Carmen Jaquier, Michael Krummenacher, Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp und Mike Scheiwiller gemacht haben, bevor sie sich dazu entschlossen haben, dieser selbstzufriedenen Pax helvetica mit dem Omnibus-Projekt Heimatland einen Schuss vor den Bug zu verpassen. "Heimatland!", scheint dieser Film ausrufen zu wollen. "Wann werden wir uns endlich unserer eigenen Mittelmässigkeit bewusst?"
Tag der Abrechnung: Eine riesige Sturmwolke bedroht die Schweiz. © look now |
Über der Innerschweiz bildet sich eines Tages eine mysteriöse Wolke. Stunde um Stunde breitet sie sich aus, verdunkelt nach und nach den Himmel über allen 26 Kantonen, bevor sie just an der Grenze Halt macht. Europa atmet auf, derweil in der Schweiz in Erwartung eines verheerenden Sturms der Notstand ausgerufen wird. Das hat die Eidgenossenschaft nun von ihren besonderen Wetterlagen. Die Telefone der Turicum-Versicherung klingeln Sturm, ihr Verwaltungsrat befürchtet ruinöse Schadenszahlungen; Fussballspiele werden abgebrochen; die Polizei rückt aus, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Wer vorhat, sich im Luftschutzkeller zu verkriechen, legt sich im Supermarkt mit anderen Hamsterkäufern an; wer das Land verlassen will, stösst auf rigorose Grenzkontrollen oder bleibt am Gotthard im Stau stecken.
Im Kanton Schwyz bewaffnen sich die Bürger, um auslädnische Aggressoren abzuwehren. © look now |
Doch selbst wenn Heimatland nicht ins Schwarze trifft, vereint er doch eine erfrischend unschweizerische Film-Sensibilität mit einer unbestreitbaren Schweizer Identität. Das facettenreiche satirische Drama verweigert sich jeglichem Konsens; das Ziel sind die Provokation und der Bruch mit der harmonischen Bequemlichkeit. Hier wird nicht der Erfolg an den Kinokassen und die Programmierung im Sonntagebend-Programm des SRF angstrebt – obschon dem Film beides zu gönnen wäre –, sondern unverhohlen eine Meinung vertreten: Die Schweiz schafft sich ab – und das nicht wegen Einwanderern und Multikulturalismus, sondern auf Grund ihrer Engstirnigkeit, Isolation und ihres verschleierten Chauvinismus.
Wer kann, der flieht – doch wie wird die EU mit Schweizer Flüchtlingen umgehen? © look now |
All dies ist nicht gegen das Land an sich gerichtet; keiner der Regisseure propagiert offen einen EU-Beitritt oder einen bewaffneten linken Aufstand. Was hier einer überfälligen kritischen Auseinandersetzung unterzogen wird, ist der Schweizer Staatsdünkel, das eitle Eigenlob für die eigene Besonderheit, die sich allzu oft als bescheidene Unparteilichkeit ausgibt. Sich in einer globalisierten Welt der Einzigartigkeit zu rühmen, ist bestenfalls absurd, schlimmstenfalls ein Zeichen von blindem Patriotismus, der weder gefeiert noch gefördert gehört. Heimatland konfrontiert die Schweiz mit ihrer eigenen Gewöhnlichkeit und ist damit zwar nicht der beste Spielfilm, der in diesem Land in den letzten paar Jahren zu sehen war, aber vielleicht der nötigste.
★★★★
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