Dienstag, 29. März 2016

Our Little Sister

Irgendwie kurios: Der japanische Autorenfilmer Hirokazu Koreeda, ein Experte für Existenzial- und Familiendramen wie Nobody Knows, Air Doll, I Wish oder Like Father, Like Son, präsentiert mit Our Little Sister eine Comicverfilmung.

Basierend auf Akimi Yoshidas Manga-Reihe Umimachi Diary, erzählt Koreeda von den Schwestern Sachi (Haruka Ayase), 29, Yoshino (Masami Nagasawa), 22, und Chika (Kaho), 19, die in der Stadt Kamakura zusammen ein Haus bewohnen. An der Beerdigung ihres Vaters Asano, den sie vor 15 Jahren zuletzt gesehen hatten, lernen sie ihre Halbschwester, die 14-jährige Suzu (Suzu Hirose) kennen, der sie anbieten, bei ihnen einzuziehen.

Genremässig bleibt sich Koreeda jedoch auch in Our Little Sister treu: Trotz eines überwiegend heiteren Tonfalls fusst die Handlung des Coming-of-Age-Dramas – auch Mittzwanziger können noch erwachsen werden – stark auf Konflikten sowie kleineren und grösseren Tragödien. Da wäre die Krankenschwester Sachi, die eine Beziehung mit einem verheirateten Arzt (Ryōhei Suzuki) eingeht; die Bankangestellte Yoshino, die ihrem Chef (Ryō Kase) bei deprimierenden Konkursgesprächen assistieren soll; die lebensfrohe Chika, die sich um ihren Freund (Takafumi Ikeda) sorgt, der seinem Leben als Bergsteiger nachtrauert; und das nagende Wissen, dass Suzu aus einer Affäre Asanos hervorgegangen ist.

Leichtfüssig arbeitet sich der Film durch die diversen Handlungsstränge und geht – ganz im Sinne einer Comicreihe – auch recht detailreich auf die Schicksale gewisser peripherer Charaktere ein. Die Erzähltradition Ozus, in die Koreeda gerne eingeordnet wird, trifft hier auf eine moderne Interpretation der jüngeren japanischen Generationen, wie man sie aus realistischeren Ghibli-Animes wie Isao Takahatas Only Yesterday oder Yoshifumi Kondōs Whisper of the Heart kennt.

Das weiss insbesondere dank des wunderbaren Zusammenspiels der vier Hauptdarstellerinnen zu gefallen, deren Beziehungsdynamiken untereinander von Koreeda hervorragend ausgelotet werden: Gegen die strenge Sachi wird gerne gestichelt, während Chika von ihren älteren Schwestern oft belächelt wird und sich wohl gerade deshalb mit der nur fünf Jahre jüngeren Suzu besonders gut versteht. Vor allem in den Szenen, in denen die vier Frauen unter sich sind, schwingen Erinnerungen an Mike Leighs ausgezeichnete Figurenzeichnung in Another Year mit.

Nach dem Tod ihres Vaters nehmen Schwestern Sachi (Haruka Ayase, links), Yoshino (Masami Nagasawa) und Chika (Kaho) ihre Halbschwester Suzu (Suzu Hirose) bei sich auf.
© trigon-film
Umso enttäuschender ist es, mit ansehen zu müssen, wie der Film mit zunehmender Laufzeit allmählich ausfranst. Obwohl ihm fünf bis sechs Ausgaben des Umimachi Diary zu Grunde liegen, rechtfertigt die Geschichte die 130 Minuten nicht, die er beansprucht. Zu gleichförmig sind dafür gewisse dramatische Fäden; zu lange verweilt Koreeda bei der einen oder anderen Episode; zu sehr fehlt dem Ganzen der Fokus, den auch ein assoziatives "C'est la vie"-Narrativ zu einem gewissen Grad braucht; zu bemüht zeigt sich Koreeda, sämtliche Nebenplots explizit aufzulösen.

In Our Little Sister zeigt sich der Auteur Koreeda zweifellos nicht auf der Höhe seines Könnens. Trotz einer gefälligen Inszenierung und eines zuweilen äusserst perzeptiven Skripts sind es letztlich primär Ayase, Nagasawa, Kaho und Hirose, die dem vielleicht etwas gar unspektakulären Film seine Seele verleihen.

★★★

Montag, 28. März 2016

El abrazo de la serpiente

Was Werner Herzog in seinen wegweisenden Amazonas-Epen Aguirre, der Zorn Gottes (1972) und Fitzcarraldo (1982) aufwarf, wird im oscarnominierten El abrazo de la serpiente vom Kolumbianer Ciro Guerra eindrucksvoll vertieft und weiter entwickelt.

Waren Herzogs Reisen ins amazonische "Herz der Finsternis" – der Geist von Joseph Conrad ist auch in Guerras Film allgegenwärtig – von der europäischen Perspektive auf die unergründlichen Tiefen des Regenwaldes geprägt, verschieben Guerra und sein Co-Autor Jacques Toulemonde Vidal den Fokus auf die kolonisierten Ureinwohner des Amazonas-Gebietes.

Zwar nehmen auch hier Weisse dominante Positionen ein: Nach Klaus Kinskis Lope de Aguirre und Brian Sweeney Fitzgerald sind es hier die Ethnologen Theodor Koch-Grünberg (Jan Bijvoet) und Richard Evans Schultes (Brionne Davis), auf deren Tagebüchern der Film lose basiert, die im Angesicht der "grünen Hölle" – hier bebildert in atemberaubendem Schwarzweiss – an den Rand des Wahnsinns geraten.

Doch der Protagonist von El abrazo de la serpiente, der auf zwei miteinander verflochtenen Zeitebenen spielt, ist ein anderer. In der ersten Szene gleitet David Gallegos Kamera über die Wasser des Amazonas und findet den Schamanen Karamakate (Nilbio Torres), wie er am Flussufer kauert. Kurz darauf schiebt sich ein Kanu ins Blickfeld, gesteuert vom befreiten Kautschuk-Sklaven Manduca (Yauenkü Migue), mit dem schwer erkrankten Theo als Passagier. Der Fokus hat sich seit Aguirre geändert: Blickte das Publikum 1972 mit Kinski noch bange ins Dickicht hinein, schaut es heute mit Karamakate misstrauisch hinaus. Mit minimem Aufwand situiert Guerra seinen Film von Anfang an in einem postkolonialen Diskurs; die "Entdeckten" werden nicht mehr länger als passive Objekte ohne eigene Geschichte dargestellt, sondern werden zu differenziert charakterisierten, weder verteufelten noch romantisierten Akteuren. Unter diesen Vorzeichen ist die Absurdität der Frage "Colombiano?", die Soldaten an den staatenlosen Karamakate richten, für jeden Kinogänger offensichtlich.

So mögen Theo und auch Evan, der in den Vierzigerjahren, gut 30 Jahre nach der Expedition seines deutschen Kollegen, auf den alten Karamakate (Antonio Bolívar) trifft, zwar mit ihrer Suche nach der sagenumwobenen Heilpflanze Yakruna die Handlung vorantreiben, doch es ist ihr einheimischer Begleiter, auf dem das emotionale Interesse des Films ruht. Während Nilbio Torres' junger Schamane ein aggressiver, forscher, aber bisweilen auch durchaus besonnener Zeitgenosse ist, steht Bolívars Karamakate sinnbildlich für die vertriebenen, assimilierten, ausgebeuteten und versklavten Völker des Amazonas: Er hat vergessen, wie man Medizin und Rauschmittel herstellt; er versteht die Ritzkunstwerke seiner Vorfahren nicht mehr; er sieht sich selber als sein eigener "Chullachaki", die mythische Kreatur, die das Aussehen eines Menschen kopiert, sein Inneres aber aushöhlt.

Der Schamane Karamakate (Nilbio Torres) hilft Anfang des 20. Jahrhunderts einem schwer erkrankten deutschen Ethnologen.
© trigon-film
Beiden Karamakates liegt eine bewegende Traurigkeit zu Grunde, das Schuldgefühl, der letzte Verbliebene seines Stammes zu sein. Torres vermittelt dies durch Reaktionen, die von einem Extrem ins andere schwanken – vom Wutausbruch bis zum Lachanfall –, Bolívar durch eine mitunter nachgerade apathische Schicksalsergebenheit. Unvergesslich seine lakonische Feststellung, als er und Evan ein verfallenes Kloster finden, in dem missionierte Ureinwohner einen wahnsinnigen weissen "Messias" anbeten: "Sie haben das Schlechteste beider Welten übernommen." Der göttliche Regenwald, den Werner Herzog im Fitzcarraldo-Making-of Burden of Dreams als wunderschöne Schöpfung eines zornigen Gottes beschrieb, ist durch die Unvollkommenheit aller Menschen, die ihn betreten haben, aus dem Gleichgewicht geraten.

Guerras stilles, meditatives Drama, das sich zum Schluss einen faszinierenden Ausflug ins Abstrakte und Experimentelle erlaubt, zeigt dies in einer Subtilität, die der ganzen Komplexität von Kolonialismus, Entkolonisierung und Postkolonialismus Rechnung trägt. Wer ist im Recht, wenn Theo – aus Angst vor eben jenem Wissensverlust, den Karamakate später ereilen wird – einem Stamm seinen Kompass nicht schenken will und der Schamane ihm daraufhin vorwirft, er wolle die Ureinwohner davon abhalten, sich weiterzubilden? Eine definitive Antwort liefert der Film nicht.

El abrazo de la serpiente ist einer jener Filme, der im Moment vor allem mit seiner Kunstfertigkeit betört, im Nachhinein aber mit seinen Themen und Motiven eine ungemein starke Resonanz entwickelt. Man muss dieses Auteur-Werk wieder sehen, darüber nachdenken, sich mit seinen mannigfaltigen Schattierungen und labyrinthischen Feinheiten auseinandersetzen. Weltkino von Weltklasse.

★★★★★

Sonntag, 27. März 2016

Mustang

Noch bevor das Regiedebüt von Deniz Gamze Ergüven beim letztjährigen Filmfestival von Cannes an der Quinzaine des Réalisateurs zu sehen war, hatte die türkisch-französische Filmemacherin eine feste Vorstellung davon, was für einen Effekt der Film auf das internationale Publikum haben würde – nämlich gar keinen: "Am Dienstag zeigen wir den Film, am Mittwoch reden wir mit der Presse, am Donnerstag hat man uns vergessen."

Doch es kam anders: Mustang gewann an der Croisette den Europa Cinemas Label Award, startete erfolgreich in den französischen Kinos, machte weltweit die Festival-Runde, gewann vier Césars und wurde für den Fremdsprachen-Oscar nominiert – die märchenhafte Geschichte vom unerwarteten Arthouse-Publikumsliebling ist perfekt. Was das Ganze noch besser macht: Das zeitgemässe feministische Märchen hat sich alle Ehren redlich verdient.

Zu einer Zeit, in der in der Türkei die Medienfreiheit eingeschränkt und der Ton in den Diskussionen um die Gleichstellung der Frauen unter religiösem Einfluss wieder schärfer wird, erhält ein Film wie Ergüvens Debüt besondere Resonanz. Die Geschichte der fünf verwaisten Schwestern Lale (Güneş Şensoy), Sonay (İlayda Akdoğan), Selma (Tuğba Sunguroğlu), Nur (Doğa Doğuşlu) und Ece (Elit İşcan), die in der anatolischen Provinz von ihrem Onkel Erol (Ayberk Pekcan) und ihrer Grossmutter (Nihal Koldaş) auf frühe Zwangsheiraten vorbereitet werden, ist sowohl als Protest gegen das Patriarchat als auch als Parabel auf die schrittweise Beschneidung der individuellen Freiheiten in Erdoğans Türkei zu verstehen.

Letzteres lässt sich gerade in der Lakonie erkennen, mit der Ergüven und Co-Autorin Alice Winocour das persistente Diktatur der älteren Generation in Szene setzen: Die Teenager-Mädchen spielen mit Jungen in ihrem Alter am Meer? Erol verriegelt die Türen zum Haus und schickt seine Nichten zum Jungfräulichkeitstest. Die Fünf fahren unter Führung Lales, der Jüngsten, zu einem Fussballspiel? Die Gartenmauern werden erhöht und potenzielle Ehemänner eingeladen. Lale schleicht sich ins Freie, um sich vom Arbeiter Yasin (Burak Yiğit) das Autofahren beibringen zu lassen? Erol vergittert die Fenster. Je extremer die Bestrafung, desto rebellischer die darauf folgende Aktion – so wird äusserst subtil illustriert, welche Folgen unverhätlnismässige Machtausübung haben kann.

Die Schwestern Lale (Güneş Şensoy, rechts), Nur (Doğa Doğuşlu, 2. v. r.), Ece (Elit İşcan, Mitte), Selma (Tuğba Sunguroğlu, 2. v. l.) und Sonay (İlayda Akdoğan, links) rebellieren gegen ihren Onkel, der sie um jeden Preis verheiraten will.
© Agora Films
Hauptsächlich jedoch handelt es sich bei Mustang nicht um eine Bestandsaufnahme der türkischen Tagespolitik, sondern um ein beherztes Plädoyer gegen die – durchaus auch in Westeuropa – tief verwurzelte männliche Bevormundung von Mädchen und Frauen. Ergüven erzielt den gewünschten Effekt mit einer in der Tendenz optimistisch getönten Handlung, die sich trotz zahlreicher tragischer Einschläge niemals anmasst, ungefilterter Sozialrealismus zu sein. (Ein Vergleich mit Céline Sciammas düstererem Bande de filles ist somit eher wenig hilfreich.)

Mustang erzählt eine Geschichte, das signalisiert schon die atmosphärische, unaufdringlich verklärende Musik des Australiers Warren Ellis, der dafür zu Recht mit einem César ausgezeichnet wurde. Getragen wird diese von einem Quintett starker Protagonistinnen, von denen Güneş Şensoys energische Lale, Elit İşcans fatalistische Ece und Tuğba Sunguroğlus melancholische Selma noch heraus stechen. Sie entschädigen dafür, dass die Laufzeit des sehr kurzweiligen, überraschend rasant inszenierten Films mit 97 Minuten fast ein wenig zu knapp bemessen ist, um allen Figuren durch und durch gerecht zu werden. Und wenn die grösste Kritik, die man an einem Regiedebüt üben kann, darin besteht, dass man gerne mehr davon gesehen hätte, darf es mit Fug und Recht als vollauf gelungen eingestuft werden.

★★★★

Samstag, 26. März 2016

Stars und Sternchen


Seit ziemlich genau acht Jahren veröffentliche ich im Internet nun schon mehr oder weniger regelmässig Filmkritiken. In diese Zeit fallen neben einer kompletten Content-Migration – vom mühsamen Webs zum (meistens) benutzerfreundlichen Google-Blogger – auch diverse externe Engagements (Die Region, Die Heimat, The Zurich English Student, ZIN mag, Maximum Cinema).

Eines hat sich seit April 2008 und meiner ersten "offiziellen" Kritik (Untraceable) aber nicht verändert: das Bewertungssystem. Beeinflusst von meinen Erfahrungen auf OutNow.CH, bin ich seit jeher von einem Schema mit maximal sechs Sternen ausgegangen, Halbschritte und Nullerwertungen inklusive. Ob hier, auf ZEST oder in der Zeitung – wann immer es quantitative Bewertungen zu verteilen galt, waren sechs Sternchen zur Stelle.

Doch nun wird sich das ändern. Fortan werden unter meinen Kritiken höchstens fünf Sterne stehen, Halbsterne fallen – zumindest während der Probephase – weg, und selbst die schlechtesten Filme werden vom Verdikt "Keine Sterne" in Zukunft verschont bleiben. Um in der Sidebar für Kontinuität zu sorgen, werde ich auch alle in diesem Jahr bereits vergebenen Bewertungen ans neue System anpassen.

Und obwohl es sich hierbei nur um eine geringfügige Änderung handelt, möchte ich kurz auf meine Beweggründe eingehen.

Eine der Hauptmotivationen klingt zugegebenermassen nach einem klassischen Luxusproblem: Unter dem alten Schema hatte ich, dieser Meinung bin ich jetzt, schlicht zu viel Auswahl. Null bis sechs mit Halbabstufungen – das macht 13 mögliche Noten für Filme, mehr als man auf IMDb zur Verfügung stehen hat. Würde ich jeden einzelnen Film, der in der Schweiz ins Kino kommt, sehen und bewerten, dann wäre es wohl einfacher, diese Skala voll auszunutzen. Da ich das aber nicht tue und mir hauptsächlich Filme ansehe, die mich interessieren (immer noch viele), tendieren meine Wertungen seit einiger Zeit immer mehr zur Mitte.

Ein The Revenant, den ich ethisch nach wie vor ziemlich problematisch, ästhetisch aber äusserst beeindruckend finde, liegt nur einen halben Stern unter dem weitaus befriedigenderen Mustang, und wiederum nur einen halben über dem unterhaltsamen, aber vergleichsweise profillosen Trumbo. Auf einem Fünf-Sterne-Spektrum kann ich mit diesen feinen Unterschieden besser leben, da ich nicht aus 13 möglichen Noten auswählen muss. Darüber hinaus bin ich so auch eher gewillt, einen oder zwei – oder fünf – Sterne zu vergeben, eben weil die Anzahl Optionen beschränkt ist. Das Ziel ist, wieder die ganze Skala zu benutzen – etwas, das mir in den letzten Jahren kaum je gelungen ist.

Wer weiterhin an meinen Sechser-Wertungen interessiert ist, findet mich nach wie vor auf OutNow.

Und somit bricht FacingTheBitterTruth.com auf zu einem neuen Bewertungssystem!

★★★★★ = Hervorragend
★★★★☆ = Gut bis sehr gut
★★★☆☆ = Mittelmässig bis okay
★★☆☆☆ = Enttäuschend bis mittelmässig
★☆☆☆☆ = Schlecht

Dienstag, 22. März 2016

Grüsse aus Fukushima

© filmcoopi

★★★

"So bleibt nach diesem federleicht vorgetragenen Film ein schaler Nachgeschmack haften. Obwohl Satomi erzählerisch durchaus eine gewisse Selbstständigkeit zugestanden wird, wird sie – und mit ihr die moderne japanische Kultur, auf die stellenweise mit westlicher Verwunderung gezeigt wird – von Marie letztlich überschattet. Man wird das Gefühl nicht los, dass Grüsse aus Fukushima die falsche Protagonistin hat."

Ganze Kritik auf Maximum Cinema (online einsehbar).

Montag, 21. März 2016

Trumbo

Wie unlängst schon sein Zeitgenosse Alfred Hitchcock in Sacha Gervasis Hitchcock (2012), ist nun auch der legendäre Hollywood-Drehbuchautor Dalton Trumbo zum Thema eines Biopics geworden, das trotz eines unbestrittenen Unterhaltungswerts so unspektakulär daher kommt wie sein Titel. Mit Helen Mirren und Michael Stuhlbarg teilen sich Gervasis Film und Jay Roachs Trumbo sogar zwei Nebendarsteller.

Beide Werke bieten leicht verdaulich aufbereitete Geschichten von der dunklen Seite des klassischen Hollywood. Das eine rollt die turbulente Produktionsgeschichte von Psycho auf, das andere kartografiert Aufstieg und Fall von McCarthyismus und dem House Un-American Activities Committee (HUAC) am Beispiel des erklärten Kommunisten Trumbo, der 1947 als Teil der berühmt-berüchtigten "Hollywood Ten" ein Berufsverbot auferlegt bekam.

Schlussendlich ist es Trumbo, der insgesamt den besseren Eindruck macht, nicht zuletzt weil Kommunismus auch fast ein halbes Jahrhundert nach dem Ende von Trumbos Karriere in den USA noch ein heikles Thema ist; derweil Hitchock mit seinen Anekdoten über hyperempfindliche Zensurbehörden und die Allmacht des Studiosystems überwiegend offene Türen einrannte. Ohne Angst vor konservativen Protesten stellen Roach und Autor John McNamara den Autor von Thirty Seconds Over Tokyo, Roman Holiday, The Brave One und Spartacus nicht nur als das Opfer ungerechtfertigter staatlicher Unterdrückung dar, das er war, sondern finden in seinen sozialistischen Überzeugungen sogar etwas Heldenhaftes.

Der Fokus des Films liegt aber weniger auf der politischen als auf der Künstler- und Familien-Persona Dalton Trumbo, dessen schlagfertiger Galgenhumor von Bryan Cranston in einem eindrücklichen Balanceakt zwischen Komik und Tragik grossartig eingefangen wird. Episodisch erzählt Trumbo von den wohl wichtigsten 15 Jahren im Leben seiner Titelfigur, reich ausgestattet mit prominenten Nebenfiguren wie Hedda Hopper (Mirren), Edward G. Robinson (Stuhlbarg), Otto Preminger (Christian Berkel), Kirk Douglas (Dean O'Gorman) und John Wayne (David James Elliott).

Für den filmhistorisch versierten Zuschauer sind aber gerade diese Quasi-Cameos ein eher zweifelhaftes Vergnügen: So amüsant es auch sein mag, diese bekannten Persönlichkeiten imitiert zu sehen, so sehr fehlt es diesen Charakteren an Tiefe. John Goodman setzt als B-Movie-Produzent Frank King ein komödiantisches Glanzlicht, Michael Stuhlbarg holt Beachtliches aus seinem in den Dienst erzählerischer Bequemlichkeit gestellten Edward Robinson heraus, Mirren hat ihre Momente; während Wayne, Douglas und Preminger blosse Karikaturen bleiben, deren Auftritte zu sehr auf Stimme und Aussehen statt auf dramaturgischen Effekt fixiert sind.

Star-Drehbuchautor Dalton Trumbo (Bryan Cranston) bekommt während der Fünfzigerjahre die Gewalt der antikommunistischen Hexenjagd, in Hollywood vorangetrieben von der Klatschkolumnistin Hedda Hopper (Helen Mirren), zu spüren.
© Ascot Elite Entertainment Group
Überhaupt stellt John McNamaras Drehbuch den vielleicht grössten Schwachpunkt von Trumbo dar. Unterstützt von hübschen Kulissen, hakt die Handlung beflissen, aber weitgehend profillos die Stationen von Trumbos Leben während der Kommunistenhatz in Hollywood ab. Hinter fast jeder Dialogzeile ist die erzählerische Funktion zu hören: Exposition findet ohne Subtilität statt; die emotionalen Höhepunkte verdanken ihre Resonanz hauptsächlich den Leistungen von Cranston und Diane Lane, die als Trumbos Ehefrau Cleo, eine ehemalige Vaudeville-Darstellerin, eigene starke Akzente setzt.

Der Grund, warum Roachs Film trotz seiner Defizite über eine Dosis Kraft verfügt, liegt darin, dass viele Szenen auf wahren, audiovisuell protokollierten Begebenheiten basieren: den Verfahren gegen die Hollywood Ten – die mit Arlen Hird (Louis C. K.) zu einer ungeschickt eingeflochtenen Kompositfigur verknappt wurden –, den Interviews, die Trumbo vor, während und nach seinem Berufsverbot gab. Hier, wie auch in den Ausschnitten und Nachstellungen der Filme, für die Trumbo das Skript lieferte, profitiert das Biopic von der beträchtlichen Eloquenz des historischen Trumbo und erreicht während dessen brillant formulierten Plädoyers für freie Meinungsäusserung und gegen hurrapatriotische Willkür – darunter eine wunderbare Auseinandersetzung mit John Wayne –, auch dank Cranston, seine besten Momente. Die Kehrseite dieser "Best of Trumbo"-Strategie: McNamaras Material wirkt im direkten Vergleich noch inadäquater.

★★★

Dienstag, 15. März 2016

La loi du marché

Der neue Film des allzu oft übersehenen französischen Ausnahme-Regisseurs Stéphane Brizé erinnert an eine jener Aufgaben, die manche Menschen vielleicht noch aus dem Ethik-Unterricht kennen. Man bekommt eine kleine Geschichte vorgesetzt, deren ProtagonistIn scheinbar unfair behandelt wird. Doch es gilt, die Akteure nicht in Helden und Bösewichte einzuteilen, sondern sie als Subjekte – oder Objekte – in einem grösseren System von sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu begreifen. Die Erkenntnis: Einfühlsamkeit ist selten instinktiv.

Das mag arg theoretisch klingen, doch Brizé ist mit La loi du marché ein hervorragender Film in eben diesem Sinn und Geist gelungen. Seine Hauptfigur ist der arbeitslose Thierry Taugourdeau (ein grossartiger Vincent Lindon, zu Recht mit dem Schauspielpreis in Cannes ausgezeichnet), Anfang 50, der versucht, in der Arbeitswelt wieder Fuss zu fassen, um mit seiner Frau (Karine De Mirbeck) und seinem cerebral gelähmten Sohn (Matthieu Schaller) über die Runden zu kommen und im Eigenheim wohnen bleiben zu können.

Brizé treibt den spartanischen Stil, den er bereits in Werken wie Je ne suis pas là pour être aimé, Mademoiselle Chambon oder Quelques heures de printemps mit grossem Erfolg angewandt hat, hier in ein radikales Extrem: Szene wird nüchtern an Szene gereiht; die wenigsten davon bestehen aus mehr als drei, vier Einstellungen; die Kamera bewegt sich im beobachtenden Modus zwischen den Figuren hin und her. So entstehen intensive, unmittelbare Miniaturen, die von den starken Dialogen von Brizé und Olivier Gorce sowie von den wohl auch selber improvisierenden Darstellern, viele von ihnen Laien, getragen werden.

Es sind Szenen aus dem Alltag, wie man sie gerade aus dem italienischen Neorealismus Marke Vittorio De Sica und Umberto D. kennt: Thierry auf dem Arbeitsamt, Thierry beim Vorstellungsgespräch via Skype, die Familie Taugourdeau beim Abendessen; in der zweiten Hälfte, als Thierry, ein gelernter Maschinen-Experte, eine Anstellung als Kaufhausdetektiv findet, schaltet Brizé den Sozialrealismus noch einen Gang höher, indem er, wie Adrián Biniez in Gigante, die Bilder seiner Filmkamera durch ungefiltertes CCTV-Material ersetzt.

Der arbeitslose Thierry (Vincent Lindon, rechts) versucht mit aller Kraft, in der Arbeitswelt wieder Fuss zu fassen.
© Xenix Filmdistribution
So verschwindet auch Thierry zunehmend in der Peripherie von Einstellungen, unscharf vom Bildrand abgeschnitten. Sobald er seiner neuen Arbeit nachgeht, wird er zu einem Zahnrädchen in der Maschinerie des Kaufhauses, seinen Kollegen, vom Abteilungsleiter bis zur Kassiererin, visuell beinahe gleich gestellt.

In dieser Phase kristallisiert sich denn auch heraus, woran Brizé hier, abgesehen von einer minimalistisch-humanistischen Charakterstudie, gelegen ist. Der Titel verrät es eigentlich schon: "La loi du marché", "das Gesetz des Marktes", bezieht sich eben nicht nur auf Thierry, der in einem nordfranzösischen Supermarkt für Recht und Ordnung sorgt – es muss makroökonomisch gedacht werden. Gezeigt werden hier Szenen aus dem ganz alltäglichen Kapitalismus, von der frustrierenden, mitunter niederschmetternden Stellensuche, bei der Thierry von Beratern, Experten und Leidensgenossen das letzte Bisschen Menschlichkeit wegdiskutiert wird, bis zur Neuanstellung, wo das Unterordnen der eigenen Person und der eigenen Prinzipien zum Gebot der Stunde wird.

Beim Versuch, ein mobiles Ferienhäuschen am Meer zu verkaufen, geraten sich Thierry und die potenziellen Käufer wegen einiger hundert Euro in die Haare. Im Kaufhaus werden offenbar regelmässig Arbeiter entlassen, weil sie Rabattmarken einstecken; derweil die ertappten Ladendiebe sämtliche Segmente der Bevölkerung abdecken. Aber der Film verurteilt weder die pingelig feilschenden Hauskäufer noch den Kaufhausleiter, der seine treuen Angestellten vor die Tür setzt. Auch die Käufer haben ein Budget, an das sie sich halten müssen; derweil der Chef, das unterstreicht der Film, höheren Instanzen Rechenschaft darüber schuldig ist, was in seiner Filiale passiert. Unter dem herrschenden System werden alle Beteiligten zu austauschbaren Seriennummern.

Als Kaufhausdetektiv macht Thierry neue Erfahrungen und neue Bekanntschaften.
© Xenix Filmdistribution
Diese triste Realität durchbricht Brizé einmal mehr mit Hilfe der sporadischen "kleinen Sprünge", die er seinen Charakteren erlaubt. Der engagierte Tanzlehrer, der mit Thierry eine Schrittfolge vortanzt, sorgt für einen wunderbaren Kontrast zu den unablässig negativen Kommentaren, welche die Hauptfigur während der ersten Hälfte hinnehmen muss. Das zaghafte Einsetzen eines äusseren Soundtracks markiert zum Schluss die Rückkehr einer gewissen moralischen Autonomie, die jedoch hart erkämpft sein will.

Es sind diese Momente, die La loi du marché endgültig in eine Linie mit De Sica und Loach – und damit für den Vorwurf des Betroffenheitskinos in unerreichbare Ferne – rücken. In einer Zeit der politischen und sozialen Unsicherheit, in der es für viele Leute verlockend einfach ist, Krisen an klar definierten Feindbildern festzumachen, hat Brizé einen Film gemacht, der sein Publikum dazu auffordert, die Welt in ihrer ganzen Komplexität zu sehen. Ein Mensch wird nicht aus angeborener Verdorbenheit zum Ladendieb, ebenso wenig wie eine Entlassung das Resultat chronischer Inkompetenz sein muss. Suggestiv, subtil und menschlich – so sieht ein modernes Meisterwerk aus.

★★★★★

Samstag, 12. März 2016

Hail, Caesar!

© Universal Pictures Switzerland

★★★★

"Thanks to solid, occassionally brilliant writing and a very game cast, all these facets make for a highly entertaining movie, espcially to lovers of mid-century Hollywood, which, contrary to popular belief and in spite of the era’s undeniable classics, produced its fair share of formulaic subpar pap, which is paid homage to here. The Coens are obviously well-versed in the period’s cinematic language, as they nimbly imitate and parody the style of the time both in their own story and in their depiction of fictional Capitol productions."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).