Montag, 28. März 2016

El abrazo de la serpiente

Was Werner Herzog in seinen wegweisenden Amazonas-Epen Aguirre, der Zorn Gottes (1972) und Fitzcarraldo (1982) aufwarf, wird im oscarnominierten El abrazo de la serpiente vom Kolumbianer Ciro Guerra eindrucksvoll vertieft und weiter entwickelt.

Waren Herzogs Reisen ins amazonische "Herz der Finsternis" – der Geist von Joseph Conrad ist auch in Guerras Film allgegenwärtig – von der europäischen Perspektive auf die unergründlichen Tiefen des Regenwaldes geprägt, verschieben Guerra und sein Co-Autor Jacques Toulemonde Vidal den Fokus auf die kolonisierten Ureinwohner des Amazonas-Gebietes.

Zwar nehmen auch hier Weisse dominante Positionen ein: Nach Klaus Kinskis Lope de Aguirre und Brian Sweeney Fitzgerald sind es hier die Ethnologen Theodor Koch-Grünberg (Jan Bijvoet) und Richard Evans Schultes (Brionne Davis), auf deren Tagebüchern der Film lose basiert, die im Angesicht der "grünen Hölle" – hier bebildert in atemberaubendem Schwarzweiss – an den Rand des Wahnsinns geraten.

Doch der Protagonist von El abrazo de la serpiente, der auf zwei miteinander verflochtenen Zeitebenen spielt, ist ein anderer. In der ersten Szene gleitet David Gallegos Kamera über die Wasser des Amazonas und findet den Schamanen Karamakate (Nilbio Torres), wie er am Flussufer kauert. Kurz darauf schiebt sich ein Kanu ins Blickfeld, gesteuert vom befreiten Kautschuk-Sklaven Manduca (Yauenkü Migue), mit dem schwer erkrankten Theo als Passagier. Der Fokus hat sich seit Aguirre geändert: Blickte das Publikum 1972 mit Kinski noch bange ins Dickicht hinein, schaut es heute mit Karamakate misstrauisch hinaus. Mit minimem Aufwand situiert Guerra seinen Film von Anfang an in einem postkolonialen Diskurs; die "Entdeckten" werden nicht mehr länger als passive Objekte ohne eigene Geschichte dargestellt, sondern werden zu differenziert charakterisierten, weder verteufelten noch romantisierten Akteuren. Unter diesen Vorzeichen ist die Absurdität der Frage "Colombiano?", die Soldaten an den staatenlosen Karamakate richten, für jeden Kinogänger offensichtlich.

So mögen Theo und auch Evan, der in den Vierzigerjahren, gut 30 Jahre nach der Expedition seines deutschen Kollegen, auf den alten Karamakate (Antonio Bolívar) trifft, zwar mit ihrer Suche nach der sagenumwobenen Heilpflanze Yakruna die Handlung vorantreiben, doch es ist ihr einheimischer Begleiter, auf dem das emotionale Interesse des Films ruht. Während Nilbio Torres' junger Schamane ein aggressiver, forscher, aber bisweilen auch durchaus besonnener Zeitgenosse ist, steht Bolívars Karamakate sinnbildlich für die vertriebenen, assimilierten, ausgebeuteten und versklavten Völker des Amazonas: Er hat vergessen, wie man Medizin und Rauschmittel herstellt; er versteht die Ritzkunstwerke seiner Vorfahren nicht mehr; er sieht sich selber als sein eigener "Chullachaki", die mythische Kreatur, die das Aussehen eines Menschen kopiert, sein Inneres aber aushöhlt.

Der Schamane Karamakate (Nilbio Torres) hilft Anfang des 20. Jahrhunderts einem schwer erkrankten deutschen Ethnologen.
© trigon-film
Beiden Karamakates liegt eine bewegende Traurigkeit zu Grunde, das Schuldgefühl, der letzte Verbliebene seines Stammes zu sein. Torres vermittelt dies durch Reaktionen, die von einem Extrem ins andere schwanken – vom Wutausbruch bis zum Lachanfall –, Bolívar durch eine mitunter nachgerade apathische Schicksalsergebenheit. Unvergesslich seine lakonische Feststellung, als er und Evan ein verfallenes Kloster finden, in dem missionierte Ureinwohner einen wahnsinnigen weissen "Messias" anbeten: "Sie haben das Schlechteste beider Welten übernommen." Der göttliche Regenwald, den Werner Herzog im Fitzcarraldo-Making-of Burden of Dreams als wunderschöne Schöpfung eines zornigen Gottes beschrieb, ist durch die Unvollkommenheit aller Menschen, die ihn betreten haben, aus dem Gleichgewicht geraten.

Guerras stilles, meditatives Drama, das sich zum Schluss einen faszinierenden Ausflug ins Abstrakte und Experimentelle erlaubt, zeigt dies in einer Subtilität, die der ganzen Komplexität von Kolonialismus, Entkolonisierung und Postkolonialismus Rechnung trägt. Wer ist im Recht, wenn Theo – aus Angst vor eben jenem Wissensverlust, den Karamakate später ereilen wird – einem Stamm seinen Kompass nicht schenken will und der Schamane ihm daraufhin vorwirft, er wolle die Ureinwohner davon abhalten, sich weiterzubilden? Eine definitive Antwort liefert der Film nicht.

El abrazo de la serpiente ist einer jener Filme, der im Moment vor allem mit seiner Kunstfertigkeit betört, im Nachhinein aber mit seinen Themen und Motiven eine ungemein starke Resonanz entwickelt. Man muss dieses Auteur-Werk wieder sehen, darüber nachdenken, sich mit seinen mannigfaltigen Schattierungen und labyrinthischen Feinheiten auseinandersetzen. Weltkino von Weltklasse.

★★★★★

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