Claude Lanzmann, Regisseur des zehnstündigen filmischen Holocaust-Mahnmals
Shoah, sagte einmal, dass der Schrecken des Holocaust in einem Spielfilm nicht darstellbar sei. Eine Produktion wie Steven Spielbergs gefeierter
Schindler's List etwa sei dazu verdammt, den Punkt hoffnungslos zu verfehlen: "Wie kann Spielberg erzählen, was der Holocaust war", so Lanzmanns rhetorische Frage, "wenn er die Geschichte eines Deutschen erzählt, der 1'300 Juden gerettet hat, während die überwältigende Mehrheit der Juden nicht gerettet wurde?"
Die Shoah liegt ausserhalb der Reichweite des Erzählkinos, da ihr, der Urkatastrophe des modernen Europa, mittels Rekonstruktion nicht beizukommen ist. Daran ändert auch László Nemes'
Son of Saul nichts, obschon der ungarische Oscargewinner für den besten fremdsprachigen Film vielleicht der bislang seriöseste Spielfilmbeitrag zum Thema darstellt.
Das Drama stellt sich der letztlich unüberwindbaren Herausforderung, das Unbeschreibliche und Unvorstellbare in Bilder und Narration zu fassen. Versucht wird dies anhand des KZ-Inhaftierten Saul Ausländer (der Dichter Géza Röhrig), der in Auschwitz im "Sonderkommando" arbeitet – der speziellen Abteilung von Häftlingen, die für das Beseitigen der Toten verantwortlich sind und so die Tötungsmaschinerie der Nazis in Gang halten sollen.
Sauls Geschichte, die fast ausschliesslich mit Hilfe beengter – und beengender – Nahaufnahmen mit extrem kurzer Brennweite erzählt wird, spielt sich im Laufe von knapp eineinhalb Tagen ab: Beim Räumen einer Gaskammer entdeckt der ungarische Jude einen noch atmenden Jungen, den er als seinen unehelichen Sohn zu erkennen glaubt. Nachdem ein KZ-Arzt das Kind endgültig erstickt, setzt Saul alles daran, eine Möglichkeit zu finden, ihm ein jüdisches Begräbnis zu gewähren.
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Saul Ausländer (Géza Röhrig) gehört im Konzentrationslager von Auschwitz dem Sonderkommando an, das die Aufgabe hat, die Leichen der Ermordeten zu liquidieren.
© Agora Films |
Son of Saul hinterlässt einen starken Eindruck, das steht ausser Frage. Allein schon die Eingangssequenzen, in denen Géza Röhrigs fast ausdrucksloses Gesicht einen stillen Kontrast zur sich um ihn herum abspielenden Unmenschlichkeit setzt, dürften zum Erschreckendsten gehören, was das Zweitweltkriegs-Kino bis dato vorzuweisen hat. Ohne das Gesicht zu verziehen, ohne je mehr als zwei, drei Worte von sich zu geben, führt Saul eine frisch angekommene Zugsladung Häftlinge in eine Garderobe, hilft ihnen beim Entkleiden, sieht dabei zu, wie sie in die grosse Gemeinschaftsdusche geführt werden, und steht vor der Stahltür, hinter der sich Schreie erst in Husten, dann in Röcheln und schliesslich in gespenstische Stille verwandeln.
In einer Welt, in der es mehr als genug Holocaust-Leugner und selbst ernannte "politisch Inkorrekte" gibt, die laut über die Internierung von Flüchtlingen nachdenken, setzt
Son of Saul von Beginn an ein starkes Zeichen für Menschlichkeit – indem er schonungslos darstellt, was die Konsequenzen ihres Verschwindens sind. (Wären hier keine Assoziationen mit der Gegenwart vorgesehen, hiesse Saul wohl nicht "Ausländer".) Das ist denn auch im Folgenden László Nemes' stärkstes Motiv: das sukzessive Niederreissen der emotionalen Mauer, die Saul um sich herum errichtet hat. Eine Mauer, deren Zerstörung ihm vielleicht nicht das Überleben sichert – er ist, ganz im Sinne von Lanzmanns Holocaust-Verständnis, eben kein Schindlerjude –, ihm aber ein Stückchen der Identität wiedergibt, die ihm der Nationalsozialismus geraubt hat.
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László Nemes' Spielfilm beleuchtet auf beklemmende Art und Weise den KZ-Alltag.
© Agora Films |
Den schmalen Grat zwischen historischer Gravitas und anregender Kunstfertigkeit navigiert Nemes insgesamt äusserst souverän. Nirgendwo zeigt sich dies eindrücklicher als in der höllischen Nachtszene, in der Saul in eine gross angelegte Erschiessungs-cum-Verscharrungs-cum-Leicheinverbrennungs-Operation stolpert: Das apokalyptische Chaos verleiht dem Ganzen eine surreale Atmosphäre – "Dantes
Inferno trifft auf ein Gedicht von Paul Celan" scheint keine schlechte Umschreibung –, wirkt dank der fokussierten Inszenierung aber zu keinem Zeitpunkt künstlerisch überhöht. Das Leid der Opfer, das lässt sich sagen, wird von Nemes nicht ungehörig ästhetisiert.
Und trotzdem kommt
Son of Saul nicht um die Problematik der Darstellbarkeit herum. Mit der Entscheidung, den Grossteil des Films auf Sauls Gesicht zu konzentrieren, distanziert sich der Film zwar deutlich von den grossen Gesten eines Holocaust-Betroffenheits-Spektakels, macht sich aber dennoch abhängig von einem Kunstgriff. Das ist aber weniger der Fehler von Nemes – der sich redlich darüm bemüht, eine "neue Form", wie Lanzmann sie verlangt, zu finden – als die logische Folge, wenn man sich diesem schwierigen Thema überhaupt nähert. So gesehen, ist
Son of Saul ein mehr als nur würdiger Versuch.
★★★★