Mittwoch, 6. Dezember 2017

Kedi

Bringen wir den obligaten Witz hinter uns: Ceyda Toruns Dokumentarfilm Kedi – das türkische Wort für "Katze" – über die halbwilden Strassenkatzen Istanbuls wurde vom Streaming-Service YouTube Red koproduziert und darf somit als das vielleicht prestigeträchtigste, sicherlich aufwändigste Katzenvideo der Welt bezeichnet werden.

Mit spezieller Kameratechnik begaben sich Torun und ihre Kameramänner, Alp Korfali und Produzent Charlie Wuppermann, auf Augenhöhe mit 19 ihrer vierbeinigen Studienobjekte und verfolgten ihr Treiben in der türkischen Millionenmetropole. Sieben davon treten im fertigen Produkt prominent auf: Sari, Bengü, Duman, Aslan Parçasi, Psikopat, Gamsiz und Deniz – sieben Katzen unter Hunderttausenden, die seit Jahrhunderten zum Istanbuler Stadtbild gehören.

Manche tragen Halsbänder und gehen in Wohnungen ein und aus; andere leben am Hafen, jagen Ratten und ziehen ihre Jungen in alten Frachtkisten auf. Was sie miteinander verbindet, ist ihre Beziehung zu den Menschen: Man füttert, streichelt und umsorgt sie, aber als Eigentum will sie niemand betrachten. Katzen haben ihren eigenen Willen und schätzen ihre Unabhängigkeit – und das wird in Istanbul, so Kedi, respektiert.

Toruns Film wird die Menschen mit dem Versprechen ins Kino locken, eine 80-minütige Clipsammlung niedlicher Katzen zu sein. Dieses hält er zwar ein – zu gross ist die Zahl der herzerwärmenden Momente, um sich bei der Beschreibung auf einzelne Höhepunkte zu beschränken –, geht zugleich aber weit darüber hinaus.

Kedi ist ein berührendes, sogar unterschwellig politisches Porträt einer Stadt im Wandel. Jeder der tierischen Protagonisten bringt auch eine kleine Gruppe Einheimischer mit sich, deren Leben von Katzen geprägt ist: den Fährmann, der davon überzeugt ist, Allah sei ihm einst in Form eines Hafenkaters begegnet; den Comiczeichner, der als Kind mit seinem Bruder für geliebte Kedi Beerdigungsrituale abhielt; die Künstlerin, für welche die wilden Istanbuler Katzen feministische Vorbilder sind; den Tierfreund, der nach einer Depression im Katzenfüttern eine neue Lebensaufgabe fand.

Strassenkatzen sind fester Bestandteil des Istanbuler Stadtbildes.
© Frenetic Films
Es ist ein ruhiger, besonnener Gegenentwurf zu den rauen Tönen, die seit geraumer Zeit in der türkischen Politik angeschlagen werden – ein Aufruf zur Menschlichkeit, zur Nächstenliebe, zur Lebensfreude: "Inne zu halten, um eine Katze zu streicheln, ist eine Erinnerung daran, dass wir am Leben sind." Toruns Interviewpartner teilen die Sorge um den schrittweisen Verlust städtischer Grünflächen, auf welche die Katzen, bei aller Anpassungsfähigkeit, angewiesen sind. Sie beklagen den Siegeszug einer Ausschlusskultur, die sich zwar auf Tradition beruft, dabei aber Traditionen wie Istanbuls multikulturelle Offenheit – symbolisiert durch die allgegenwärtigen Katzen verschiedenster Rassen – ignoriert.

Doch Kedi bleibt stets mit allen vier Pfoten auf dem Boden. Was auch immer impliziert wird – letztendlich steht die Katze im Zentrum, in ihrer ganzen rätselhaften, selbstbewussten, tapsigen Grazie. Es ist ein bezaubernder Film, mit dem Ceyda Torun jedem Katzenliebhaber aus dem Herzen spricht.

★★★★★

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen