Inzwischen sind fünf Jahre vergangen, die Welt ist in vielerlei Hinsicht eine andere geworden, The Purge mittlerweile auf Netflix verfügbar. Und wer sich im Jahr 2018 auf dessen Netflix-Seite verirrt und trotz seines Rufes Play drückt, wird mit einem bizarren Filmerlebnis belohnt: einer an sich durchschnittlichen Genre-Produktion, die, nach Jahren der Reifung, weitaus intelligenter wirkt als ihr viele zugestehen wollen.
Im Zentrum von DeMonacos Film steht die Familie Sandin: Nach Jahren der Geldsorgen ist das Ehepaar James (Ethan Hawke) und Mary (Lena Headey) endlich in der Oberschicht angekommen – dank James' hervorragenden Leistungen als Verkäufer von Haus-Sicherheitssystemen, welche die Reichen und Schönen vor den plündernden und mordenden Teilnehmern der alljährlichen Gesetzeslosigkeit, genannt "The Purge", schützen sollen.
Zusammen mit ihren beiden Kindern, dem rebellischen Teenager Zoey (Adelaide Kane) und dem schüchternen Charlie (Max Burkholder), verschanzen sie sich auch in diesem Jahr wieder in ihrer Villa. Aber als ein verwundeter Obdachloser (Edwin Hodge) vor der Tür um Einlass bettelt, hat Charlie ein Einsehen und lässt ihn herein. Doch das entgeht dessen Verfolgern nicht: Bald schon ist das Sandin-Anwesen umstellt von maskierten jungen "Purgern", deren Anführer (Rhys Wakefield) droht, ins Haus einzudringen und die ganze Familie umzubringen, wenn ihnen "das obdachlose Schwein" nicht ausgeliefert wird.
Einige der Vorwürfe, die 2013 gegen The Purge erhoben wurden, haben kaum an Gültigkeit verloren – insbesondere jene, die sich gegen DeMonacos filmemacherische Qualitäten richten. Sein Film ist eine seltsame Mischung aus der Art von staatlich sanktionierter Gewalt, wie wir sie in der Hunger Games-Trilogie zu sehen bekommen, und David Finchers Einbruchsthriller Panic Room (2002). Während Amerika zwischen sieben Uhr abends und sieben Uhr morgens im blutigen Chaos versinkt, setzt DeMonaco auf klaustrophobisches Erzählen und zeigt, wie die Sandins in den eigenen vier Wänden eine Nacht lang ums nackte Überleben kämpfen.
Mary (Lena Headey) und James Sandin (Ethan Hawke) versuchen, mit ihren beiden Kindern die gesetzeslose "Purge" in ihrem befestigten Anwesen auszusitzen. © Universal Pictures Switzerland |
Zum anderen tappt DeMonaco, der auch das Drehbuch schrieb, in die Genre-Falle, seine Figuren unentwegt schreckliche Entscheidungen treffen zu lassen, damit er sie möglichst einfach in Horrorszenarien verwickeln kann. Zoey, die zum Zweck eines frustrierend kurzlebigen und letztlich bedeutungslosen Nebenplots einen Freund (gespielt vom farblosen Tony Oller) zur Seite gestellt bekommt, verbringt den Grossteil der Laufzeit damit, entrüstet aus Zimmern zu stapfen und sich vor ihren bewaffneten Eltern zu verstecken. Charlie, eingeführt als Technik-Genie, verliert seinen Scharfsinn und seine Beobachtungsgabe, sobald eine Szene nach Dramatik verlangt. Und auch bei James und Mary sucht man vergebens nach konsequenten Charakterzügen.
Als ein Obdachloser bei den Sandins Zuflucht sucht, ist ihr Haus plötzlich von bewaffneten "Purgern" umstellt. © Universal Pictures Switzerland |
Trotzdem ist das Ganze leidlich unterhaltsam und – so unglaublich es auch scheinen mag – überraschend weitsichtig. Schien die Vision einer US-Regierung, welche die gesamte Bevölkerung eine Nacht lang für vogelfrei erklärt, 2013 vielleicht noch weit hergeholt, hat sie inzwischen einen anderen Effekt.
Gesetze für zwölf Stunden auszuhebeln, um den Menschen zu erlauben, "ihr inneres Biest" zu besänftigen und ihre angestaute Wut loszuwerden – mit der Begründung, die Massnahme steigere die nationale Produktivität –, klingt verdächtig wie republikanische Politik in der Ära Trump. Immerhin vertreten inzwischen Parteivertreter auf der nationalen Bühne weissen Nationalismus. Die solidarische Grundidee des sozialen Sicherheitsnetzes wird als unfair bezeichnet. Steuererleichterungen für Superreiche und deren Firmen werden dem Volk als Triumph der Arbeiter- und Mittelklasse verkauft. Schiessereien an Schulen sollen verhindert werden, indem man Lehrerinnen und Lehrer bewaffnet.
Der Anführer der Purge-Bande (Rhys Wakefield) stellt den Sandins ein Ultimatum: Gebt uns den Obdachlosen oder wir bringen euch um. © Universal Pictures Switzerland |
So liegt denn der Clou des Films auch nicht darin, dass es die angebliche Katharsis einer jährlichen Mordorgie ist, die Arbeitslosigkeit und Kriminalität praktisch ausgerottet hat. Vielmehr ist dies die Folge finanzieller Ungleichheit: Wer reich ist, kann sich Sicherheitssysteme, Waffen und kugelsichere Westen kaufen. Wer arbeitslos ist, wird während der Purge zu Freiwild. Es ist der radikalkapitalistische US-Individualismus, bis zu seinem logischen Ende gedacht – der sich selbst regulierenden Gesellschaft.
So sehr The Purge auf der narrativen Ebene enttäuschen mag, so spannend ist es, sich über seine politische Dimension Gedanken zu machen. Seine Ideen, gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung, welche die USA – und die Welt – in den letzten fünf Jahren durchlebt haben, erheben einen bestenfalls durchschnittlichen Genrefilm zu einem spannenden und streckenweise sogar nuanciert argumentierten Zeitdokument.
★★★
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