Montag, 14. Mai 2018

Jupiter's Moon

Obwohl er seit gut 20 Jahren in der europäischen Kunstszene mitmischt, musste der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó bis 2014 warten, um von einem vergleichsweise breiten Publikum richtig wahrgenommen zu werden. In jenem Jahr brachte er White God in die Kinos, ein Aufmerksamkeit erregendes Drama über einen verstossenen und misshandelten Hund, der mit seinen Artgenossen einen Rachefeldzug durch Budapest führt.

Die symbolische Dimension dieser Affiche war unübersehbar: In Viktor Orbáns zunehmend autokratischem Ungarn – dem Land der Grenzschliessungen und der xenophoben, antisemitischen und rassistischen Parolen – schliessen sich die "unerwünschten" Elemente der Gesellschaft zusammen, um sich gegen ihre staatlich sanktionierte Zerstörung zu wehren. Doch der Film reitet nicht auf seiner Metapher herum, sondern konzentriert sich ganz auf seine Handlung, deren Wendungen den vorgefertigten Interpretationsschablonen mitunter auch zuwider laufen.

Mundruczó, der neben dem Kino auch eine Karriere als erfolgreicher Theater- und Opernregisseur pflegt, arbeitet an der Schnittstelle zwischen Allegorie und reiner Erzählung. Er interessiert sich für das Unterlaufen von Erwartungshaltungen, das Aufeinanderprallen scheinbar inkompatibler Formate. Mit Johanna (2005) drehte er ein Musical über Jeanne d'Arc; als Schauplatz diente ihm ein Krankenhaus. In Tender Son (2010) zerlegt er Mary Shelleys Frankenstein und bastelt sich aus den Einzelteilen ein Meta-Experiment über das Filmemachen – und einen Mörder. 2014 liess er in der Flämischen Oper in Gent die düstere Bartók-Oper Herzog Blaubarts Burg zu den sanften Klängen von Schuberts Winterreise aufführen.

Das alles vereint er mit einem unübersehbaren Interesse an seinem Heimatland, das innerhalb eines Jahrhunderts zahlreiche Entwicklungen durchgemacht hat – von der Monarchie zum Nazi-Vasallenstaat, vom antidiktatorischen Hoffnungsträger zum Sowjetsatelliten, vom postsowjetischen Aufbruch zur neonationalistischen Kleptokratie. In diesem Kontext wirkt sein neuer Film, das von der Kritik bestenfalls lauwarm aufgenommene Fantasydrama Jupiter's Moon, wie eine logische Fortsetzung seines Schaffens, im Guten wie im Schlechten.

Der syrische Flüchtling Aryan Dashni (Zsombor Jéger) kann fliegen.
© Outside the Box
Zu Beginn des Films wird das Publikum über den eigenwilligen Titel informiert: Um den Planeten Jupiter kreisen nach neuestem Wissensstand 67 Monde. Einer davon ist von Eis überzogen und könnte noch unbekannte Lebensformen beherbergen. Sein Name: Europa. Von Bedeutung ist dieser astronomische Exkurs deswegen, weil Jupiter's Moon von der anhaltenden Flüchtlingskrise handelt.

In seinem Zentrum steht Aryan Dashni (Zsombor Jéger), ein junger Syrer, der mit seinem Vater vor dem Bürgerkrieg flüchtet. An der serbisch-ungarischen Grenze werden die beiden getrennt und ein Polizist (György Cserhalmi) schiesst Aryan an. Doch anstatt zu sterben, beginnt er plötzlich zu fliegen. Diese Gabe führt er wenig später in einem nahe gelegenen Auffanglager dem in öffentliche Ungnade gefallenen Arzt Gábor Stern (Merab Ninidze) vor, der darin die Chance aufs grosse Geld wittert.

Wer hier ein konventionelles Drama über Ungarns Umgang mit Flüchtlingen erwartet, wird genauso enttäuscht wie jene, die sich von White God eine saubere Allegorie auf den neuen ungarischen Nationalismus versprachen. Mundruczó mag zweifellos ein gesellschaftskritischer Künstler sein, doch wenn er in Jupiter's Moon etwas beweist, dann dass er sich in erster Linie immer noch als Geschichtenerzähler versteht.

Aryan wird an der serbisch-ungarischen Grenze aufgegriffen.
© Outside the Box
Er belässt es nicht beim magischen Sozialrealismus – was widerfährt einem fliegenden Flüchtling im modernen Budapest? –, sondern spinnt eine reich ausstaffierte Erzählung über Korruption, Glauben und Terrorismus: Stern will sich in privilegiertere Kreise zurück kaufen, indem er seinen Patienten Aryan als engelsgleichen Wunderheiler verkauft, während als Flüchtlinge getarnte Terroristen Schindluder mit Aryans Pass treiben.

Und doch wird unter der Oberfläche der Handlung eine faszinierende Auseinandersetzung mit den historischen Kräften angedeutet, die sich hier entladen. "There is no escape from the injuries of history", lautet eine der Schlüssellinien im bisweilen hyperliterarischen Drehbuch von Mundruczó und Kata Wéber. Geflüstert wird sie von Stern, dem Namen nach ein Mann mit jüdischem Hintergrund, der sich schon in seiner ersten Szene, wohl nur halbwegs ironisch, zum Glauben an "die Wiederauferstehung der Nation" bekennt. Mit seiner eigennützigen Motivation, Aryan zu helfen, ist er offenkundig ein Produkt des komplizierten ideologischen Geflechts, das dieser Nation zugrunde liegt: Die Generation seiner Eltern wurde verfolgt und systematisch umgebracht, während er und seine Altersgenossen nach Jahrzehnten des Gulaschkommunismus die Privatwirtschaft übernahmen und eine exklusive nationale Identität schufen.

Dass der innere Kampf, der hier ausgetragen wird, von historischem Ausmass ist, unterstreicht Mundruczó mit Hilfe von Marcell Révs durchgehend brillanter Kameraarbeit auf subtilste Art und Weise. Immer wieder bleibt Révs Kameraauge an den Schuhen der Figuren hängen: lose oder gar nicht gebunden, herrenlos, im Wasser treibend. Zuschauerinnen und Zuschauer in ganz Europa werden darin einen sachten Verweis auf den Holocaust erkennen können, doch gerade für ein ungarisches Publikum muss die Symbolkraft dieser Bilder unverkennbar sein – besteht doch das Budapester Mahnmal an die Pogrome an den ungarischen Juden aus einer 300 Meter langen Reihe leerer Schuhpaare.

In Budapest findet Aryan im Arzt Gábor Stern (Merab Ninidze) einen zwielichtigen Freund.
© Outside the Box
Lokalisierte Bezüge wie dieser stellen die Flüchtlingsgeschichte in Jupiter's Moon in einen klug-provokativen Zusammenhang. Ironischerweise ist diese effektive Spezifität auch die Kehrseite der Medaille: Indem Mundruczó den ganz grossen Bogen von Ungarns – und Europas – turbulenter Gegenwart zu ihrer düsteren Vergangenheit schlägt, droht Aryans Seite der Handlung zur Nebensache zu werden.

Man erfährt nicht viel über seine Historie: Er kommt aus Homs, hatte eine PlayStation und mag Pommes – und damit hat es sich. Das kann natürlich Absicht sein – ein Kommentar auf die entmenschlichende Natur der Flucht. Flüchtlinge verlieren im kollektiven Bewusstsein ihre Individualität, werden zu Zahlen und Statistiken ohne Vorgeschichte und komplexes Innenleben; statt der Unschuldsvermutung gilt für sie der Generalverdacht.

Dieser präventive Ausschluss aus der Gesellschaft könnte sich sogar in Aryans zweifelhaftem Casting widerspiegeln: Gespielt wird er von Zsombor Jéger, einer ungarischen Schauspielhoffnung ohne unmittelbarem Migrationshintergrund. Will man diese kreative Entscheidung in ein wenigstens einigermassen positives Licht rücken, könnte man sie als zu Ende gedachte Flüchtlingspolitik Marke Orbán interpretieren: Ein Ungarn ohne Einwanderung ist ein kulturell armes Land. (Auch diese Lesart ist problematisch, da sie davon ausgeht, Immigranten wären nur für Flüchtlingsrollen prädestiniert. Zudem ist Stern-Darsteller Merab Ninidze Georgier.)

Stern gibt Aryan als Wunderheiler aus.
© Outside the Box
Doch bei aller Rationalisierung bleibt der erzählerische Fokus von Jupiter's Moon enttäuschend. Während es ein Aki Kaurismäki in The Other Side of Hope (2017) hervorragend verstand, sowohl dem Einheimischen als auch dem Flüchtling einen detailliert ausgearbeiteten Handlungsstrang zuzugestehen, drängt sich bei Mundruczó der Ungare in den Weg des Syrers, der in allen Belangen die einnehmendere Figur ist.

So ist es mit Experimenten nun einmal: Manche Ideen treffen ins Schwarze, andere nicht. Mundruczós neuer Film ist kompromisslos unvollkommen und übt nicht zuletzt deswegen eine nicht von der Hand zu weisende Faszination aus. Mit bewundernswertem Selbstbewusstsein lässt er Realitätsnähe, Aktualitätsbezug und einen ausgeprägten Sinn für Geschichte und Symbolik auf Fantasy-, Science-Fiction- und Thriller-Versatzstücke treffen und erzielt damit immer wieder eindrucksvolle Resultate. Konstant brillant sind hier nur die mitunter Schwindel erregenden Bilder sowie Jed Kurzels pulsierender Musikscore. Der Rest mag qualitativ schwanken, doch die Intelligenz und die Menschlichkeit dahinter stehen zu keinem Zeitpunkt in Frage.

★★★★

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