Montag, 15. April 2019
"Liebe Schweizer Verleiher..." – Teil 4
"Liebe Schweizer Verleiher..." macht auf Filme aufmerksam, die laut filmdistrubution.ch hierzulande noch keinen Verleiher gefunden haben und die es – meiner Meinung nach – verdienen würden, auf Schweizer Leinwänden gezeigt zu werden. An die Arbeit, Schweizer Verleiher!
Teil 1
Teil 2
Teil 3
The Farewell
Letzten Sommer startete der Hollywood-Publikumsliebling Crazy Rich Asians in den Deutschschweizer Kinos – zunächst allerdings nur in der deutschen Synchronfassung. Doch es sollte nicht so bleiben: Eine Woche lang wurde Warner Bros, der zuständige Verleiher, in E-Mails und Tweets von Filmfreunden darauf hingewiesen, dass die Thematik von Jon M. Chus Liebeskomödie – die ostasiatische Diaspora – auch hierzulande von Relevanz ist und man mit einem Verzicht auf die Originalversion am entsprechenden Zielpublikum vorbeiprogrammiert. Warner Bros. lenkte kurzerhand ein und bot den Schweizer Kinos eine untertitellose englischsprachige Fassung an, die sich wochenlang im Programm halten konnte.
Es wäre schön, wenn diese kleine Erfolgsgeschichte, die mit über 22'000 Eintritten für Crazy Rich Asians endete, nicht ein kurioser Einzelfall bliebe, sondern als Indiz dafür, dass Werke über Generationengräben und Identitätsfragen in der globalen ostasiatischen Gemeinschaft auch hier geneigte Zuschauerinnen und Zuschauer finden.
Die nächste grosse Chance, die diesbezügliche Bereitschaft des Schweizer Publikums auf die Probe zu stellen, ist Lulu Wangs Drama The Farewell, dessen Premiere beim diesjährigen Sundance-Filmfestival für begeisterte Kritiken und einen hitzigen Bieterkrieg um die Vertriebsrechte sorgte. (A24, der Moonlight- und Lady Bird-Verleiher, setzte sich schliesslich gegen Netflix, Amazon und Fox Searchlight durch.)
In Wangs autobiografisch inspiriertem Film ist die US-Rapperin und -Schauspielerin Nora Lum, besser bekannt als Awkwafina (Ocean's Eight, Crazy Rich Asians), in ihrer ersten dramatischen Hauptrolle zu sehen: In der Rolle der jungen Sinoamerikanerin Billi reist sie nach China, um ihre krebskranke Grossmutter zu besuchen – trotz der Einwände ihrer Eltern.
In den USA wird The Farewell erst im Juli regulär anlaufen. Entsprechend überrascht es nicht, dass der Film in der Schweiz zurzeit noch ohne Verleiher ist. Dennoch dürfte es sich lohnen, die Situation im Auge zu behalten – besonders angesichts der Tatsache, dass die Schweiz noch immer auf einen Start von Eighth Grade, dem letztjährigen Sundance-Hit, wartet.
Her Smell
Auch bei Alex Ross Perrys Her Smell, der erst letzte Woche in den USA anlief, wäre es wohl noch verfrüht, Druck auf die Schweizer Verleiher auszuüben. Doch auch hier sorgt ein Präzedenzfall für vorauseilendes Misstrauen: Im vergangenen Herbst feierte Brady Corbets Musikfilm Vox Lux in Venedig Premiere und avancierte in der Folge zu einem polarisierenden Underground-Phänomen – aber leider nicht zum Kassenschlager, weshalb er den Schweizer Leinwänden wohl fremd bleiben wird.
Es ist durchaus denkbar, dass Her Smell ein ähnliches Schicksal ereilen wird, obwohl Perrys Film über den langsamen Niedergang einer Punkrockerin (gespielt von Elisabeth Moss) von der Kritik bedeutend besser aufgenommen wurde. "Stell dir vor, Danny Boyles Steve Jobs würde von Courtney Love Mitte der Neunzigerjahre handeln", schreibt Indiewire-Kritiker David Ehrlich in seiner Rezension. Mit so einer Affiche sollte sich doch etwas anfangen lassen.
Gerade vor dem Hintergrund des wieder aufkeimenden Musik-Biopic-Markts – man denke nur an Bryan Singers (fürchterlichen) Oscargewinner Bohemian Rhapsody und die bevorstehende Elton-John-Biografie Rocketman – wäre es erfrischend, parallel dazu auch Werke zu sehen, die mit der etablierten Formel spielen, sie auf fiktive Künstler anwenden und die sprichwörtliche Oberflächlichkeit des Genres ad absurdum führen. Mit Vox Lux hat es nicht geklappt. Nun liegt die Hoffnung bei Her Smell – und den Schweizer Verleihern.
Peterloo
Auf dem Papier scheint es offensichtlich, warum für das Historiendrama Peterloo noch kein Schweizer Kinostart geplant ist. Der Film spielt im industriellen Manchester des frühen 19. Jahrhunderts, handelt von einem Ereignis, von dem ausserhalb Grossbritanniens kaum jemand gehört hat, und dauert obendrein noch geschlagene zweieinhalb Stunden.
Doch es gibt ein gewichtiges Gegenargument: Peterloo ist das neue Projekt des britischen Meisterregisseurs Mike Leigh (Vera Drake, Happy-Go-Lucky, Another Year), sein erster seit dem grandiosen Künstlerporträt Mr. Turner, das 2014 immerhin 46'000 Schweizer in die Kinos lockte. Jener Film zeichnete sich vor allem durch seine faszinierend authentische Rekonstruktion des frühviktorianischen Englands aus – und das nicht nur dank Ausstattung und Kameraarbeit, sondern auch dank Leighs Sinn für zeitgenössische Sprache. Für Peterloo kollaboriert er hinter der Kamera wieder mit den massgeblichen Künstlern von Mr. Turner: Kameramann Dick Pope, Komponist Gary Yershon, dem Ausstattungsteam um Suzie Davies, Dan Taylor und Charlotte Dirickx.
Doch während Leigh in Mr. Turner Geschichten aus dem Leben eines ausserordentlichen Malers erzählte und die soziopolitischen Umwälzungen dieser Zeit nur andeutungsweise figurierten, scheinen diese in Peterloo im Mittelpunkt zu stehen. Ohne jedes Staraufgebot zeigt Leigh das Elend, das nach den Napoleonischen Kriegen im wirtschaftlich gebeutelten Norden Englands herrschte – und wie sich das Volk am 16. August 1819 in Manchester zum Protest versammelte. Ein hochaktuelles Thema also, inszeniert vom vielleicht bedeutendsten aktiven britischen Filmemacher – das muss man im Kino erleben können.
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