Vor langer, langer Zeit – Anfang 2006 – fand irgendwo in einer Disney-Chefetage eine Strategiesitzung statt, die heute beinahe symbolträchtig wirkt: Es hätte die Weichen für die künstlerische Zukunft des Unterhaltungsmagnaten stellen sollen, doch seine Ergebnisse erwiesen sich schliesslich als kapitale Fehlkalkulationen.
Es war das Jahr, in dem Disney die Animationsschmiede Pixar aufkaufte und mit Ed Catmull und John Lasseter zwei Pioniere der Computeranimation an die Spitze der altehrwürdigen Walt Disney Animation Studios berief. Nicht nur hatten beide, als sie zu Disney kamen, bereits einmal als Pixar-CEOs gewaltet: Catmull hatte 1972 Geschichte geschrieben, als er mit der Kurzdokumentation
A Computer Animated Hand das Potenzial der noch jungen digitalen Technologien aufzeigte. 23 Jahre später schuf Lasseter seinen eigenen Meilenstein, als er mit
Toy Story den ersten komplett computeranimierten Langspielfilm überhaupt drehte.
Zum Zeitpunkt ihrer Berufung hatte Disney seit zwei Jahren keinen klassisch animierten Film mehr gemacht. Nach
Home on the Range (2004) sollte damit endgültig Schluss sein – die Zeichentrick-Crews waren schon 2003 aus der Heimat von Mickey Mouse und Donald Duck entlassen worden. Doch diesem Paradigmenwechsel wollten Catmull und Lasseter Einhalt gebieten: Zu diesem Zweck holten sie sowohl die aufgelösten Arbeitsgruppen als auch die legendären Disney-Renaissance-Regisseure Ron Clements und John Musker – die Macher von
The Little Mermaid (1989),
Aladdin (1992) und
Hercules (1997) – zurück an Bord und verkündeten eine neue Ära der Disney-Animation. Es ginge, so Lasseter, um "das Erbe des Studios".
Die Zeichentrick-Offensive entpuppte sich als Rohrkrepierer. Nicht mehr als zwei dieser Filme liess Disney noch auf
Home on the Range folgen – das Prinzessinnenmärchen
The Princess and the Frog (2009) und ein neues
Winnie the Pooh-Abenteuer (2011). Kommerziell blieben beide Produktionen hinter den Erwartungen zurück, woraufhin man zum ursprünglichen Plan zurückkehrte und fortan ausschliesslich auf die 3-D-Karte setzte. Der Erfolg von computeranimierten Filmen wie
Frozen (2013),
Big Hero 6 (2014),
Zootopia (2016) und
Moana (2016, inszeniert von Clements und Musker) hat dem Studio zumindest wirtschaftlich Recht gegeben. "Wir haben die Ergebnisse analysiert und Umfragen gemacht", sagte Lasseter vor drei Jahren in einem Interview über das gescheiterte Zeichentrick-Projekt. "Das Publikum fand es zu altbacken."
|
Simba – der neue Prinz der Savanne.
© The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH |
Es lohnt sich, im Jahr 2019 auf diese Episode in der Disney-Historie zurückzublicken. Denn dieser zaghafte Versuch zweier Giganten des 3-D-Entertainments, Kostenoptimierung, Zielgruppen-Marketing und den Erhalt des amerikanischen Big-Budget-Zeichentrickfilms unter einen Hut zu bringen, war in vielerlei Hinsicht der Prolog zu Disneys neuestem Blockbuster-Konzept: Warum neuen Zeichentrick produzieren, wenn sein einziger zählbarer Wert die damit verbundene Nostalgie ist?
Zugegeben, es ist ein geniales Stück Box-Office-Alchemie, auf das Disney hier gestossen ist. Man nehme beliebte Stoffe aus dem eigenen Kanon –
Dumbo (1941),
Cinderella (1950)
The Jungle Book (1967),
Beauty and the Beast (1991),
Aladdin,
The Lion King (1994) –, lege die Kinderfilmklassiker mithilfe berühmter Schauspieler*innen und fortgeschrittener CGI-Technologie als "Realspielfilme" neu auf und Abrakadabra: Die inzwischen erwachsenen Fans der Originale strömen nostalgisch gestimmt – und im Idealfall samt Kind und Kegel – ins Kino, um die bekannten Geschichten in neuem Gewand zu erleben.
Doch inzwischen muss man doch die fast schon naiv anmutende Frage stellen, wo in dieser perfekt geölten Unterhaltungsmaschinerie die Kunst geblieben ist. Das soll, wohlverstanden, nicht als elitärer Aufruf zur philosophischen Nabelschau verstanden werden – mit Kunst ist hier vielmehr der Wert gemeint, über den eine Neuinterpretation unabhängig von ihrer Vorlage verfügt.
|
Der ungestüme Simba (Stimme: JD McCrary) hat viel von seinem Vater Mufasa (James Earl Jones) zu lernen.
© The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH |
Unter den sogenannten "Disney-Live-Action-Remakes" war das bislang zumindest einigermassen gegeben:
The Jungle Book (2016) war mit seiner interessanten 3-D-Interpretation von anthropomorphen Tieren eine neuartige Kuriosität, die mit einer Handvoll hervorragender Sprechleistungen von Darstellern wie Idris Elba und Christopher Walken über Jon Favreaus steife Inszenierung hinwegtäuschen konnte. Tim Burtons
Dumbo (2019) erweiterte die ursprüngliche Geschichte auf unsinnige, aber zweifellos unerwartete Weise. Bill Condons
Beauty and the Beast (2017) und Guy Ritchies
Aladdin (2019), die bis dato wohl Unkreativsten ihrer Art, liessen wenigstens in gewissen Momenten eine kritische Auseinandersetzung mit dem Original erkennen.
Mit
The Lion King, Favreaus zweitem Disney-Remake, wurde der Bogen nun aber überspannt. Die Wiederauflage des vielleicht populärsten Disney-Renaissance-Titels ist zugleich eine perverse Perfektionierung der "Zeichentrick als vermarktbare Nostalgie"-Formel und eine ästhetische Bankrotterklärung.
Es beginnt bereits damit, dass zwischen der Version von 1994 und jener von 2019 nur bedingt ein Medienwechsel stattgefunden hat. Aus zweidimensionalem Zeichentrick wurde hier nicht ein mit digitalen Tricks angereicherter Realspielfilm, sondern ein fotorealistischer 3-D-Animationsfilm, der sich als "Live-Action" ausgibt: Die Löwen, die hier um die Herrschaft über die Savanne ringen, sehen – besonders in der Totale – täuschend echt aus, bestehen aber ebenso wenig aus Fleisch und Blut wie ihre gezeichneten Vorgänger. Aus Animation wurde Animation, die sich nicht als solche zu erkennen gibt.
|
Simba trifft seine neuen Freunde, Erdmännchen Timon (Billy Eichner) und Warzenschwein Pumbaa (Seth Rogen).
© The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH |
Das heisst nicht, dass dreidimensionale Animation grundsätzlich ein Problem ist, hat Disney mit Filmen wie
Bolt (2008) und
Tangled (2010) sowie seiner Kollaboration mit Pixar doch selber seinen Teil dazu beigetragen, dass sich die Computeranimation verdientermassen als essenzielle Trickfilm-Disziplin etablieren konnte.
Doch Animation kommt von "animare", dem lateinischen Wort für "Leben einhauchen". Es ist das Medium, in dem leblose Objekte lebendig werden können, in dem das Unmögliche möglich gemacht wird. Mit der Musical-Anthologie
Fantasia (1940) hat Disney, noch unter der Ägide von "Onkel" Walt Disney höchstpersönlich, einen ganzen Film über diese Magie der Animation gedreht – versinnbildlicht durch Mickey Mouse, der als Goethes Zauberlehrling einen Besen zum Leben erweckt. Wollte man die Metapher auf aktuelle Disney-Produktionen ausweiten, wäre Favreaus
Lion King wohl das, was dabei herauskommt, als Mickey die Kontrolle über sein wandelndes Haushaltsutensil verliert.
Der gezeichnete
Lion King von 1994 funktioniert visuell, weil die sichtbare Künstlichkeit seiner Animation fester Bestandteil des ästhetischen Konzepts ist. Mit viel Aufwand wurden während der Produktion Löwen und andere Tiere studiert, um sie möglichst originalgetreu – also nicht anthropomorphisiert – darzustellen, bevor sie expressiv koloriert und in eine mit Gesangseinlagen durchsetzte Handlung geworfen wurden, die sich an westafrikanischen Epen und Shakespeares
Hamlet orientierte. Die Realität savannischen Lebens war Bestandteil des Films, aber nicht dessen Dreh- und Angelpunkt – den Löwen wurde (menschliches) Leben eingehaucht.
|
Simba, seine beste Freundin Nala (Shahadi Wright Joseph) und Königsberater Zazu (John Oliver) sind das Resultat fortgeschrittenster CGI-Technik.
© The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH |
Bei Favreau hingegen soll die Animation dermassen lebensecht sein, dass sie das Publikum vergessen lässt, dass es sich bei den Löwen auf der Leinwand nicht um echte Tiere handelt. Doch weil das Remake in allen anderen Belangen eine mehr oder weniger exakte Kopie des Originals ist – einschliesslich Songs und Shakespeare'scher Intrigen –, öffnet sich zwischen Anspruch und Resultat, zwischen Ästhetik und Inhalt, ein unüberbrückbarer Graben: Diesem
Lion King wird Leben entzogen statt eingehaucht. Die einst so mitreissende Geschichte um den Löwenprinzen Simba (hier gesprochen von JD McCrary und Donald Glover), seinen Vater Mufasa (James Earl Jones, wie bereits 1994) und seinen hinterlistigen Onkel Scar (herausragend: Chiwetel Ejiofor) ist eine leb- und seelenlose CGI-Werkschau geworden.
Es ist eigentümlich faszinierend, wie langweilig ein Familienmelodram plötzlich werden kann, wenn es von Figuren vorgetragen wird, die im Namen von zoologischer Akkuratesse der Fähigkeit beraubt werden, Emotionen zu zeigen und zwei Stunden lang, ungeachtet des psychischen Befindens, das gleiche ausdruckslose Löwen-Pokerface tragen. Beim finalen Kampf zwischen Gut und Böse fällt es in der Hitze des Gefechts sogar schwer, die Kontrahenten auseinanderzuhalten.
|
Scar (Chiwetel Ejiofor) will Mufasa die Herrschaft über die Savanne abjagen.
© The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH |
Diese visuellen Voraussetzungen, zu denen auch ein frustrierend konservativer Gebrauch von Farbe gehört, verwandeln gerade die Musicalnummern in bemühte und bemühende Angelegenheiten, da fotorealistische Tiere verständlicherweise nicht in sonderlich aufwändige Choreografien verwickelt werden können, ohne dass ihnen dabei die Realitätsnähe abhandenkommt. Also wird hier vorab en passant gesungen: Scar stolziert an seinen Hyänen-Komplizen vorbei und bellt unmusikalisch ein paar Fetzen von "Be Prepared" in die Runde; Simba, Erdmännchen Timon (Billy Eichner) und Warzenschwein Pumbaa (Seth Rogen) trällern den Wohlfühlsong "Hakuna Matata" vor sich hin, während sie in einer gänzlich ereignislosen Sequenz einen Waldweg entlangschlendern. Irgendwann wird noch ein austauschbarer neuer Song von Beyoncé, die Simbas Freundin Nala ohne erkennbaren Enthusiasmus spricht, eingespielt.
So bemüht der Film auch ist, sich vor dem Original zu verneigen, so sehr bleibt zum Schluss das Gefühl, die beste Hommage wäre eine Absage – oder wenigstens eine Neukonzeption – des Remakes gewesen.
The Lion King ist der erste Eintrag in die nicht eben ruhmreiche Franchise der modernen Disney-Remakes, der nicht im Geringsten dazu fähig ist, auf eigenen Beinen zu stehen. Es gibt keinen Moment in Favreaus Film, der im Vergleich zum Original über einen Mehrwert verfügt – keine Innovation, keine Bereicherung, keine anregende alternative Interpretation, und damit keinen Grund, diese Version der gezeichneten jemals vorzuziehen.
|
"Sag mir, wo die Emotionen sind. Wo sind sie geblieben?"
© The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH |
The Lion King ist filmgewordene Nostalgie – ein gnadenloser autokannibalistischer Akt – und damit vielleicht die logische Konsequenz dessen, was Ed Catmull und John Lasseter im Zuge ihrer Zeichentrick-Offensive widerfahren ist. Sie beriefen sich auf "das Erbe von Disney", initiierten den Neubeginn der Disney-Zeichentrickkultur, wurden von den Gewinnmargen ihrer Versuche enttäuscht und kehrten zum kommerziellen Erfolg der Computeranimation, deren Geburtshelfer sie einst gewesen waren, zurück.
Und nun verwaltet der Disney-Koloss sein Erbe auf seine eigene Art: Wenn sich die alten Formen nicht mehr rentieren, lässt man die wehmütigen Erinnerungen daran eben mit CGI-Technologie gewinnbringend wiederauferstehen. Die Rechnung scheint an den Kinokassen aufzugehen – auch ohne eigenständigen künstlerischen Wert. Stimmen die Zahlen, wird es so weitergehen. Schwierig, hier nicht an den Zauberlehrling zu denken, der seinen lebenden Besen Einhalt gebieten will: "Immer neue Güsse / Bringt er schnell herein, / Ach! und hundert Flüsse / Stürzen auf mich ein."
★