Freitag, 28. Februar 2020

J'accuse

Roman Polanski, der einst gefeierte Regisseur von Filmen wie Rosemary's Baby (1968), Chinatown (1974) und The Pianist (2002), der 1977 die 13-jährige Samantha Gailey vergewaltigte, verhaftet wurde und sich vor der Urteilssprechung ins sichere Frankreich absetzte, widmet sich der Dreyfus-Affäre, einem der berühmtesten Justizirrtümer der Geschichte. Es ist ein Projekt, das in seiner kalkulierten Dreistigkeit und verschmitzten Selbstzufriedenheit auf dem Papier wie das Werk eines besonders kühnen Internettrolls wirkt.

Fast schon folgerichtig, dass Polanski im Zuge der Premiere von J'accuse, wie die Romanadaption nach Robert Harris heisst, jegliche Zweifel über seine Affinität zu diesem Stoff aus der Welt schaffte: "Ich finde Momente, die ich selber erlebt habe", gab er in einem Interview mit einem befreundeten französischen Polemiker, der die #MeToo-Bewegung mit nationalsozialistischem und stalinistischem Terror gleichsetzt, zu Protokoll. Er kenne "die Mechanismen der Verfolgung", denen der jüdische Armeeoffizielle Alfred Dreyfus im Frankreich der 1890er Jahre ausgesetzt war: "dieselbe Entschlossenheit, die Fakten zu leugnen", dieselbe Bereitschaft, ihn "für Taten zu verurteilen, die ich nicht begangen habe".

Doch die Fakten sind, nach allgemeiner Einschätzung, offenkundig: Polanski hatte Sex mit einem nicht einwilligungsfähigen 13-jährigen Mädchen – im Volksmund auch "Vergewaltigung" genannt – und entzog sich der Rechtssprechung, als klar wurde, dass der Richter seine rechtliche Übereinkunft mit der Klägerin nicht berücksichtigen würde. Und obwohl Samantha Gailey, deren Nachname inzwischen Geimer lautet, seither anderweitig entschädigt wurde und den Fall als erledigt betrachtet, ist Polanskis öffentliches Auftreten in den 42 Jahren seit seiner Flucht nicht eben ein Bild von persönlicher Reifung und vollzogener Rehabilitierung im Sinne des Gesetzes. Vor seinen Äusserungen zu J'accuse liegen Jahrzehnte der lautstarken Entrüstung über "Political Correctness", Feminismus und die Bestrebungen, ein besseres Klima für Menschen zu schaffen, die vergewaltigt wurden.

Alfred Dreyfus (Louis Garrel, links) wird unschuldig des Landesverrats bezichtigt.
© Frenetic Films
Vor diesem Hintergrund ist es schlicht nicht vertretbar, wie der Venedig-Festivaldirektor Alberto Barbera auf der strikten Trennung zwischen Kunstwerk und Künstler zu beharren. Wenn Polanski es nicht tut, warum dann sein Publikum? Überdies sind die Persönlichkeit und die Umstände des Künstlers in diesem Fall sehr wohl von Bewandtnis für das Werk: Denn trotz der grundlegenden Frivolität der Affiche hätte J'accuse durchaus Relevantes zu sagen, wäre da nicht der selbstreferenzielle Tunnelblick des Regisseurs.

Der Film setzt 1895 ein, mit der rituellen Degradierung von Alfred Dreyfus (Louis Garrel), dem zur Last gelegt wird, dem feindlichen deutschen Reich wertvolle Informationen über das französische Militär zugespielt zu haben. Vor den Toren der Kaserne rufen ihm Passanten wüste, antisemitische Beschimpfungen zu, während man sich unter den versammelten Offizieren und Generälen herzlich zur Beseitigung des "Fremdkörpers" gratuliert. Bald darauf findet sich Dreyfus in Einzelhaft auf einer kleinen Insel vor Französisch-Guyana wieder.

Georges Picquart (Jean Dujardin) kommt der Verschwörung gegen Dreyfus auf die Schliche.
© Frenetic Films
Auftritt Georges Picquart (Jean Dujardin), ein militärischer Senkrechtstarter, der zum neuen Chef des Geheimdienstes ernannt wird und in dieser Position entdeckt, dass die Beweislage gegen seinen einstigen Schüler Dreyfus ausserordentlich dünn ist. Doch seine Bemühungen, die Wahrheit trotz seiner eigenen antisemitischen Überzeugungen ans Licht zu bringen, werden von Kollegen und Vorgesetzten gleichermassen behindert.

In Polanskis Vision ist die Dreyfus-Affäre eine geradlinige Angelegenheit – ein harter, gewissenhafter Kampf des Ehrenmannes Picquart gegen die missgünstige, bigotte Armee-Elite, welche tiefgreifende institutionelle Fäulnis auf einen gesellschaftlich und politisch verträglichen Sündenbock abwälzte. Entsprechend schnörkellos – wenn man von den geradezu amateurhaft in die Handlung integrierten Rückblenden absieht – fällt die Erzählung aus: Die Jahre vergehen, und Picquart, dessen angeblich virulente Ressentiments gegen Dreyfus' Religion noch schneller unter den Teppich gekehrt werden als die rassistischen Ansichten von Viggo Mortensens Hauptfigur in Green Book (2018), durchforstet Papiere, lässt Verdächtige beschatten, fördert neue Erkenntnisse zutage und wird von den Männern an den Hebeln der Macht erst ignoriert, dann angefeindet, später selbst zum Täter erklärt.

Picquarts Nachforschungen stossen der französischen Militärelite – etwa den Generälen Billot (Vincent Grass, links) und Boisdeffre (Didier Sandre) – sauer auf.
© Frenetic Films
Das verfügt über einen gewissen Unterhaltungswert, keine Frage. Zwar stürmen Polanski und Co-Autor Robert Harris dermassen ungestüm durch die Historie, dass Subtilität und emotionale Feinheiten auf der Strecke bleiben – es gilt, die Stationen von Picquarts Untersuchung geschichtsbuchmässig abzuhaken, derweil ein lustloser Subplot über seine skandalöse Affäre mit Pauline Monnier (Emmanuelle Seigner, Polanskis Ehefrau) als Ersatz für nuancierte Figurenzeichnung hinhalten muss. Doch die Dreyfus-Affäre ist selbst in dieser blutleeren Inszenierung faszinierend genug, um die Aufmerksamkeit zwei Stunden lang zu beanspruchen, auch weil es Jean Rabasses detailgetreuem, aber unaufdringlichem Setdesign gelingt, das Paris der tiefsten Belle Epoque einnehmend lebhaft abzubilden.

Doch die eindeutige, hochgradig uninspirierte erzählerische Stossrichtung verschenkt das wahre Potenzial von J'accuse. Denn sosehr Polanski auch der Meinung ist, die anhaltende Relevanz der Dreyfus-Affäre beruhe auf der Rolle, die haltlose Anschuldigungen, Medien-Hypes, Massenhysterie und Mobjustiz darin spielten: Die evokativsten Momente seines Films suggerieren etwas anderes.

Es sind die Szenen, in denen Picquart die sturen Inhaber der Macht zur Rede stellen will – Oberstleutnant Henry (Grégory Gadebois), die Generäle Billot (Vincent Grass) und Gonse (Hervé Pierre) – und auf koordinierte Verschleierungstaktiken stösst. Es sind die Bilder der uniformierten Herren, die in den diversen Gerichtsverhandlungen gegen Dreyfus und Picquart als verschworene Einheit auftreten. Es ist der heilige Zorn, mit dem sie jeden Zweifel an der Redlichkeit ihres Tuns als Verrat an der französischen Republik verurteilen.

Die Presse und die öffentliche Meinung spielten während der Dreyfus-Affäre eine grosse Rolle.
© Frenetic Films
Mit anderen Worten: Rückblickend entlarvt die Dreyfus-Affäre die totalitären Tendenzen einer ausgeprägten Militärkultur, wie sie im Frankreich der Jahrhundertwende existierte – einer Armee, die nicht das Instrument einer diplomatisch agierenden Regierung, sondern ihr eigener Befehlshaber sein will. Das beharrliche Beschwören des konstanten Kriegszustandes kündigt die Herausbildung von modernen Militärdiktaturen an, während der populistische Schulterschluss mit den ausschliesserisch-nationalistisch gesinnten Teilen der Bevölkerung die genozidale faschistische Politik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt. Doch J'accuse ist zu beschäftigt damit, auf seiner simplen, unübersehbaren und frustrierend oberflächlichen These herumzureiten, um diese weitaus interessanteren Ansätze in irgendeiner Form zu verfolgen, sodass die groben Gesten in diese Richtung letztlich nur wie glückliche Zufälle wirken.

Hätte Polanski diesen Weg eingeschlagen, hätte er die Einsicht und die Demut gehabt, die jahrelange Tortur des Alfred Dreyfus nicht als Anlass zu einem selbstgefälligen historisierten Selbstporträt zu nehmen, sondern sich einer seriösen filmischen Auseinandersetzung mit den dornigeren gesellschaftspolitischen Aspekten der Geschichte zu widmen, hätte ihn das nicht rehabilitiert. Die Kunst entschuldigt nie die realen Übergriffe des Künstlers. Aber es hätte vielleicht eine schwierige, polarisierende, fruchtbare Debatte darüber losgetreten, wie mit einem scharfsichtigen, luziden Spätwerk eines in Ungnade gefallenen Regisseurs umzugehen ist. Insofern macht es einem J'accuse beinahe zu einfach: Es ist das fantasielose Werk eines mutwillig Uneinsichtigen, dessen künstlerischer Blick nur noch auf sich selbst gerichtet ist.

★★

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