Was passiert, wenn man den Frontier-Western seiner Grundlagen beraubt? Kelly Reichardt, die Regisseurin von
Certain Women (2016) und dem an der diesjährigen Berlinale gefeierten
First Cow (2019), hat 2010 genau das versucht und ist in
Meek's Cutoff auf faszinierende Antworten gestossen.
Wenn das amerikanische Kino davon erzählt, wie das Land "gezähmt" und der Kontinent "from sea to shining sea" geeint wurde – wenn es darum geht, "How the West Was Won" –, gelten zwei Grundregeln: Der Wilde Westen war ein Ort des Heldentums, und seine Sprache war die Gewalt. Ob klassischer oder revisionistischer Western, ob
Stagecoach (1939) oder
The Man Who Shot Liberty Valance (1962), ob
Rio Bravo (1959) oder
Unforgiven (1992), ob Glorifizierung des "Pioniergeistes" oder Eingeständnis, dass das amerikanische Projekt Millionen von Afrikanern und Ureinwohnern die Freiheit und das Leben kostete – letzten Endes kehrt das Genre, das in fast jeder seiner Ausprägungen herausragende Filme hervorgebracht hat, immer wieder zu diesen beiden Funktionen zurück.
Meek's Cutoff stellt das Modell auf den Kopf: Unter seinen Figuren, die während der 1840er Jahre durch die Wüste des pazifischen Nordwestens irren, finden sich weder Helden noch Antiheldinnen; und das Potenzial der tödlichen Gewalt ist zwar omnipräsent – immerhin ist der sogenannte "Oregon Trail" nicht zuletzt dafür berüchtigt, einige der ihn abwandernden Pioniere in den
Kannibalismus getrieben zu haben –, eskaliert aber nie zu tatsächlichem Totschlag. So höhlt Reichardts Dramatisierung eines vom Unglück verfolgten Planwagenzugs den Western aus, bis nur noch die hässliche Essenz der Frontier übrig bleibt.
Drei Ehepaare kämpfen sich unter der unsicheren Leitung des überforderten Trappers Stephen Meek (Bruce Greenwood) mit schwindenden Wasservorräten durch ein von Salzpfannen und Natronseen durchsetztes Gebiet. Die mitgebrachten Behaglichkeiten aus dem Osten – Stühe, Tische, Schränke – bleiben eine um die andere auf der Strecke; von der einen Szene auf die andere ist der Kanarienvogelkäfig leer. Während die Frauen (Michelle Williams, Shirley Henderson, Zoe Kazan) in der Bibel lesen, stricken, kochen und im Stillen mit der Führungsschwäche ihrer Ehemänner hadern, versinken diese (Paul Dano, Neal Huff, Will Patton) in frustrierter Uneinigkeit darüber, in welche Richtung es gehen soll, ob man auf den stärker befahrenen Pfad im Norden zurückkehren könnte und ob es helfen würde, Meek für seinen unzureichenden Rat zu hängen.
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Der Weg nach Westen birgt viele Gefahren.
© Oscilloscope Laboratories |
Doch der schwelende Zorn über das gegenseitige Versagen findet ein neues Ziel, als es der Gruppe gelingt, einen einsamen Cayuse-Indianer (Rod Rondeaux) einzufangen, der sie seit Tagen zu verfolgen scheint. Fortan sind es sein Leben und seine Menschlichkeit, die zur Debatte stehen. Dass er nur in seiner eigenen Sprache kommuniziert und für die weissen Siedler unentzifferbare Petroglyphen anfertigt, ist für sie nicht nur ein logistisches Problem, sondern auch ein Beleg für ihre eigene Überlegenheit. Gleichzeitig jedoch macht sich aber auch die Angst breit, dass sich hinter jedem Felsen und jedem Hügelkamm ein Heer von blutrünstigen "Wilden" versteckt halten könnte.
In
Meek's Cutoff ist die Frontier – die sagenumwobene Wurzel der modernen Vereinigten Staaten – geprägt von Rassismus, universeller Wut, hohlem männlichem Draufgängertum, kolonialer Selbstüberschätzung und besatzerischer Inkompetenz. Doch Reichardt inszeniert dieses trostlose Trauerspiel nicht als Satire oder verkappten psychologischen Horrofilm, sondern nähert sich Meeks Gefolge mit der ihr eigenen Sachlichkeit.
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Emily Tetherow (Michelle Williams) steigt allmählich zu einer Autorität im Planwagenzug auf.
© Oscilloscope Laboratories |
Sie ersetzt eine klassische Dramaturgie mit sprechenden, zeitlich unklar umrissenen Episoden, in denen Chris Blauveldts Kamera eine ruhige, neutrale Beobachterin bleibt. Bebildert wird das Ganze in erster Linie mit anonymisierenden Totalen: Die Figuren werden überragt vom Land, das sie gestohlen haben; die Gesichter der bekannten Darsteller*innen Williams, Greenwood, Dano, Henderson und Kazan sind nur selten klar erkennbar und verschwinden nachts beinahe im Dunkeln; die sich beratenden Männer sind nur aus der Ferne – aus dem Blickwinkel der auf Distanz gehaltenen Frauen – zu sehen.
In Kombination mit Jeff Graces gespenstischer Musikuntermalung verwandelt sich der voranschleichende Wagenzug so von einer Reise der Hoffnung zu einem Trek ins Verderben, zu einer Art Totentanz – Ingmar Bergman via William Wellmans
Ox-Bow Incident (1943) und Delmer Daves'
Jubal (1956). Es sind unbequeme Visionen wie diese, die Reichardt zu einer der besten amerikanischen Filmemacherinnen der Gegenwart machen.
★★★★★