Von Romanzen wie The Notebook (2004) über Sexkomödien wie Friends with Benefits (2011) bis hin zu Arthouse-Dramen wie The Roads Not Taken (2020): Demenz ist eine beliebte Filmthematik. Nicht nur bedient die Krankheit mit ihrer schrittweisen Zerstörung von Identität und Bewusstsein eine menschliche Urangst; sie ist dermassen verbreitet, dass es wohl nur wenige Menschen gibt, in denen der Gedanke an sie nicht eine starke emotionale Reaktion auslöst. Wie gemacht für ein Medium, das von grossflächiger Publikumsmanipulation lebt.
Das ist denn auch die Kehrseite der Medaille: Es bedarf nicht viel, um die Präsenz von Demenz in einem Film wie einen billigen Griff in die emotionale Trickkiste wirken zu lassen. Friends with Benefits benutzte sie als unmotiviertes tragisches Gegengewicht zur locker-flockigen Beziehungsfarce; The Iron Lady (2011) heischte damit Mitleid für die umstrittene Margaret Thatcher; Honig im Kopf (2014) verarbeitete die Verwirrung eines Demenzkranken zu einer heiteren Komödie mit sentimentalem Anstrich.
Insofern ist es Florian Zellers The Father hoch anzurechnen, dass er sich in seiner Darstellung eines dementen Rentners damit zurückhält, die Krankheit allzu rührselig oder gar geschmacklos auszuschlachten. Im Gegenteil: Zellers Adaption seines eigenen Theaterstücks steht den emotional eher kühlen Erzählexperimenten eines Christopher Nolan letztlich wohl näher als einem gewissenhaft-empathischen Alzheimer-Drama wie Sarah Polleys Away from Her (2006) oder Richard Glatzers und Wash Westmorelands Still Alice (2014).
Im Zentrum von The Father steht Anthony, gespielt von Anthony Hopkins: ein kultivierter Mann um die 80, der sich mit Händen und Füssen dagegen wehrt, wegen seiner angeblich nachlassenden mentalen Kapazitäten aus seiner Londoner Stadtwohnung ausziehen zu müssen. Aber ist es überhaupt seine Wohnung oder die seiner Tochter Anne (Olivia Colman)? Bleibt Anne nun mit Ehemann Paul (Rufus Sewell) an Ort und Stelle, oder zieht sie zu ihrem neuen Freund nach Paris? Wer sind diese anderen Menschen, welche immer wieder in die Rollen von Anne (Olivia Williams) und Paul (Mark Gatiss) zu schlüpfen scheinen? Und warum wird Anthony jeden Abend Hühnchen zum Essen vorgesetzt?
Anthony (Anthony Hopkins) ist demenzkrank und fühlt sich in den eigenen (?) vier Wänden zunehmend verloren. © Ascot Elite Entertainment Group. All Rights Reserved. |
Anders als etwa Sally Potter, deren The Roads Not Taken die scheinbare geistige Abwesenheit demenzkranker Menschen zu einer Art Seelenwanderung uminterpretierte, inszeniert Zeller das Vergessen als surreal-kafkaesken Horror. Anthony verschanzt sich – und wirkt gefangen – in den eigenen (?) vier Wänden, umgeben von Menschen, die er entweder nicht kennt oder, wenn er sie kennt, nicht versteht, weil sie ihm nichts als widersprüchliche Information einzuflössen scheinen. Manchmal kommen ihm inmitten einer Konversation die Gesprächspartner*innen abhanden; Tageswechsel sind kaum erkennbar; die neue Pflegerin (Imogen Poots), die tagsüber ein Auge auf Anthony halten soll, stellt sich mehrmals vor.
The Father ist eine clevere Visualisierung der allumfassenden, mal beängstigenden, mal aufreibenden, mal ärgerlichen Verwirrung, die mit altersbedingtem Gedächtnisverlust einhergeht – auch weil Zeller den räumlich begrenzten Schauplatz auf eine Art und Weise in Szene setzt, die eine eindeutige Orientierung praktisch verunmöglicht. Welcher Korridor in welches Zimmer mündet, wohin Figuren genau gehen, wenn sie das Blickfeld von Ben Smithards Kamera verlassen – all das bleibt, auch dank kreativer Setdesign-Spielereien, bis zum Schluss ein Rätselraten.
Anthonys Tochter Anne (Olivia Colman) ist von ihrem verwirrten Vater überfordert. © Ascot Elite Entertainment Group. All Rights Reserved. |
Allerdings stösst irgendwann auch das Mystery-Konzept im Umgang mit Demenz an seine erzählerischen Grenzen. Zwar liefert der grosse Anthony Hopkins, wie es zu erwarten war, eine herausragende, inzwischen zu Recht oscarprämierte Performance zwischen aufbäumendem Draufgängertum und kindlicher Verlorenheit ab – und schafft so in gewissen Momenten ein wirksames Gegengewicht zu Zellers ausgefeiltem Verwirrspiel. Doch allzu oft erinnert The Father an eine spannende, aber blutleere Drehbuch-Übung – ein Eindruck, der von einem an sich hochkarätigen Restcast unterstrichen wird, der weit hinter seinem Potenzial zurückbleibt. Olivia Colman bleibt enttäuschend farblos, Mark Gatiss und Olivia Williams haben kaum Zeit, ihre unheimlich distanzierten Figuren einzubringen. Einzig Rufus Sewell, der in Anthonys Augen zur Karikatur eines Bösewichts wird, schafft es vereinzelt, sich mit Hopkins ein anregendes Schauspielduell zu liefern.
Demenz bleibt also ein kniffliges Filmthema. Mit Ausnahme der letzten fünf Minuten verzichtet The Father weitgehend auf die Tränendrüsen-Sentimentalität, mit welcher der Krankheit in der Regel begegnet wird. Zellers Entschluss, die Erfahrung seiner dementen Hauptfigur als beunruhigendes, subjektives Mysterydrama zu inszenieren, schlägt aber zu weit in die andere Richtung aus: Der Trick ist bewundernswertes, ja beeindruckendes Schreibhandwerk, das emotional jedoch leider nicht zu packen vermag.
★★★
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